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|ak 634 | Diskussion

Die Notwendigkeit offener Grenzen

Warum globale Bewegungsfreiheit ein linkes Essential sein muss

Von Fabian Georgi

Man kann Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine in gewisser Weise dankbar sein. Ihre Äußerungen zur Flüchtlingspolitik der Linkspartei (»Gastrecht verwirkt«) haben einer Debatte Schwung verliehen, die längst überfällig war. Obwohl das Projekt globaler Bewegungsfreiheit seit den frühen 1980er Jahren von selbstorganisierten Refugees und antirassistischen Linken lautstark vertreten wird, ist die Forderung nach offenen Grenzen oft eine inspirierende, aber leere Provokation geblieben.

Richtig verstanden hat dieses Projekt einen Doppelsinn und besteht aus zwei Komponenten: Erstens dem Recht zu gehen und anzukommen, wohin und wo man möchte, und am neuen Lebensort volle soziale und politische Rechte zu genießen. Zweitens dem global durchgesetzten Recht zu bleiben, also der realen Möglichkeit, nicht fliehen oder migrieren zu müssen. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, an grundlegende Aspekte einer linken Position zu Migration und Grenzen zu erinnern. (1)

Globale Bewegungsfreiheit: geboten und notwendig

Migrationskontrollen sind ein Strukturmerkmal bürgerlich-kapitalistischer Staaten. Die Europäisierung und Internationalisierung eines Migrationsmanagements definiert nur dessen historisch jüngste Phase. Seine ständige Umgestaltung wird zentral durch zwei Konflikte vorangetrieben. Der erste besteht zwischen verschiedenen Fraktionen der »Weltarbeiterklasse«. Auf der einen Seite steht eine subalterne Mobilität: Menschen aus peripheren Räumen versuchen, durch Migration Schutz, Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Dass Menschen sich immer wieder und in großer Zahl eigensinnig für eine solche Mobilität entscheiden, erscheint unter kapitalistischen Bedingungen als systemische Notwendigkeit. Die negativen Folgen von sozialen Verwüstungen und ökonomischen Krisen und deren Eskalation zu gewaltsamen Konflikten und (Bürger-)Kriegen ist ein Grundmuster des Kapitalismus, auf das Menschen immer mit Flucht und Auswanderung reagiert haben. Sie werden es auch weiter tun. Auf der anderen Seite reagieren große Teile der Bevölkerungen des globalen Nordens restriktiv auf diese Mobilität. Angesichts drohender und realer Prekarität, Ausgrenzung und Konkurrenz versuchen sie, im Modus des Rassismus, die Privilegien ihrer imperialen Lebensweise und den Mehrwert ihrer national-sozialen Bürgerrechte auch durch repressiv ausgebaute Migrationskontrollen zu verteidigen.

Der zweite Konflikt ist eine arbeitskraftpolitische Auseinandersetzung. Hier geht es darum, wie die europäischen Staaten die für den kapitalistischen (Re-)Produktionsprozess nötigen Arbeitskräfte mobilisieren. Wie frühere Arbeitskraftstrategien zielt das heutige Migrationsmanagement darauf, die Mobilität der Weltarbeiterklasse zu regulieren und sie abgestuft zu entrechten, dieses Mal durch ihre »Migrantisierung« als Effekt von Ausländerrecht und rassistischen Diskursen.

Was staats- und kapitalnahe Expert_innen heute fordern, ist somit nichts anderes als ein System »globaler Apartheid« bzw. eines »Festungskapitalismus«: Die überwiegende Mehrheit subalterner Bevölkerungen soll in ihren »Homelands« räumlich fixiert werden, während die Mobilität nützlicher Gruppen in die abgeschotteten Wohlstandszonen durch Pässe, Visa und Grenzen selektiv inwertgesetzt, also profitabel gemacht wird. Der gewollte Effekt ist, dass die meisten Menschen im globalen Süden unmenschlichen Lebensbedingungen nur schwer entkommen können. Migrationsmanagement zielt darauf zu verhindern, dass scheiternde und ungleiche Akkumulation und damit verbundene soziale Krisen und Kriege aus peripheren Räumen in den globalen Norden »überschwappen«. (2) Erst eine solch selektive Blockade ermöglicht es den Eliten und Bevölkerungen im Norden, ihre imperiale Lebensweise zu genießen, die notwendigerweise darauf beruht, deren soziale, ökologische und ökonomische Kosten zu externalisieren und die so im globalen Süden erzeugten Lebensbedingungen ignorieren zu können. Aus diesem Zusammenhang speist sich die tiefe Hegemonie von Grenzen. Migrationskontrollen sind Teil des Staatsfetischs. Wie der Staat insgesamt erscheinen sie dem Alltagsbewusstsein vieler Menschen im globalen Norden als selbstverständliche und unhintergehbare Voraussetzung der eigenen Existenz.

