Ein Angriff auf alle Arbeiter*innen
Wenn es bei VW Massenentlassungen gibt, haben nicht nur die Konzern-Beschäftigten ein Problem, erklärt Lars Hirsekorn im Interview
Interview: Lene Kempe
Anfang September kam der Paukenschlag: Das VW-Management kündigte den für 120.000 Beschäftigte und an sechs Standorten geltenden Haustarifvertrag auf – und damit auch die seit 30 Jahren gültige Beschäftigungsgarantie. Bald darauf wurde öffentlich, dass man auch über die Schließung von drei Standorten sowie über Massenentlassungen nachdenke. In die zweite Tarifverhandlungsrunde ging das Management mit einer sogenannten Giftliste, die unter anderem eine pauschale Lohnkürzung um zehn Prozent, eine Nullrunde für die aktuellen Tarifverhandlungen sowie die Streichung von bestimmten Zulagen und Prämien vorsieht. Erst dann könne man über andere Modelle der Beschäftigungssicherung und den Erhalt von Standorten nachdenken. Lars Hirsekorn, Mitglied des VW-Betriebsrats in Braunschweig, erklärt im Interview, warum er die Krisenerzählung des Managements für genauso falsch hält, wie die Idee, mehr Elektro-Autos zu bauen. Und warum Linke in ihren Forderungen mutiger werden müssen.
Wie ist aktuell die Stimmung bei euch im Werk?
Lars Hirsekorn: Sehr unterschiedlich. Es gibt einige Kolleg*innen, die die Krisentheorie, die der Konzern verbreitet, glauben und Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Und es gibt viele Kolleg*innen, die unglaublich sauer sind und die sich zwei Fragen stellen: Was heißt hier Krise? Die 4,5 Milliarden Euro, die der Konzern noch im Juni an die Aktionär*innen ausgeschüttet hat, kommen ja nicht auf den Prüfstand. Gleichzeitig wird die harte Arbeit der Kolleg*innen runtergeredet. Der Stern hat einen Artikel gebracht, in dem es hieß, wir seien vollgefressene Maden im Speck. Das hat zu großer Wut bei vielen Kolleg*innen geführt. Klar, die Löhne sind verhältnismäßig gut in der deutschen Automobilindustrie, aber das liegt auch an den oftmals harten Arbeitsbedingungen.
Die zweite Frage ist: Was sind die Beschäftigungssicherungstarifverträge wert, wenn die so einfach gekündigt werden können? Wir haben diese Vereinbarung damals teuer erkauft, mit weniger Pausen und einem 20-prozentigen Lohnverzicht. Jetzt wird dieser Vertrag vom Management gekündigt, genau in dem Moment, wo er scheinbar gebraucht wird. Die Leute, die diese Verträge von Seiten der IG Metall ausgehandelt haben, haben damals geglaubt, eine Kündigung der Verträge wäre für VW zu teuer. Diese führt nämlich jetzt dazu, dass der Tarifvertrag von 1995 wieder wirksam wird, der zwar längere Arbeitszeiten aber bei vollem Lohnausgleich, zusätzliche Pausen und höhere Feiertagszuschläge vorsieht. Aber VW sagt sich: Okay, das wird uns eine Milliarde extra kosten, aber wenn wir mit Kündigungen und Werksschließungen drohen, können wir 3,5 Milliarden zusätzlich aus der Belegschaft herauspressen. Ich glaube, wir wären als Gewerkschaft gut beraten, die Milliardenzahlungen an die Aktionär*innen stärker zu thematisieren und zu sagen, das tragen wir nicht mit.
Lars Hirsekorn
arbeitet seit 1994 bei Volkswagen in Braunschweig, zuletzt in der Kolbenstangenfertigung als Anlagenführer. Seit Mai 2022 ist er freigestellter Betriebsrat.
Der Auslöser für den aktuellen Krisen-Alarmismus ist erstmal ein Gewinnrückgang bei VW, was aber nicht bedeutet, dass kein Geld mehr da wäre. Dieses Jahr hat der Konzern schon knapp 13 Milliarden Plus erwirtschaftet. Trotzdem sollen fünf Milliarden bei den Beschäftigen einspart werden. Wie passt das zusammen?
In der Gewerkschaft gibt es durchaus Leute, die sagen, der Konzern braucht diese Gewinne, um den Umbau zur E-Mobilität zu finanzieren. Viele wären auch schon sehr zufrieden, wenn wir den aktuellen Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie auch bei VW bekämen, etliche halten den aber für zu gering. Ich würde Ersteren zumindest entgegenhalten: Wenn der Umbau der Industrie auf Kosten der Belegschaft finanziert wird, darf es auch keine Dividendenausschüttungen geben – auch wenn das aktienrechtlich ein bisschen komplizierter ist. All die Jahre sind Milliarden ausgeschüttet worden, vor allem an die Halter*innen der Stammaktien, Porsche, das Land Niedersachen und an Katar. Das Geld ist da. Wenn wir von einer Krise bei Volkswagen reden, müssen wir in erster Linie über die internen Strukturen reden. Es gibt hier ein ganz starkes Kostenstellen-Denken: Wenn zum Beispiel eine Anlage gebaut werden soll, dann wird das Budget bei der Beauftragung so weit zusammengestrichen, dass sie von Beginn an nicht voll funktionstüchtig ist. Da kannst du so lange an Personalkosten sparen, wie du willst, das wird an den eigentlichen Problemen nichts ändern.
