Ist Berlin jetzt ready for Enteignung?
Was hat den Erfolg des Volksentscheids für Vergesellschaftung von Wohnraum möglich gemacht, und wie geht es mit dem Kampf weiter?
Als die ersten Zahlen zum Volksentscheid bei der Wahlparty die Runde machen, kennt der Jubel keine Grenzen: Menschen liegen sich in den Armen, Sektkorken knallen, irgendwann steigt gelb-lila Rauch über den Berliner Union-Filmstudios auf. Über eine Million Menschen – gut 59 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen – haben am 26. September für die Enteignung und Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne gestimmt. Mit einem so deutlichen Sieg hatte auch innerhalb der Bewegung kaum jemand gerechnet, alle Prognosen hatten ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorhergesagt. Entgegen der gegnerischen Erzählung, Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE) sei ausschließlich in Szenevierteln wie Neukölln oder Kreuzberg populär, hat der Volksentscheid in fast allen Berliner Bezirken eine Mehrheit gewonnen – in West und Ost, in Innenstadt- und Außenbezirken.
Dieser Erfolg ist politisch phänomenal und ein seltener Hoffnungsschimmer angesichts des Wahlsiegs von Franziska Giffey (SPD) in Berlin und der Aussicht auf eine Ampel-Koalition im Bund. DWE ist mittlerweile eine Kampagne mit großer Strahlkraft geworden – innerhalb Deutschlands und sogar weltweit. Gleichzeit ist klar: Der gewonnene Volksentscheid ist nur ein Etappensieg. Der Kampf um die Vergesellschaftung von Wohnraum geht gerade erst richtig los.
Wie ist das gelungen?
Die Erfolgsfaktoren von DWE sind vielfältig – sie sind auch das Ergebnis einer eigenen Dynamik, die sich aus der (Selbst-)Organisierung von bis zu 2.000 Aktiven entwickelt hat. So viele Menschen einzubinden, war nur möglich, weil zur Struktur der Initiative aus Arbeitsgemeinschaften, dem Plenum und einem Koordinierungskreis zusätzlich die Kiezteams in allen Berliner Bezirken kamen.
Auch ohne die stadtpolitischen Kämpfe der letzten zehn Jahre wäre DWE nicht denkbar gewesen. Ziviler Ungehorsam gegen Zwangsräumungen, unzählige Mieter*innen-Initiativen, die sich in ihren Häusern und Siedlungen gegen Großvermieter zur Wehr gesetzt haben, und die großen Mietenwahnsinn-Demos 2018 und 2019 haben Allianzen ermöglicht und die Mieterin als politische Akteurin ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ein Ausgangspunkt für den Volksentscheid waren zum Beispiel die Kämpfe von Mieter*innen in der Otto-Suhr-Siedlung in Kreuzberg gegen die Deutsche Wohnen und die Vernetzung Mieter*innenprotest Deutsche Wohnen, die sich daraus entwickelt hat. Mit der Forderung nach Vergesellschaftung ging die Bewegung vom Abwehrkampf in die Offensive: Wir verteidigen nicht nur unsere einzelnen Häuser, sondern wir holen uns die Stadt zurück und schmeißen die Immobilienkonzerne raus.
Deutsche Wohnen & Co enteignen verbindet die Perspektive einer konkreten Verbesserung in der Mietenkrise mit dem Mittel einer radikalen Veränderung der Eigentumsverhältnisse.
Eine Stärke von DWE ist genau diese Kombination einer Großkampagne mit Elementen von Basisarbeit: Ohne den größeren Rahmen einer Kampagne, die der Bewegung eine gemeinsame Orientierung gibt, bleiben Kämpfe um einzelne Häusern häufig unterhalb der Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung, und lokale Initiativen schlafen nach der gewonnenen Auseinandersetzung schnell wieder ein. Gleichzeitig würde eine reine Öffentlichkeitskampagne wieder verpuffen, wenn sie nicht – wie in diesem Fall – auch eine gesellschaftliche Basis hätte und von den Mieter*innen mitgetragen würde.
