Müde aber entschlossen
Seit Wochen streiken Reinigungskräfte in Marseille – von migrantisierten Arbeiter*innen geführte Kämpfe nehmen zu
Von Anna Steenblock
Seit dem 29. März sind Kader, Hamid, Rabah, Moina, Khedija, Aicha und Fatema, sieben Angestellte eines Reinigungsunternehmens in Marseille, im Streik. Sie arbeiten schon lange in der Agence Régionale de Santé (ARS), der staatlichen Gesundheitsbehörde der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, teilweise seit über zwanzig Jahren. Von Montag bis Freitag bauen sie nun täglich ab 16 Uhr, während ihrer regulären Arbeitszeit, ihren Streikposten vor dem Gebäude auf, positionieren Streikkasse, Petition, Kekse und Kaffee und stellen ihre Banner auf. Es ist die Zeit, zu der die Angestellten der Behörde das Gebäude verlassen. Sie begrüßen die Streikenden mit Namen, fragen nach dem Stand der Dinge und rufen ihnen »Viel Erfolg!« zu.
Die Probleme begannen, als es im Januar zu einem in der Branche üblichen Wechsel des Subunternehmens kam – in der Regel geschieht dies, um Kosten zu sparen. Es überrascht kaum, dass das »auf dem Rücken« der Arbeiter*innen geschieht, wie Hamid, der chef d’équipe (Teamleiter), es formuliert. LASER, das neue Unternehmen, wollte das Personal kürzen, ohne jedoch den Stundenumfang zu erhöhen. Die Beschäftigten sollten in ihren drei Stunden Arbeitszeit nicht mehr eine Etage wie zuvor, sondern zwei Etagen reinigen. »Das reicht einfach nicht, das ist nicht möglich«, berichtet Moina, die von allen Maman genannt wird. »Es ist nicht so, dass wir nicht arbeiten wollen. Aber drei Stunden für zwei Etagen? Ganz ehrlich, das ist harte Arbeit, aber Arbeit, die die Leute nicht respektieren.«
Sie wandten sich an die Confédération nationale des travailleurs – Solidarité ouvrière (CNT-SO), einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft, die auf Gebäudereinigung und Hotellerie spezialisiert ist, und verfassten gemeinsam am 21. März einen Brief an ihren Arbeitgeber. Dieser zeigte sich jedoch nicht lösungsorientiert, sondern wollte Hamid, den Teamleiter, versetzen lassen, da er »zu eng« mit seinem Team sei. Die Angestellten ließen sich nicht einschüchtern und entschieden sich geschlossen für einen Streik, um mehr Personal, eine geringere Arbeitsbelastung, die Rücknahme der Versetzung des Teamleiters sowie die Auszahlung aller geleisteten Arbeitsstunden durchzusetzen.
LASER reagierte mit weiterer Einschüchterung und Repression: Man ließ die Streikenden per Gerichtsvollzieher zu sogenannten Verhandlungen vorladen, verhängte Disziplinarverfahren, erfand absurde Vorwürfe, wie den Diebstahl von Reinigungsmitteln, beleidigte die Streikenden und sprach einem unter ihnen, Kader, nach zwei Monaten Streik die Kündigung aus. »Das ist mafiös, verbrecherisch«, sind sich die Streikenden und Camille El Mhamdi von der CNT-SO, die als hauptamtliche Juristin viel Erfahrung mit Streiks in der Reinigung hat, einig. »Wir sind eine solide Gruppe! Wir geben nicht auf!«, betonen die Streikenden und schöpfen ihre Kraft nicht nur aus der breiten Unterstützung bei den Streikposten, sondern auch aus der gefüllten Streikkasse, die es ihnen erlaubt, den Lohnausfall zu kompensieren.
Neokoloniale Ausbeutung
Der Streik steht exemplarisch für den permanenten Kampf der Arbeiter*innen in der Reinigung gegen die neokoloniale Ausbeutung von Migrant*innen aus dem Globalen Süden, häufig aus ehemaligen französischen Kolonien, die sich durch das systematische Sozialdumping der Subunternehmen in prekären und entrechteten Situationen wiederfinden. In Frankreich häufen sich die Streiks von Reinigungskräften, die sich nicht selten über Monate hinziehen. International bekannt wurde etwa ihr erfolgreicher Arbeitskampf gegen das Hotel Ibis Batignolles. Nach 22 Monaten wurde ein Abkommen mit ihrem Arbeitgeber unterzeichnet, das ihnen höhere Gehälter, den Zuschlag einer Essensprämie, eine Reduktion des Arbeitsvolumens und weitere zentrale Errungenschaften wie die Bereitstellung von Arbeitskleidung zusicherte. Eine ihrer Protagonistinnen, Rachel Kéké Raïssa, will den Kampf »gegen die Sklaverei«, wie häufig in den Protesten zu hören ist, nun ins Parlament tragen und kandidiert bei den Wahlen im Juni für das neu gegründete mitte-links Bündnis NUPES (Nouvelle union populaire ecologique et sociale).
