Mehr als legitim
Bei den Corona-Protesten in Italien sind Rechte und Verschwörungsgläubige eher eine Randerscheinung
Von Jens Renner
Den Anfang machte Neapel. Kaum hatte die italienische Regierung am 23. Oktober ein neues Corona-Dekret erlassen, da ging es hoch her auf den Straßen der süditalienischen Metropole. Auf eine Protestkundgebung vor dem Sitz des Unternehmerverbandes Confindustria am Nachmittag folgten in der Nacht Tumulte beim Palast der Region Campania. Flaschen wurden geworfen, Mülleimer brannten. »Dahinter steckt die Mafia!«, raunten zweifelhafte Expert*innen. Die parteilose Innenministerin Luciana Lamorgese sprach von »vorbereiteten Angriffen«, ohne Namen zu nennen. Einige Tage später, bei einer weiteren Protestaktion vor dem Palast der Region, tauchte dann auch noch der pensionierte Carabinieri-General Antonio Pappalardo auf. Er ist der Guru der Gilet arancioni (Orangewesten) – einer Mischung aus Verschwörungsgläubigen und extremen Rechten.
Dass diese und andere Pandemie-Leugner*innen bei den aktuellen Protesten nur eine Randerscheinung darstellen, wurde nicht nur in Neapel deutlich. Denn seit Ende Oktober gingen in vielen italienischen Städten Menschen auf die Straße, um ihre berechtigten Forderungen zu stellen. Die knappste Botschaft an den Staat lautet: »Tu ci chiudi, tu ci paghi!« – wenn du uns einsperrst, musst du für uns zahlen: ein Grundeinkommen für alle (reddito universale), finanziert durch die Besteuerung der großen Vermögen und der Profite der Krisengewinner.
Zu den Forderungen, die sich bei den meisten Demonstrationen durchgesetzt haben, gehören auch ein Stopp von Kündigungen und Zwangsräumungen sowie Maßnahmen zur menschenwürdigen Unterbringung von Obdachlosen. Konsens ist darüber hinaus, dass es kein Zurück zur prekären »Normalität« vor der Pandemie geben darf. So gelte es, die fatalen Privatisierungen im Gesundheitswesen zurückzunehmen und dort, wie auch im öffentlichen Nahverkehr und an den Schulen, neue unbefristete Arbeitsverhältnisse zu schaffen. In den Appellen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie sie von Premier Giuseppe Conte oder Staatspräsident Sergio Mattarella zu hören sind, kommen derlei konkrete Festlegungen nicht vor. Vielmehr orientiert sich die Mitte-Links-Regierung vor allem an den Interessen des Kapitals, wie sie stellvertretend der Unternehmerverband Confindustria vorträgt. Auch bei wieder stark gestiegener Infektionsgefahr geht es den Lobbyisten des Kapitals vor allem um das reibungslose Funktionieren der Betriebe. Diese Linie verfolgen sie seit Beginn der Krise, skrupellos und penetrant – und leider ziemlich erfolgreich.
Dass die Regierung Conte »Geisel« der Confindustria sei, wie der Basisgewerkschafter Guido Lutrario von der Unione Sindacale di Base (USB) sagt, ist eher eine Beschönigung. Denn es gibt Mittel, um Millionen Menschen vor der erpresserischen Alternative »Arbeit oder Gesundheit« zu schützen: ein garantiertes Einkommen und wirkungsvolle Kontrolle der Hygienemaßnahmen am Arbeitsplatz. Entgegen der im März zwischen Gewerkschaften und Kapitalverbänden geschlossenen Vereinbarung, nur die Herstellung lebenswichtiger Dinge am Laufen zu halten, ging selbst die Rüstungsproduktion weiter wie bisher.
Linke Erklärungsversuche
Auch dagegen richten sich die Proteste. An vielen Orten sind Schüler*innen beteiligt, darunter – so in Mestre (bei Venedig) – Aktivist*innen von Fridays for Future, die neben dem Grundeinkommen auch kostenlosen Zugang zu Verkehrsmitteln, Gesundheitsversorgung und Bildung forderten. In Florenz, wo es Ende Oktober nach einer Zählung der linken Tageszeitung Il Manifesto 20 Demonstrationen an sechs Tagen gab, zeigte sich die soziale und politische Vielfalt der Proteste: Menschen jedes Alters waren beteiligt, Einzelhändler*innen und junge Prekäre, Ultras und Anarchist*innen – aber auch Rechte, die sich im Stil von Pegida mit der Presse anlegten.
Die Unübersichtlichkeit der Proteste erschweren auch überzeugende linke Erklärungsversuche. Der zu Recht geschätzte Bewegungsveteran, Historiker und politische Publizist Marco Revelli schreibt über die Ereignisse am 26. Oktober in Turin: »So etwas hat man noch nie gesehen in einer Stadt wie Turin, die in ihrer langen Geschichte als Fabrik-Stadt einige Revolten erlebt hat«.
