Den Fundis im Weg sitzen
Rund 100 Feminist*innen sind wegen Bockaden gegen den »Marsch für das Leben« angeklagt
Von Anne Meerpohl
Seit 2002 halten selbsternannte »Lebensschützer« unter der Schirmherrschaft des Bundesverbands Lebensrecht jährlich einen Schweigemarsch ab, um gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche und gegen Sterbehilfe zu demonstrieren. Mit Parolen wie »Deutschland treibt sich ab« oder »Stop Feminism« fordern sie unter anderem die Verschärfung der Paragraphen 218 und 219a. Dabei produzieren sie möglichst friedlich wirkende Bilder mit weißen Holzkreuzen, Luftballons, Schildern mit riesigen Babyfotos und inszenieren sich als die vermeintlichen Retter*innen von Menschen mit Behinderung in dieser Gesellschaft. Alles ist in grün gehalten, der Farbe von Ostern und der Auferstehung.
Um das Leben selbst oder gar ernsthafte Bestrebungen, sich für die Bedürfnisse von marginalisierten Personengruppen zu interessieren, geht es ihnen allerdings nicht. Dem Marsch liegt das perfide Weltbild zugrunde, dass Frauenkörper für den Erhalt und die Reproduktion des sogenannten Volkskörpers da seien. Die Zahlen der Teilnehmenden an dem »Marsch für das Leben« sind in den letzten 19 Jahren von wenigen Hundert auf jährlich ungefähr 5.000 gestiegen. Auch ein Symptom der seit Jahren stattfindenden Retraditionalisierung der Gesellschaft und ein Beispiel dafür, wie sich konservative und rechte Positionen händeschüttelnd mehr Popularität erarbeiten. Die Bewegung vereint gefährliche Positionen miteinander: christlichen Fundamentalismus, Antifeminismus und reaktionäre Kräfte, von der Jungen Union über Freikirchen zu Nazis, dessen wichtigster öffentlicher Auftritt der Schweigemarsch jedes Jahr im September in Berlin ist.
Psychisch gewalttätiges Sitzen
Anstatt dass eine Veranstaltung und ihre Vertreter*innen kriminalisiert werden, die offen für eine massive Fremdbestimmung von Körpern demonstrieren, wurden Aktivist*innen der Gegenproteste angeklagt und haben mit drastischen Repressionen zu kämpfen. Rund 100 Teilnehmende an den Aktionen des Bündnisses What the Fuck?! wurden aufgrund von Sitzblockaden gegen den Marsch im Jahr 2019 angezeigt und stehen aktuell vor Gericht. Ihnen wird von der Staatsanwaltschaft Nötigung vorgeworfen mit Bezugnahme auf ein Urteil aus dem Jahr 1995, bei dem um die Blockade einer Autobahn und das damit erzwungene Anhalten von Autos ging. Damit sei eine Form der psychischen Gewalt ausgeübt worden, mit der eine Anklage nach §240 StGB und eine Nötigung gerechtfertigt wurde.
Pränataldiagnostik, Feminismus und Behindertenbewegung
Die Lebensschutz-Bewegung bemüht sich seit den 1980er Jahren darum, die Behindertenbewegung in ihre Kämpfe gegen das Recht auf Abtreibung einzubinden. Mit dem Argument, dass Abtreibungen aufgrund von vorgeburtlich diagnostizierten Behinderungen diskriminierend seien, reihen sich die »Lebensschützer*innen« in einen vermeintlich demokratischen, menschenfreundlichen Diskurs ein, um ihre eigentliche Agenda voranzutreiben, den antifeministischen Kampf gegen das Recht aus Selbstbestimmung. Die Behindertenbewegung hat sich von diesen Versuchen immer wieder distanziert. Weite Teile der Behindertenbewegung positionieren sich schon lange explizit für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und das Recht von Schwangeren darauf, eine Schwangerschaft zu beenden. Aktivist*innen kritisieren allerdings seit langem beispielsweise die sogenannte »embryopathische Indikation« im Abtreibungsparagraphen 218 als behindertenfeindlich. Dieser regelt, dass ein Schwangerschaftsabbruch bei einer »Schädigung« des Fötus auch über zwölf Wochen hinaus straffrei bleibt. Die Frauenbewegung, so die Haltung, mache es sich zu einfach damit, jede Debatte über Schwangerschaftsabbrüche und Kritik an Pränataldiagnostik vehement abzuwehren. Die Frage, ob eine Kritik an der embryopathischen Indikation wiederum die Selbstbestimmung von Schwangeren über ihre Körper einschränkt, ist ein moralisch aufgeladenes Themenfeld, das verschiedenste Ebenen und Folgen einer behinderten- sowie frauenfeindliche Gesellschaft berührt.