Die Erkenntnis, dass sich die Automobilindustrie wandeln muss, hin zu Elektromobilität, ist ja nicht neu. Gibt es da nicht auch Wut unter den Beschäftigten, dass die Unternehmensleitung diesen Prozess verschlafen hat?
»Verschlafen« würde ich nicht sagen. Der ehemalige VW-Chef Martin Winterkorn hat damals ganz klar gesagt, er kriegt den Diesel so sauber, dass er keine Elektroautos bauen muss. Das war seine Fantasie. Heraus kam der Dieselbetrug. Die haben die Welt angelogen, die haben nicht verschlafen. Trotzdem gibt es in Teilen der Belegschaft auch jetzt den Reflex zu sagen: Wenn sich Elektroautos nicht so gut verkaufen wie gedacht, dann bauen wir halt den Verbrenner weiter. Das kann ich so nicht unterstützen.
Die Manager schieben sich gegenseitig Verträge zu, die dazu führen, dass sie auch bei größtem Fehlverhalten weiterhin Millionen kriegen.
Also keine Wut?
Doch, viele Kolleg*innen sind sauer auf die Vorstände. Herbert Diess zum Beispiel, auch ein ehemaliger Vorstandsvorsitzender, wollte mit dem »Trinity« das E-Auto der Zukunft bauen und ist ebenfalls gescheitert. Trotzdem bekam er, genau wie andere ehemalige Vorstände, nach seinem Ausscheiden noch Millionen. (Allein Diess und Winterkorn erhielten im Rahmen von Gehaltsfortzahlungen, Boni und/oder Rentenansprüchen je circa 30 Millionen Euro von VW, Anm. ak). Die Manager schieben sich gegenseitig Verträge zu, die dazu führen, dass sie auch bei größtem Fehlverhalten weiterhin Millionen kriegen, wenn sie aus dem Konzern ausscheiden. Da wäre eigentlich der Aufsichtsrat gefragt, das zu verhindern.
Nach der Finanzkrise, als die Exportzahlen einbrachen, ebenso wie 2020 während der Corona-Pandemie, hat die IG Metall auf eine Entgelterhöhung verzichtet. Jetzt ist die Gewerkschaft immerhin mit einer Forderung nach sieben Prozent in die Tarifverhandlungen bei VW gegangen. Hat sich da etwas in der Haltung verändert?
Teils teils. Die meisten Firmen, die hier ihre Werke schließen, haben ja gar kein Problem mit den Profiten, Firmen wie ZF zum Beispiel oder Mahle. Die Produktion wird nicht eingestellt, sondern ins Ausland verlagert. Gar nicht unbedingt in Niedriglohnländer, es geht eher um gewerkschaftsarme Räume. Ich schätze es so ein, dass die Entwicklung bei VW nicht einfach ein Angriff auf die Belegschaften ist, sondern ein Angriff des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie, Anm. ak) und anderer Kapitalverbände auf die Arbeiter*innenklasse in Deutschland insgesamt. Der BDI äußert das relativ deutlich, dass es um eine Schwächung der gesamten Arbeiter*innenschaft geht. Da bin ich auch mit großen Teilen der Gewerkschaft, mit denen ich mich sonst streite, relativ einer Meinung. Welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, ist nochmal eine andere Frage.
In Ländern wie Großbritannien oder Finnland konnte man in den vergangenen Jahren beobachten, wie aggressiv rechte Regierungen gegen Gewerkschaften vorgehen. Vor dem Hintergrund, dass wir auch hier einen Durchmarsch rechter Kräfte erleben: Wie schätzt du die gesellschaftlichen Auswirkungen der Entwicklung bei VW ein?
Gesamtgesellschaftlich ist das eine Katastrophe. Wir gehören zu den gewerkschaftlich gut organisierten Unternehmen, und wenn sowas bei Volkswagen gelingt, dann sind Gewerkschaften insgesamt in die Enge getrieben. Und ich denke, genau das ist das Ziel. Gleichzeitig ist es leider so, dass auch in der Belegschaft nicht alle verstehen, was die AfD macht, was für Positionen die vertreten.
Man muss sich die Zeit nehmen zu vermitteln, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, nicht in einer Welt der Sozialpartnerschaft.
Spielt die AfD bei VW in Braunschweig eine größere Rolle?