Migrationskontrollen haben also den Effekt, periphere Bevölkerungen zu entmachten, ihre Stellung in den nationalen und internationalen Kräfteverhältnissen massiv zu schwächen – und so ihren subalternen Status zu verewigen. Gelänge es, ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit durchzusetzen, würde sich die Machtstellung der subalternen Fraktionen der Weltarbeiterklasse dramatisch verbessern. Globale Bewegungsfreiheit ist deshalb nicht nur ethisch geboten, sondern strategisch notwendig, um globale Kräfteverhältnisse im emanzipatorischen Sinne zu verschieben.

Humanismus und Internationalismus

Aufbauend auf einer solchen Analyse lässt sich das Projekt globaler Bewegungsfreiheit zweifach begründen. Aus humanistischer Perspektive lassen sich die Implikationen des Menschenrechtsdiskurses zuspitzen: Wenn alle Menschen frei und gleich an Würde und an Rechten geboren sind, müssen alle Privilegien, die auf zufälligen oder ethisch irrelevanten Eigenschaften basieren, abgeschafft werden.

Die großen Emanzipationskämpfe gegen Feudalismus und Sklaverei wurden auf dieser Grundlage geführt, ähnlich die Kämpfe gegen Kastensysteme, patriarchale Unterdrückung, rassistische Entrechtungen und die heteronormative Diskriminierung von LGBTIQ. In der Vergangenheit dachten vor allem weiße Menschen, dass Schwarze Menschen natürlich nicht die gleichen Rechte haben können wie sie. Männer dachten, dass Frauen ihnen natürlich untergeordnet seien. Heute denken die Staatsbürger_innen des globalen Nordens, dass die Menschen des globalen Südens selbstverständlich an Grenzen gestoppt und abgeschoben werden dürfen. Hier setzt das Projekt globaler Bewegungsfreiheit an. Es entlarvt die scheinbare Selbstverständlichkeit von Migrationskontrollen als eine weitere willkürliche und nicht zu rechtfertigende Hierarchisierung von Menschen. Es zielt nicht auf eine »linke Migrationspolitik«, nicht auf »humane« und »faire« Kontrollen. Es zielt auf deren Abschaffung.

Eine solch humanistische Kritik muss jedoch um einen politischen Internationalismus ergänzt werden, der Grenzregime als Bestandteil der Regulationsweise kapitalistischer Formationen begreift. Dies hieße zu verstehen, dass in Grenzregimen die Stabilisierung einer Ordnung ausgefochten und organisiert wird, die für die große Mehrheit der Menschen – sowohl im globalen Süden als auch im Norden – zunehmend negative Konsequenzen hat. Ein wichtiger Schritt besteht deshalb darin, das gemeinsame Interesse von Menschen im Süden und im Norden an einer Aufhebung der Vielfachkrisen eines scheiternden Kapitalismus zum gemeinsamen Ankerpunkt einer praktischen Kritik unmenschlicher Grenzregime zu machen.

Richtungsforderungen linker Migrationspolitik

Jede progressive Migrationspolitik wird letztlich in dem Widerspruch gefangen bleiben, dass Migrationskontrollen in einem kapitalistischen und rassistischen Weltsystem immer gewaltvoll sind, ein Teil jenes Problems, das abgeschafft gehört. Trotzdem können Richtungsforderungen sinnvoll sein, die in der Logik einer revolutionären Realpolitik das Terrain bereiten, auf dem um das umfassende Projekt globaler Bewegungsfreiheit gekämpft werden kann. Um folgende sieben Punkte könnte es bei einer linken Migrationspolitik gehen:

1.Als Minimalprogramm müsste sie die asylpolitischen Verschärfungen der letzten Jahrzehnte abschaffen (Lagerunterbringung, Residenzpflicht, Arbeitsverbote, die Prinzipien sicherer Herkunfts- und Drittstaaten). Das Dublin-Regime könnte durch freie Wahl des Asyllandes und eine »EU-Schutzumlage« ersetzt werden.