Auch in Marseille ist der letzte mehrmonatige Streik in der Reinigung, der ebenfalls von der CNT-SO begleitet wurde, noch nicht lange her: 2019 waren elf Reinigungskräfte des Luxushotels NH Collection in einen Streik getreten, der sechs Monate andauerte und mit heftiger polizeilicher sowie juristischer Repression bekämpft und aufgrund der Blockadehaltung des Arbeitgebers schließlich ohne erfolgreiche Einigung beendet wurde. In Erinnerung blieben jedoch die kämpferischen Bilder vom Streikposten und den zahlreichen Solidaritätsaktionen. Es ist das Wissen um diese Verbindungen mit den vielen anderen Kämpfenden, die sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren, die auch den derzeit Streikenden Kraft gibt. Hamid ist wichtig zu betonen, dass er den Kampf nicht nur für sich und sein Team führt, sondern im Namen all der Reinigungskräfte, die verachtet und ignoriert und wie »irgendeine Matrikelnummer« behandelt werden: »Es ist wichtig von all den ›kleinen Händen‹ zu sprechen, von den prekären Arbeiter*innen, wie man uns nennt, den Reinigungskräften, um endlich mehr Anerkennung zu bekommen!«
Mehr Anerkennung, mehr Geld
Mehr Anerkennung, aber auch mehr Geld. Denn das Gehalt ist mickrig für die körperlich anstrengende Arbeit. Zwischen 530 und 580 Euro verdienen die Angestellten bei drei Stunden täglicher Arbeitszeit – Überstunden nicht einkalkuliert. »Wir bekommen genauso viel wie das RSA! (1) Dabei helfen wir auch noch dem Staat!«, stellt Moina wütend fest und bezieht sich darauf, dass sie die Räumlichkeiten einer staatlichen Behörde putzen; in ihrem Fall seit 17 Jahren. Um das Gehalt aufzubessern, hat sie, wie viele andere, noch einen zweiten Putzjob, im Krankenhaus, wo sie am Vormittag ist. »Wir sind müde, wir haben überall Schmerzen. Wir gehen morgens zur Arbeit, kommen nach Hause, arbeiten dort weiter, kümmern uns um das Essen und die Kinder, am Nachmittag gehen wir wieder zur Arbeit. Und trotzdem verdienen die Männer mehr als wir.« Es empört sie, dass der gerade wiedergewählte Präsident Emmanuel Macron das Rentenalter auf 65 erhöhen will: »Mit 65 ist es vorbei, da sind wir tot! Entweder sind wir im Rollstuhl oder wir wandern direkt auf den Friedhof! Ich bin 55 und habe jetzt schon Probleme zu laufen.« Wie das Bündnis NUPES, fordert auch sie eine Rente ab 60 »oder ab 55 Jahren, zumindest für die Frauen!“« fügt sie mit aufgebrachter Stimme hinzu und richtet ihre Nachricht direkt an Macron: »Ein bisschen Respekt für die Mamans. Wir wollen noch was von der Rente haben, bevor es vorbei ist mit uns.«
»Mit 65 ist es vorbei, da sind wir tot! Entweder sind wir im Rollstuhl, oder wir wandern direkt auf den Friedhof! Ich bin 55 und habe jetzt schon Probleme zu laufen.« Rabah
Das Besondere an diesem Streik ist die unmittelbare Verantwortung staatlicher Institutionen für die schlechten Arbeitsbedingungen. Denn die Vergabe des Auftrags an das Subunternehmen LASER mit dem Ziel, Kosten zu sparen, lief über die Union des groupements d’achats public (UGAP), eine öffentlichen Einrichtung, die dem Haushaltsministerium sowie dem Bildungsministerium untergeordnet ist und zuständig für die Vergabe öffentlicher Aufträge. Die CNT-SO sieht das Problem deswegen nicht nur bei der ausführenden Firma, sondern auch beim Staat. Camille El Mhamdi berichtet, dass UGAP auf ihre Briefe und Kontaktaufnahmen nie reagiert habe, »die machen einen auf tot«. Zu Beginn des Streiks sei sie ganz schön nervös gewesen. Mit Streiks in der Reinigung im öffentlichen Sektor habe die CNT-SO kaum Erfahrungen, überwiegend fanden Streiks bisher im Hotelsektor statt. Da sei es klar, wovor die Hotels Angst haben, vor der Schädigung ihres Rufes und dem Verlust von Hotelgästen. »Aber welches Gewicht lässt sich gegen eine öffentliche Behörde auffahren?