Es gibt eine Reihe Stadträte, die bei Volkswagen arbeiten, aber die spielen in der Betriebsöffentlichkeit im Moment keine Rolle. Trotzdem gibt es aus der Belegschaft immer mal wieder die Frage: Warum macht die IG Metall so viel gegen die AfD? Ich will hier nur über Löhne reden, nicht über Politik. Dann muss man denen erklären: Du willst über Löhne reden, aber die AfD will nicht, dass weiterhin gestreikt werden darf. Und wenn die AfD an der Macht ist, reden wir auch nicht mehr über Löhne. Man muss sich die Zeit nehmen zu vermitteln, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, nicht in einer Welt der Sozialpartnerschaft. Ich habe mich auf die Betriebsversammlung gestellt und die Gewerkschaftsjahrbücher von 1929 bis 1933 in die Hand genommen und gesagt, Leute guckt mal, was fällt euch auf? Das von 1933 ist nur noch ganz dünn. Das liegt daran, dass der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund eine katastrophale Fehleinschätzung getroffen hat. Sie haben gedacht, mit Anbiederei und Nichthandeln könnten sie im Faschismus überleben. Die Konsequenz daraus ist dieses dünne Bändchen hier.
Du und einige Kolleg*innen, ihr habt ja konkrete Ideen, wie es anders laufen und wie eine zukunftsfähige Automobilindustrie aussehen könnte. Ihr fordert zum Beispiel, statt privater Pkw elektrisch betriebene öffentliche Verkehrsmittel zu bauen. Kannst du skizzieren, wie ihr euch das vorstellt?
Für uns, also für diesen kleinen Kreis an Leuten, der sich damit beschäftigt, spielen diese Diskussionen gerade jetzt eine große Rolle. Denn die Frage ist ja: Inwiefern unterstütze ich die Forderungen meiner Gewerkschaft und des Betriebsrates? Und inwiefern stelle ich eigene Forderungen auf, weil ich bestimmte Dinge nicht mittragen kann? Teile der IG Metall fordern zum Beispiel eine erneute staatliche Unterstützung für den E-Auto-Kauf. Sowas kann ich aus Vernunftgründen einfach nicht mittragen, weil es Irrsinn ist, noch mehr Autos zu bauen, als eh schon da sind. Dabei gibt es auch aus dem IG Metall-Vorstand Papiere, die zu dem Schluss kommen, dass es vernünftig wäre, in zehn, 15 Jahren höchstens noch die Hälfte an Autos auf den Straßen zu haben. Wenn das also vernünftig ist, muss ich mir überlegen, was ich dann mit dieser Belegschaft mache. Wir können natürlich die Arbeitszeit reduzieren. Oder wir bauen etwas gesellschaftlich Sinnvolles, wie eine Straßenbahn. Gleichzeitig muss man sagen: Wenn die Gesellschaft keine Straßenbahnen fordert, macht es auch keinen Sinn, dass wir sie bauen, selbst wenn der Konzern uns gehören würde.
Gelingt es euch denn, Kolleg*innen für diese Ideen mit ins Boot zu holen?
Ich habe 2018 auf der Betriebsversammlung in Braunschweig eine Rede gegen eine weitere Automobilproduktion, egal welcher Antriebsart, gehalten. Dafür habe ich mehr Applaus gekriegt, als ich gedacht habe. Wenn ich heute darüber rede, gehe ich schon davon aus, dass ich nicht mehr so viel Applaus kriege, weil sich die gesellschaftliche Stimmung geändert hat. Nichtsdestotrotz stoße ich eigentlich jeden Tag auf Leute, die sagen, ich hab mitgekriegt, was du da machst. Finde ich gut. Andere sagen, ich wähle dich, weil du Politik für die Arbeiter*innen machst, aber nicht wegen deinem Ökozeug.
Wie können solidarische Menschen dich und deine Kolleg*innen unterstützen?
Wir freuen uns, wenn Leute auf die Kundgebungen kommen und Transparente mitbringen mit eigenen Forderungen. Ich glaube, die Klimabewegung hat sich von dem Trommelfeuer der Medien ein bisschen klein machen lassen. Aber auch der Rest der Linken. Da muss mehr kommen, und das muss mutiger sein und ehrlicher. Zum Beispiel die Debatte um Wasserstoff: Natürlich hat diese Technologie, die für Autos ohnehin nicht zu gebrauchen ist, ihre Probleme, aber es ist sicher sinnvoll, ein Stahlwerk auf Wasserstoff umzustellen. Die Regierung will den Wasserstoff dem freien Markt überlassen. Das ist Irrsinn, die Industrie muss unter gesellschaftliche Kontrolle kommen. Da müssen wir mutiger werden in den Forderungen. Wenn ich zum Beispiel mit Leuten über den ehemaligen Autoteilehersteller GKN in Florenz rede, wo die Belegschaft den Betrieb übernommen hat und auf klimafreundliche Produkte umstellen will, sagen alle, das ist super, da wehrt sich jemand. Das sagen sogar die, die sonst sagen, geh weg mit deinem Ökoscheiß. Das ist so ein Ansatzpunkt. Es reicht nicht, wenn wir nur sagen: Okay, da wird eine Firma geschlossen, wir machen mal einen Sozialplan. So kommen wir nicht weiter. Unser Widerstand muss größer und genereller werden.