Zwischen 1917, als es gegen Hunger und Krieg ging, und dem »Heißen Herbst« 1969 habe es bei den militanten Massenaktionen in der piemontesischen Hauptstadt immer eine klare Frontstellung der Ausgebeuteten gegen die »Signori« , die Herrschenden, und eindeutige Ziele gegeben. Bei den aktuellen Protesten in Turin, und nicht nur dort, sieht Revelli dagegen eine fragile Aktionseinheit von steuerhinterziehenden Mittelständler*innen, die sich vor sozialem Abstieg fürchten, und abgehängten Jugendlichen aus den Vorstädten. Letztere, die sich beim Plündern der Turiner Edelboutiquen mit Markenklamotten eindeckten, hätten mit dem gefürchteten Schwarzen Block nicht mehr gemein als die Farbe der Kapuzenshirts. Sie seien genauso vom »Virus eines auf Konkurrenz und Konsum gerichteten Individualismus« befallen wie ihre bürgerlichen Bündnispartner*innen vom »nicht physisch gewalttätigen Flügel« der Proteste. Diesen wiederum sieht Revelli als leichte Beute der verschiedenen rechten und »rechtspopulistischen« Kräfte.
Wut und Militanz
Dass die Rechten ihre Chance wittern, kommt nicht überraschend. Gianfranco Pagliardo, der neue Präsident der Partisanenvereinigung ANPI, berichtet von neofaschistischen Gruppen, die an der römischen Peripherie die Verteilung von Lebensmittelpaketen an Migrant*innen zu verhindern versuchten. Rechte Aufmärsche in den Städten wären vom Staat leicht zu unterbinden – offensichtlich kommen sie denen gelegen, die die Proteste als »extremistisch unterwandert« denunzieren. Bei aller antifaschistischen Wachsamkeit hält Pagliardo ausdrücklich fest: »In einer dramatischen Situation wie dieser, ist der Protest der am schlimmsten Betroffenen mehr als legitim.«
Für kontroverse Debatten sorgte ein Riot am 30. Oktober in Florenz, bei dem es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam – mit den erwartbaren Reaktionen der bürgerlichen Medien. So zitiert der die Tageszeitung Corriere Fiorentino, lokaler Ableger der auflagenstärksten und konservativen Zeitung Corriere della Sera, ausführlich Bürgermeister Dario Nardella vom Partito Democratico. Nardello äußerte zwar Verständnis für die verbreitete Wut über die sozialen Folgen der Krise, vor allem aber warnte er vor anonymen Drahtziehern: »Da gibt es jemanden, der die Wut zu instrumentalisieren versucht.«
Die Lüge des Corriere Fiorentino, sie hätten sich vom Riot distanziert, beantworteten Aktivist*innen des selbstverwalteten Sozialzentrums Centro Popolare Autogestito (CPA) Florenz Süd mit einer Klarstellung: »Sehr jung waren die Gesichter derjenigen, die sich über Stunden mit der Polizei anlegten, die wegen ihrer Geselligkeit für die neue Infektionswelle verantwortlich gemacht und kriminalisiert werden … Sündenböcke eines Staates, der kein Geld in Gesundheit, Verkehr, Kultur und Sport investiert, sondern nur in die Repressionskräfte, die jeden Veränderungsimpuls zum Schweigen bringen sollen«. Ausdrücklich solidarisiert sich das CPA mit den am 30. Oktober Festgenommenen: »Distanzierung verstärkt immer nur die Repression.«
Die dürfte in naher Zukunft noch zunehmen. Denn die Regierung agiert angesichts von täglich fast 40.000 Neu-Infektionen in der ersten Novemberwoche vorrangig mit Verboten. Sie teilt das Land in Risikogebiete (rot, orange und grün), lässt Schulen und Restaurants schließen und schränkt die Bewegungsfreiheit ein – überwiegend notwendige Maßnahmen, die allerdings die Armen besonders hart treffen. Statt diesen ein dauerhaftes Einkommen zu sichern, hat die Regierung unzählige befristete Einzelfallhilfen beschlossen. Bei deren Auszahlung kommt es obendrein oft zu monatelangen Verzögerungen. Das empört auch diejenigen, die sich bislang auf friedlichen Protest beschränken und dabei die Hygienevorschriften einhalten. Wenn Orchestermusiker im Frack und Clowns mit roter Pappnase auf die Straße gehen, weil sie nicht auftreten dürfen, können sie sich wohlwollender Berichterstattung sicher sein. Das dürfte sich ändern, sobald auch sie zu härteren Mitteln greifen. Bisher deutet wenig darauf hin, dass den staatlichen Institutionen dann mehr einfällt als verschärfte Repression.