2.Eine radikalreformistische Migrationspolitik muss die eigene soziale und politische Basis stärken. Dies hieße vor allem, es den von Rassismus und Entrechtung Betroffenen zu ermöglichen, sich zu verteidigen und zu organisieren, etwa durch Gewerkschaftsrechte, Rechtsschutz, Prozesskostenhilfe in Asylverfahren und andere Maßnahmen. Für Menschen mit prekärem oder illegalisiertem Aufenthaltsstatus muss es möglich werden, umfassende soziale und politische Rechte zu realisieren (Bildung, Gesundheit, Rechtsschutz gegen Gewalt und Ausbeutung etc.). Voraussetzung ist, dass Städte und Kommunen dazu gebracht werden, ihre Spielräume maximal auszunutzen. Die Initiativen für Sancturary oder Solidarity Cities, wie es sie etwa in Berlin, Freiburg, Osnabrück und anderswo gibt (ak 631), sollten vorangetrieben und an möglichst vielen Orten kopiert werden.

3. Zentral ist die Forderung nach dem Stopp aller Abschiebungen und einem sicheren, unbefristeten Bleiberecht für alle mit vollen sozialen und politischen Rechten. Solche Massenlegalisierungen sind nichts Neues. Es hat sie in den USA und Europa immer wieder gegeben. Perspektivisch müssen politische und soziale Bürgerrechte an den Aufenthalt in einem Land geküpft sein, das Prinzip des jus domicile. (3)

4. Linke Migrationspolitik muss das europäische Visaregime durchbrechen. Ohne Visazwang könnten die Menschen die derzeit in der Sahara verdursten und im Mittelmeer ertrinken, gefahrlos mit Fähren und Flugzeugen nach Europa gelangen.

5. Um überhaupt eine Chance zu haben, solche Politiken durchzusetzen, müssten Erfahrungen von und Angst vor Prekarität zurückgedrängt werden. Würde es gelingen, eine sozialistisch-ökologische Transformation in Gang zu setzen, die Existenzängste und Konkurrenz durch eine fundamentale, auch psychologisch tief empfundene, soziale Sicherheit ersetzt, würde dies chauvinistische und rassistische Kräfte strukturell schwächen.

6. Um das Recht zu bleiben materiell zu realisieren, muss das Projekt, Fluchtursachen zu bekämpfen, in einem sozialistisch-ökologischen Sinne neu formuliert werden.

7. Kurzfristig ist es entscheidend, die begonnene Debatte zu einer linken Migrationspolitik fortzusetzen und die Reflexion ihrer Dilemmata zu intensivieren. Ziel sollte es sein, einen offensiven Diskurs zu entwickeln, der sich auf Humanismus und Internationalismus stützen könnte, Nord-Süd-Verhältnisse, Rassismus und Arbeitskraft als die eigentlichen Probleme benennt, Nützlichkeitserwägungen zurückweist und das Recht auf globale Bewegungsfreiheit in seinem Doppelsinn selbstbewusst zum Maßstab des eigenen politischen Handelns erklärt.

Im Gegensatz hierzu beschränkt eine restriktive Position gegenüber Wanderarbeiter_innen und Geflüchteten die Reichweite von Solidarität auf eine nationale Sozialgemeinschaft und entledigt linke Politik ihrer internationalistischen und humanistischen Grundlagen. Eine solche Position wird auch keine Wahlen gewinnen. So rechts und rassistisch kann die Linkspartei gar nicht werden, um der AfD hier Konkurrenz zu machen. Zudem wird eine restriktive Migrations- und Asylpolitik die Lage von Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Prekären in Deutschland in keiner Weise verbessern. Nationalistische Scheinlösungen gehen an den eigentlichen Problem vorbei: der Radikalisierung eines autoritären Neoliberalismus und der Unmöglichkeit, die globalen Krisen und die aus ihnen resultierenden Fluchtursachen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise aufzuheben.

Fabian Georgi

ist Politikwissenschaftler an der Universität Marburg und engagiert sich im Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet).

Anmerkungen:

1) Die folgenden Abschnitte erschienen in einer früheren Fassung erstmals in Fabian Georgi: Was ist linke Migrationspolitik?, in: LuXemburg 3/2014.

2) Fabian Georgi: Autoritärer Festungskapitalismus. Fünf Thesen zur Migrationspolitik in Europa und den USA, in: Prager Frühling Nr. 27, April 2017.

3) Harald Bauder: Jus domicile. In Pursuit of a Citizenship of Equality and Social Justice. in: Journal of International Political Theory, 8 (1-2) 2012.