DWE verbindet die Perspektive einer konkreten Verbesserung in der Mietenkrise mit dem Mittel einer radikalen Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Dieses radikale Ziel wird ausgerechnet unter Berufung auf das Grundgesetz und mit dem bürgerlichen Instrument eines Volksentscheids verfolgt. Das Ziel des Volksentscheids ist einerseits ausreichend konkret, um eine Mehrheit der Stadtgesellschaft bei ihren Bedürfnissen anzusprechen und zu überzeugen (»günstige Mieten in Berlin«). Gleichzeitig weist die Forderung nach Vergesellschaftung auch weit genug über den kapitalistischen Alltag hinaus, um vielen Menschen Hoffnung zu geben, dass eine andere Welt möglich ist (»keine Spekulation mit Wohnraum«). In diesem Sinne kann das, was bei DWE passiert, als eine Form »revolutionärer Realpolitik« bezeichnet werden.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die zugespitzte Situation auf dem Berliner Mietmarkt der Bewegung in die Hände gespielt hat: Berlin ist eine Mieter*innenstadt (mehr als 80 Prozent der Berliner*innen wohnen zur Miete, im Vergleich zu 55 Prozent im Bundesdurchschnitt), und die Mieten bei Neuvermietungen haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Die En-Bloc-Verkäufe öffentlicher Wohnungsbestände in der Vergangenheit haben für einen großen Einfluss finanzmarktorientierter Wohnungskonzerne gesorgt. Der Ansatz von DWE lässt sich daher nicht einfach auf andere Orte übertragen, sondern es hängt vom Stand der mietenpolitischen Kämpfe ab, was auch anderswo möglich ist.
Mit den Leuten reden
Das wichtigste Mittel, um die Mehrheit der Stadtgesellschaft für Vergesellschaftung zu gewinnen, war die massenhafte Ansprache von Mieter*innen durch Aktive der Kampagne. Die Aktiven in den Kiezteams sammelten in vier Monaten über 350.000 Unterschriften auf den Straßen, Plätzen und in den Parks. Sie kamen dabei mit den Berliner*innen über die Mietenkrise ins Gespräch und motivierten immer wieder Menschen dazu, selbst mitzumachen und sich in einem der 16 Kiezteams zu engagieren. In den Teilen Berlins, in denen die Bewegung besonders stark verankert ist, kam man während der Sammelphase an den Menschen mit den lila Westen – dem Erkennungszeichen der Bewegung – buchstäblich nicht vorbei. Das hat sich ausgezahlt: In den Wahllokalen in Nord-Neukölln, Kreuzberg oder Wedding stimmten teilweise 80 bis 90 Prozent der Menschen für den Volksentscheid.
Später im Wahlkampf klingelten die Aktiven dann an Tausenden Haustüren, um Menschen davon zu überzeugen, am 26. September mit »Ja« zu stimmen. Einen Schwerpunkt legte die Kampagne bewusst auf Außenbezirke wie Marzahn-Hellersdorf, Reinickendorf oder Süd-Neukölln, in denen DWE vorher noch wenig präsent gewesen war. Aktive aus den Innenstadtbezirken unterstützten den Wahlkampf in den Außenbezirken und fuhren über Monate mehrmals pro Woche dorthin, um in den Siedlungen von Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. Haustürgespräche zu führen.
Im Wesentlichen wurde der Kampf um die Ja-Stimmen also dadurch gewonnen, dass die Initiative ein Dreivierteljahr lang das getan hat, was die gesellschaftliche Linke sonst viel zu wenig schafft: Mit »den Leuten« reden, die – wenn auch nicht immer zu Mitstreiter*innen – so doch zumindest zu Gesprächspartner*innen wurden.