Weiterlesen: Digitales deutsches Frauenarchiv (www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de) und Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Berlin 2015.
Die Aktionsform Sitzblockade gibt es nicht erst seit gestern und auch nicht die Streitigkeiten um die juristische Auslegung als Versammlungsfreiheit, als Nötigung oder eine sogenannte Versammlungssprengung, wenn sie dem Aufhalten einer anderen Demonstration dient. Für einen allgemeinen Schutz und die Anerkennung als legitimes Mittel des Protestes tritt das Bündnis What the Fuck?! aktuell in Zusammenarbeit mit dem »Berliner Bündnis gegen Rechts« ein. In einem offenen Brief und einer Petition auf der Plattform weact rufen sie dazu auf, gegen die Kriminalisierung vorzugehen. In ihrem Text bringen sie es auf den Punkt: »Sitzblockaden dürfen nicht als Nötigung ausgelegt werden! Wir fordern von den Strafverfolgungsbehörden, die Anklagen zurückzuziehen und Sitzblockaden zukünftig als das zu werten, was sie sind: ein öffentliches Eintreten und Engagement für eine solidarische Gesellschaft.«
Mit solchen Auslegungen von Versammlungsfreiheit wird versucht, eine feministische Bewegung in die Passivität zu drängen.
Die Debatten um eine scheinbar flexible Versammlungsfreiheit scheinen sich grade zu häufen, wenn man auf die Querdenken-Demonstrationen blickt, bei denen sich die Teilnehmenden ganz gemütlich ohne Maske frei bewegen können und dabei Menschenleben gefährden. Trotz Hygienekonzepten werden gleichzeitig linke Proteste verboten, wie zum Beispiel kürzlich die geplanten und geplatzten Kundgebungen zum 1. Mai in Hamburg zeigen. Es wird mit zweierlei Maß gemessen.
Ressourcen binden
Die Aktivist*innen, die sich dem antifeministischen und menschenfeindlichen »Marsch für das Leben« in den Weg gesetzt haben, müssen sich nun neben ihrem feministischen Alltag mit Prozessbegleitung, Spenden sammeln und dem Kampf für das Recht auf Sitzblockaden herumschlagen. Die erste Berufung einer Aktivistin am 6. Mai vor dem Landgericht Berlin ist leider gescheitert, und das Strafmaß der ersten Instanz von 15 Tagessätzen à 45 Euro bleibt bestehen. Besonderes Interesse hatten die Zeug*innen der Polizei an Glitzer und Trillerpfeifen, die als brutale Angriffe auf die Fundamentalist*innen fantasiert wurden.
Mit solchen Auslegungen von Versammlungsfreiheit und der Kriminalisierung von Demonstrant*innen wird versucht, eine feministische Bewegung in die Passivität zu drängen. Sie muss sich mit Abwehrkämpfen beschäftigen, ihre Kapazitäten werden durch Repressionen gebunden, anstatt dass sie sich innerhalb eines ohehin schon anstrengenden Alltags aktiven feministischen Kämpfen widmen kann. Diese Doppelbelastung begegnet uns immer wieder, deshalb ist es umso wichtiger, sich zwischendurch einmal hinzusetzen und durchzuatmen. What the Fuck?! stellt auf Twitter klar: »Wir werden uns weiter Faschos und Antifeminist*innen in den Weg setzen. Spätestens am 18. September 2021, wenn die Fundis wieder zum Marsch für das Leben nach Berlin kommen. Denn: wir sitzen, weil sie marschieren.«