« fragte sie sich anfänglich. Schnell aber wurde deutlich, dass die Angestellten der Gesundheitsbehörde mit ihnen kooperieren und auf ihrer Seite stehen. »Wir haben Glück. Wir hätten auch auf eine Behörde treffen können, die das nicht interessiert. Dann säßen wir jetzt ganz schön in der Scheiße.« Die gewerkschaftlichen Vertretungen des Personals verschickten die Petition und den Link zur Streikkasse über die interne Emailliste und viele Angestellte spendeten, um den Streik zu unterstützen. Sie schickten außerdem Briefe an die Personalabteilung der verantwortlichen Stellen mit der Aufforderung, den Vertrag mit LASER aufzukündigen. »Sie haben sich unserem Streik zwar nicht angeschlossen, das entspricht nicht ihrer Logik«, sagt Camille El Mhamdi mit einem Schmunzeln, »aber sie tun, was sie können, damit LASER verschwindet.« Dazu zählt beispielsweise auch, täglich die Stühle und Tische für den Streikposten zur Verfügung zu stellen und rauszutragen, weil den Streikenden in der Zwischenzeit verboten wurde, das Gebäude zu betreten.
Es verwundert kaum, dass es sich hierbei nicht um einen Einzelfall handelt. Camille El Mhamdi berichtet, wie zwei Frauen, aufmerksam geworden durch den Streik, in ihre Beratung kamen, die als Reinigungskräfte in der Zollbehörde in Marseille arbeiten. Bei ihnen sei genau das Gleiche passiert: Es gab einen Wechsel des Subunternehmens, LASER übernahm und kürzte als erste Maßnahme das Personal von 24 auf 14 Mitarbeiter*innen. Auch hier war die staatliche UGAP für die Vergabe des Auftrags verantwortlich. Sie riet ihnen, sich mit ihren Kolleg*innen zusammenzutun: »Wenn du deinen Mund alleine aufmachst, wirst du direkt rausgeschmissen«, vermutet sie nach den bisherigen Erfahrungen mit LASER. Es könnten also weitere, ähnliche Fälle in öffentlichen Einrichtungen auf sie zukommen. Die Forderung nach einer Integration der Reinigungskräfte in die Behörde und damit die Übernahme als staatliche Angestellte, um das System der Ausbeutung über Subunternehmen zu unterbinden, haben sie noch nicht aufgestellt. Camille El Mhamdi befürchtet, dann Monate um Monate im Streik ausharren zu müssen. Ganz abgeneigt ist sie aber nicht: »Ja, vielleicht könnte das eine unserer Forderungen werden!«
Aktuell haben die Streikenden die Hoffnung, dass der Vertrag mit LASER bald aufgelöst sein wird und sie unter einer neuen Firma ihre Arbeit wieder aufnehmen können, »so wie vorher«. Für Hamid wird sich trotzdem Einiges geändert haben. Er will den Kampf auch danach weiterführen, sich für Gesetze starkmachen, die die ausbeuterischen Praktiken der Subunternehmen einschränken, und als Beispiel für andere Kolleg*innen dienen. Während er mit dem Mikro in der Hand bei einer der Versammlungen, zu denen die Gruppe regelmäßig einlädt, über diese Perspektive spricht und sich bei allen mehrfach für die Unterstützung bedankt, kommen ihm unerwartet die Tränen. Er entschuldigt sich und fügt schnell hinzu: »Das sind keine Tränen der Trauer, das sind Tränen der Freude und des Kampfes. Und sie sind ein Protestschrei gegen diese Leute da, die uns immer wieder demütigen und die uns dazu bringen zu kämpfen, deren Praktiken wir denunzieren müssen!«
Anmerkung:
1) RSA steht für Revenue de solidarité active und ist das Äquivalent zum deutschen ALGII mit dem Unterschied, dass die Miete nicht inbegriffen ist. Seit dem 01.04.2022 beträgt die Summe 575,52 Euro.