Grenzen der Kampagnenarbeit
Mit DWE haben wir aber auch die Grenzen politischer Kampagnenarbeit kennengelernt: In die Kiezteams und Arbeitsgruppen der Kampagne sind mehrheitlich Menschen gekommen, die zwar den Druck des Berliner Wohnungsmarktes spüren, die aber zugleich von der politischen Ausstrahlungskraft der Enteignungsforderung angezogen wurden. Der Aufbau lokaler Mieter*inneninitativen in einzelnen Blocks hätte eine viel kleinteiligere und an den konkreten Problemen vor Ort orientierte Organisierung erfordert – was die Ressourcen der Kampagne im Wahlkampf schlicht überstieg.
So verblieben viele Mieter*innen gegenüber der politischen Botschaft der Kampagne in passiver Zustimmung. Entgegen der Zielsetzung eines umfassenden Mieter*innen-Organizings ist es daher nicht gelungen, dass sich der Kampf in den Häusern und Siedlungen der Enteignungskandidaten verselbstständigt. Entsprechende Organizing-Versuche haben manche Kiezteams, wie zum Beispiel Neukölln, durchaus unternommen. Dabei haben sie aber die Erfahrung gemacht, dass Menschen sich viel eher für einen konkreten Kampf gegen die Luxusmodernisierung im eigenen Haus organisieren lassen als für ein abstrakteres Ziel wie die Vergesellschaftung von Wohnraum.
DWE wird daher bis heute im Kern von Menschen getragen, die auch das politische Versprechen der Kampagne zum Handeln bewegt hat. Zugleich wird jedoch deutlich, wie breit die gesellschaftliche Linke in die Gesellschaft hinein wirken kann, wenn sie ihre Kräfte bündelt: Das Mittel des Volksentscheids hat den Vorteil, dass Aktivist*innen dazu gezwungen sind, Menschen in ihrem Alltag aufzusuchen, unser politisches Angebot überzeugend zu vertreten und Bündnisse für die gemeinsame Sache zu schmieden.
Andererseits stellt Deutsche Wohnen & Co enteignen einen Organizing-Erfolg nach innen dar, wenn man die Fähigkeit zur niedrigschwelligen Einbindung in die eigenen Strukturen und den enormen Erfahrungszuwachs aller Beteiligten betrachtet. Dadurch entstand eine seltene aktivistische Energie. Ein großer Teil der Arbeit der Initiative war es, Wissen zu teilen, das nötige Handwerkszeug zu identifizieren und einander zugänglich zu machen. Innerhalb der Bewegung haben im letzten Jahr zahllose Trainings stattgefunden: zur Gesprächsführung an der Haustür und auf der Straße, zum Umgang mit Gegenargumenten, zur Gestaltung von Gruppentreffen, zur Stadtpolitik im Allgemeinen und zur Geschichte der Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft im Besonderen. DWE war und ist damit ein gigantisches Bildungs- und Selbstbildungsprogramm und ein Laboratorium der Selbstermächtigung von unten.
Die Kampagne muss nun dafür sorgen, dass der Senat den Entscheid auch umsetzt.
Innerhalb von DWE gibt es auch eine wachsende migrantische Selbstorganisierung. Ab einer bestimmten Größe der Initiative entstanden immer mehr Dinge aus sich selbst heraus, und die große Offenheit in der Kampagne ermöglichte, dass neue Ideen auch umgesetzt werden konnten. Das Entscheidende war wohl, dass trotz der großen, teilweise unübersichtlichen Strukturen das Gefühl nicht abhanden kam, an einem Strang zu ziehen.
DWE ist heterogener als viele andere Bewegungen, eine Art Sammlungsbewegung unterschiedlicher Strömungen der Linken, generationsübergreifend von jungen Linksradikalen bis zu Alt-68ern und Ex-Hausbesetzer*innen. Das hat immer wieder zu Konflikten geführt, die insbesondere rund um den Umgang mit einem Vorfall sexualisierter Gewalt eskaliert sind. Leute aus Mieter*innen-Inis spielen eine weniger zentrale Rolle, als wir uns zu Beginn vorgestellt und gewünscht haben.
