Mühsal und Plackerei wären Geschichte
Das Existenzgeld würde Menschen vom Zwang befreien, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen
Von Anne Allex
Die bundesdeutsche Erwerbslosenbewegung setzt sich für ein bedingungsloses Grundeinkommens (BGE) in Form eines Existenzgeldes ein. Seit Oktober 2012 soll dieses 1.500 Euro monatlich betragen. Inzwischen könnte der Betrag aufgrund steigender Mieten, Inflation sowie wachsender Kosten für Krankenkasse und für Rente- und Pflegeversicherung wieder angehoben werden. Eine systemische Krise erfordert eine umfassende Antwort. Diese muss die Notwendigkeit eines möglichst hohen, frei verfügbaren Einkommens ohne Reduzierung durch Sanktionen betonen. Sie präferiert das Gratisprinzip einer sozialen Infrastruktur und unterstützt Aktivitäten, die zu einer ideologischen oder realen Schwächung der Lohnarbeit, etwa durch Regelsatzerhöhungen, beitragen.
Als Erwerbslose wollen wir Selbstorganisation und Selbstbestimmung fördern. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen in Form eines Existenzgeldes wird an Diskussionen zum Prinzip des »Guten Lebens« angeknüpft. Überdies gibt es Überschneidungen zu den Debatten über Commons, solidarische Ökonomie, Ökofeminismus oder Degrowth. Der Ansatz des Existenzgeldes ist international und wendet sich gegen nationalistische Lösungen.
Grundlage zur Verwirklichung des Existenzgeldes sind reale soziale Auseinandersetzungen. Die Forderungen nach einem Existenzgeld sind Teil eines emanzipatorischen Prozesses gesellschaftlicher Umwälzung. Im Mittelpunkt stehen die Befreiung von Abhängigkeit und Unmündigkeit sowie der Kampf gegen Herrschaftsstrukturen und Verwertungsinteressen in Form von Arbeitszwang und Entfremdung in der Arbeit. Das Existenzgeld berührt nicht nur die Themen Armut und Existenzsicherung, sondern auch die der Arbeit, Ökonomie, Ökologie und Demokratie.
Das Existenzgeld ist ein emanzipatorisches, bedingungsloses Grundeinkommen. Es wurde und wird von Initiativen und Einzelpersonen aus den Bereichen Erwerbslosigkeit und Sozialhilfe gemeinsam erarbeitet und weiter entwickelt. Die wesentlichen Unterschiede zu anderen Grundeinkommensvorschlägen liegen in der Höhe, den Finanzierungsquellen und dem Emanzipationsgehalt des Existenzgeldes. Die Höhe muss ein gutes Leben für jeden/e ermöglichen, die Finanzierung über eine Umverteilung von oben nach unten organisiert werden.
Die Finanzierung des Existenzgeldes soll über ein sogenanntes Take-Half-Modell erfolgen. Dieses beinhaltet den bisherigen Teil des Steueraufkommens fur soziale Transferleistungen und die zukunftige zweckgebundene Existenzgeld-Abgabe von 50 Prozent des Nettoeinkommens (auch auf Gewinne) jeglicher Hohe für alle. Beispielsweise verdient Person A 800 Euro und gibt davon 400 Euro ab, erhält aber 1.500 Euro hinzu und hat dann 1.900 Euro. Person B verdient 5.000 Euro, gibt 2.500 ab, bekommt dafür 1.500 Euro Existenzgeld und hat dann 4.000 Euro. Das Prinzip: Wer mehr verdient, hat weniger zur Verfugung, und wer weniger verdient, mehr. Rentner erhalten eine Rente in mindestens der Höhe des Existenzgeldes. Das Existenzgeld sollen alle erhalten, die in der Bundesrepublik leben.
Als Finanzierungsquellen kommen Steuern jeglicher Art in Frage, auch die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Denkbar sind zudem Mittel, die bei Einsparungen von Subventionen frei werden, oder Gelder, die im Rüstungshaushalt gestrichen werden. Mithin ist eine Umstellung der Renten, Pensionen, Arbeitgeberleistungen und des Arbeitslosengeldes nötig. Wenn ein »Amt für soziale Sicherung« installiert ist, kann dies zu Einsparungen bei den Bürokratie- und Verwaltungskosten führen. Es müssten nur noch die Überweisungen angewiesen werden. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II, BAföG, Kindergeld, Erziehungsgeld und das Wohngeld werden in das Existenzgeld je nach Größe der Familie integriert.
Welche Versprechen verbinden sich mit der Einführung des Existenzgeldes? Das Existenzgeld würde von Mühsal und Plackerei entlasten. Es würde ebenso dem Verkaufszwang der Ware Arbeitskraft entgegenwirken. Es würde den Zustand der Befehlserwartungen aufheben ebenso wie Dressur, Zurichtung und vorauseilenden Gehorsam. Das befreit zumindest Menschen von dem Zwang, in einer ungeliebten Tätigkeit im Büro oder in einer Werkstatt arbeiten zu müssen, um den Lebensunterhalt zu verdienen.
Existenzgeld trägt zur Bildung, Gesundheit, zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur und zur Wirksamkeit der sozialen Sicherungssysteme bei. Erwerbslose und Wohnungslose kämpfen deshalb mit den unterschiedlichsten Methoden für eine Verbesserung ihres Lebens.
Welche Effekte hat ein Existenzgeld oder ein BGE? In Finnland gab es ein Experiment, über das Ergebnisse vorliegen. In dem Versuch von Anfang Januar 2017 bis Ende 2018 erhielten 2.000 zufällig ausgewählte arbeitslose Personen ein steuerfreies Grundeinkommen von 560 Euro im Monat – unabhängig von anderen Einkommen oder davon, ob sie aktiv Arbeit suchten. Die Höhe des Betrages lag somit allerdings unter der Armutsgrenze. Die begleitende wissenschaftliche Erforschung über das Experiment kam unter anderem zu folgenden Ergebnissen: Die Empfänger*innen des Grundeinkommens arbeiteten etwas mehr als jene ohne Grundeinkommen. Sie hatten ein größeres Vertrauen in ihre eigenen Beschäftigungsmöglichkeiten. Außerdem fanden die Empfänger*innen, dass der Bezug von Sozialleistungen mit weniger Bürokratie verbunden war, und waren häufiger als die Vergleichsgruppe der Meinung, dass das Grundeinkommen das Annehmen von Arbeit und die Aufnahme einer Selbstständigkeit erleichtern würde. Wie fielen wohl die Ergebnisse aus, wenn die Höhe des Grundeinkommens oberhalb der Armutsgrenze läge?