Sozialkonservative mit Deutschlandtunnelblick
Gegen Inflation und Wirtschaftskrieg? Darüber, wie linker Protest gegen die Teuerung aussehen soll, wird noch gestritten – die Zeit für Klärung wird knapp
Von Jan Ole Arps
Montag, 12. September. In Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt nehmen die Montagsdemos Fahrt auf. Mehrere Tausend Menschen sind in Bautzen, Aschersleben, Saalfeld und anderen Orten auf der Straße. Ihre Themen reichen von »Frieden schaffen ohne Waffen« über Öffnung der Gaspipeline Nord Stream 2 bis zur Kritik der Corona-Politik und Einwanderungsstopp. Das sind nicht die Sozialproteste, auf die Linke gehofft hatten. Aber auch die gab es schon. Eine Woche zuvor in Leipzig und Berlin, dienstags in Frankfurt (Oder), am 11. September in Erfurt.
Während der Forderungskatalog der Rechten steht, sind die linken Sozialbündnisse zerrissen. Kritik an der Gasumlage, Forderungen nach Übergewinnsteuer und Energiepreisdeckel für arme Haushalte sind unstrittig. Das 9-Euro-Ticket möchten auch alle wiederhaben, manche fordern die Vergesellschaftung der Energiekonzerne. Aber auch Rufe nach einem Ende des »Wirtschaftskrieges gegen Russland« und Öffnung der Nord-Stream-2-Pipeline sind zu hören. So beim Protest vor der Grünen-Zentrale am 5. September in Berlin.
Im Bundestag spricht Sahra Wagenknecht wenige Tage später zum Thema. Sie geißelt die Regierung dafür, »einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen«. Applaus von der AfD, Entsetzen bei der Linkspartei-Mehrheit. Aber was ist genau das Problem an dieser Erzählung? Abgesehen davon, dass sie Putins Angriffskrieg verharmlost: Haben Wagenknecht und Co. Unrecht? Führt der Westen einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, ja oder nein?
Das Problem ist weniger, dass Wagenknecht und Co. von Wirtschaftskrieg sprechen. Das Problem ist, dass sie Klasseninteressen in nationale Interessen verwandeln.
Die richtige Antwort ist: ja. Die Sanktionen, mit denen die russische Wirtschaft seit Kriegsbeginn belegt wurden, übertreffen alles, was bisher an Sanktionen gegen einen Staat zum Einsatz kam. Das erklärte Ziel ist es, Russlands Wirtschaft nachhaltig zu schwächen und kriegsunfähig zu machen. Anders, als Wagenknecht oder Sevim Dağdelen behaupten, treffen die Sanktionen die russische Wirtschaft hart: durch den Ausschluss vom internationalen Zahlungsverkehr, durch den Rückzug westlicher Unternehmen, durch das Fehlen essenzieller Vorprodukte für die Industrie.
Das Problem ist weniger, dass Wagenknecht und Co. von Wirtschaftskrieg sprechen. Das Problem ist, dass sie strikt national argumentieren. Für sie gibt es nur Deutsche. Deutsche Unternehmen, denen die hohen Energiepreise zu schaffen machen, und deutsche Lohnabhängige, die deshalb frieren müssen. Beide bilden eine Interessengemeinschaft, in der eine florierende Wirtschaft die Voraussetzung für mehr Umverteilung von oben nach unten ist. So verwandeln sie Klasseninteressen in nationale Interessen.
Internationalistische Ziele kennt diese sozialkonservative Linke nicht. Für sie sind Einflusssphären kapitalistischer Staaten wertvoll, nicht die Menschen, die darin leben. Dass Putins Überfall auf die Ukraine für das Leid von Millionen Menschen, einschließlich der russischen Soldaten, verantwortlich ist, dass ukrainische wie russische Linke eine Niederlage Moskaus herbeisehnen, all das perlt an den Sozialkonservativen mit ihrem Deutschlandtunnelblick ab.
Während Europa den heißesten je gemessenen Sommer erlebt und Überschwemmungen in Pakistan 30 Millionen Menschen in Not stürzen, fordern sie: »Gashahn aufdrehen!« Aufdrehen? Um noch eine 50-Prozent-Chance zu haben, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen und unumkehrbare Klimakipppunkte vielleicht zu verhindern, müssten sich die weltweiten Emissionen bis 2030 halbieren. Natürlich ist das eine Klassenfrage, denn unter den Folgen der Erderhitzung werden arme Menschen am meisten leiden. Im Weltbild der Sozialkonservativen kommt das nicht vor. Sie möchten selbst die schädlichsten Industrien am Laufen halten, denn die sorgen für Arbeitsplätze, Löhne und Steuereinnahmen – in Deutschland.
Die sozialkonservative Linke sagt, dass alles bleiben soll, wie es ist, und setzt an der berechtigen Angst an, dass Veränderungen auf Kosten der Lohnabhängigen gehen. Eine progressive Linke müsste den Klassenkampf von oben genau an diesem Punkt attackieren. Nicht der Wegfall von russischem Gas ist das Problem, sondern sein Ersatz durch Gas aus den USA, Aserbaidschan und Katar – und die Abwälzung der Kosten auf die Lohnabhängigen. Linke müssen die Regierung dafür kritisieren, dass sie 100 Milliarden in die Bundeswehr pumpt statt in den sofortigen Ausstieg aus fossilen Energien, dass sie das Geld für den radikalen Umbau der Energieversorgung nicht von den Reichen und Unternehmen holt, die für die Emissionen hauptverantwortlich sind. Und sie muss sich beeilen, eine Antwort zu finden auf die Frage, wie sich all das vereinen lässt: massiver Protest gegen Verarmung, Kampf gegen den Klimakollaps und internationale Solidarität. Gelingt das nicht, werden nationalistische Parolen im Herbst den Ton angeben.