Hier zeichnen sich schon zwei Dinge ab, die andere Projekte anders und besser machen sollten: Eine Kampagne braucht ein Konzept zum Umgang mit Vorfällen sexualisierter Übergriffe und Gewalt, gerade wenn sie so unterschiedliche Leute in sich vereint. Und eine Kampagne mit diesem Tempo braucht die Ruhe, trotz aller Euphorie immer wieder gemeinsame Aktionsformen und einen gemeinsamen Ausdruck mit anderen Initiativen zu suchen. In dieser Hinsicht war die bundesweite Mietendemo im September 2021 eine ambivalente Erfahrung. Der Vergesellschaftungs-Block brachte mit Fahnenmeer, Enteignungsgesängen und queerem Cheerleading die Euphorie der Bewegung auf die Straße. Es fühlte sich tatsächlich so an, wie die Cheerleader sangen: »Feels like the city´s getting ready to enteignen!« Gleichzeitig war der vielfältige Selbstmach-Charakter früherer Mietendemos an den Rand der Wahrnehmung gedrängt, und man konnte sich fragen, ob nicht die Bündnisarbeit mit anderen stadtpolitischen Gruppen zu sehr in den Hintergrund getreten war.
Was jetzt?
Nicht nur geografisch, auch thematisch wirkt DWE längst über sich selbst hinaus. In Hessen fordert ver.di zusammen mit der Linkspartei und einem lokalen Bündnis die Vergesellschaftung des einzigen privaten Uniklinikums Deutschlands in Marburg-Gießen. In der Klimabewegung wird die Frage aufgeworfen, ob die Infrastrukturen der Energieversorgung nicht vergesellschaftet werden müssen, um die Energiewende gestalten zu können. DWE hat also insgesamt dafür gesorgt, dass das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln und das Recht auf Profite mit der Daseinsvorsorge infrage gestellt werden.
Zugleich ist die Kampagne auch in Berlin noch nicht am Ende. Nach dem fulminanten Sieg beim Volksentscheid muss sie sich nun ein weiteres Mal neu erfinden. Sie muss Wege finden, wie sie den neuen Senat von Berlin unter Druck setzt, damit der den Entscheid auch umsetzt.
Zunächst wird noch die Begleitung der Koalitionsverhandlungen bestimmend sein. Die frisch mandatierten Abgeordneten fürs Berliner Abgeordnetenhaus können dabei praktischerweise konkret mit dem Abstimmungsverhalten in ihren eigenen Wahlkreisen konfrontiert und auf eine entsprechende Umsetzung festgenagelt werden. DWE hat genug Aktive, um im Zweifelsfall so gut wie alle öffentlichen Auftritte der Berliner Spitzenpolitiker*innen zu begleiten. Eine mögliche Missachtung des Volksentscheids müsste jedenfalls zum öffentlichen Skandal gemacht werden.
Es geht jetzt darum, die Vergesellschaftung angesichts der eher unwilligen Politik der Parteien weiter selbst voranzutreiben. Dazu gehören sowohl eine breitere, offene Debatte darüber, wie Mitbestimmungsstrukturen genau aussehen sollen, als auch die weitere Organisierung von Mieter*innen auf Kiezebene. Gerade hier liegt die eigentliche Stärke von DWE. Das Wissen und die Erfahrungen, die beim Unterschriftensammeln, bei Kundgebungen in den Kiezen und tausenden Haustürgesprächen erworben wurden, lassen sich für kommende Kämpfe gegen die Wohnungskonzerne nutzen – gegen Hausverkäufe, Leerstand, Luxusmodernisierungen oder die Umwandlung in Eigentum. Keimformen für die Mieter*innenräte, die in einer Anstalt öffentlichen Rechts nach der Vergesellschaftung die Wohnungen mitverwalten sollen, können schon jetzt gegründet bzw. bestehende Kiezversammlungen unterstützt und gestärkt werden. Die Botschaft an die Politik ist dann: Egal, was ihr tut (oder gerade nicht tut), mit der Vergesellschaftung unseres Wohnraums haben wir schon begonnen.