Die Sonnenblume lässt ihren Kopf nicht hängen
In Bezug auf Taiwan sollten Linke ihre Solidarität nicht nur an Geopolitik festmachen, sagt der Aktivist und Autor Brian Hioe
Interview: Merle Groneweg

Vor zehn Jahren mobilisierte die »Sunflower-Bewegung« Hunderttausende Menschen in Taiwan. Auch in der Politisierung von Brian Hioe spielte sie eine bedeutende Rolle. Er spricht darüber, was von der Bewegung geblieben ist und wie die Linke auf soziale Fragen, Geopolitik und internationale Solidarität blickt.
Ist der Einfluss der Sunflower-Bewegung heute noch spürbar?
Brian Hioe: Die Sunflower-Bewegung hat eine größere Kehrtwende in Taiwans Politik und Gesellschaft eingeläutet. Sie richtete sich zunächst gegen ein Dienstleistungshandelsabkommen zwischen der Volksrepublik China und Taiwan. 2014 war in Taiwan die Kuomintang (KMT) an der Macht – das ist die Partei, die Taiwan von 1949 bis 1987 autoritär in einem Ein-Parteien-Staat regiert hat. Die KMT wollte das Abkommen auf eine Art und Weise durchsetzen, die viele an vergangene, autoritäre Praktiken erinnert hat. Außerdem hätte das Abkommen eine größere Verflechtung mit China bedeutet. Im März 2014 besetzten Student*innen das taiwanesische Parlament. Ich war einer dieser Student*innen. Die Besetzung wuchs zu der Sunflower-Bewegung heran, in die ganz unterschiedliche Forderungen und Hoffnungen für eine gerechtere Gesellschaft eingeflossen sind, vor allem in Hinblick auf Löhne und Wohnraum. Infolge der Bewegung formierten sich viele Gruppen, die bis heute existieren, darunter New Bloom, zu denen ich gehöre. Ein anderer, bis heute spürbarer Einfluss der Sunflower-Bewegung ist die Wahl von Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) als Präsidentin. Die DPP hat die Präsidentschaftswahlen 2016, 2020 und 2024 gewonnen.
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Brian Hioe (丘琦欣)
ist Schriftsteller, Herausgeber/Redakteur, Übersetzer, Aktivist und DJ in Taipeh. Nach der Sunflower-Bewegung 2014 hat er gemeinsam mit anderen das New Bloom Magazine (破土) gegründet – ein Online-Magazin, das über Aktivismus und Jugendpolitik in Taiwan und im asiatisch-pazifischen Raum berichtet. Außerdem organisiert er Events in DAYBREAK (破曉咖啡), dem Community Space, den New Bloom in Taipeh betreibt. Im Januar 2025 erscheint sein Roman »Taipei at Daybreak«.
Welche Themen spielen, abgesehen von der Souveränitätsfrage, für soziale Bewegungen in Taiwan aktuell eine wichtige Rolle?
LGBTQ-Rechte, Feminismus, indigene Rechte, die Rechte von Bäuer*innen, Wohngerechtigkeit – vor allem in Hinblick auf Zwangsräumungen – das sind nur einige der Themen, die derzeit präsent sind. Letztlich dreht sich Vieles um soziale Ungleichheit. Unmittelbar nach der Sunflower-Bewegung kamen viele Aktivist*innen hinzu, aber inzwischen ist die Szene wieder recht überschaubar. Man trifft meistens auf ein und dieselbe Person, die in mehreren Gruppen aktiv ist. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum die Bewegungen untereinander kaum Konflikte haben; bei den meisten Themen gibt es einen großen Konsens. Das könnte man aber auch als einen Mangel an Diskussion auslegen – und vielleicht als eine Schwäche der Linken in Taiwan interpretieren. Eine tiefe Spaltung innerhalb der Linken zeigt sich jedoch in Bezug auf die Frage Unabhängigkeit von versus Wiedervereinigung mit China. Eine andere Herausforderung war und ist es, progressive, pro-unabhängige Gruppen – die häufig ein recht positives Bild von den USA haben – davon zu überzeugen, sich für Palästina einzusetzen.
Eine Spaltung innerhalb der Linken zeigt bei der Frage Unabhängigkeit von versus Wiedervereinigung mit China.
Aber die Linke, die sich für die Wiedervereinigung einsetzt, nimmt vermutlich eher eine sehr marginalisierte Position ein?
Diese Position nehmen wenige in Taiwan ein, auch unter jenen, die sich nicht als links verstehen. Sie betrachten China als eine sozialistische Utopie. Ironischerweise sind wir es – also die Linke, die sich für die Unabhängigkeit einsetzt, zu denen auch New Bloom gehört – die sich wirklich mit Arbeitskämpfen oder sozialen Protesten in China auseinandersetzt und solidarisiert. Das einzige Thema, bei dem wir gemeinsam mit der Pro-Wiedervereinigungs-Linken auftauchen, ist Palästina.
Eine offizielle Unabhängigkeitserklärung fordern aktuell nur sehr wenig Taiwaner*innen. Seit Jahrzehnten heißt Taiwan offiziell Republik China, wird aber aufgrund der sogenannten Ein-China-Politik der chinesischen Regierung nur noch von rund einem Dutzend Staaten weltweit diplomatisch anerkannt. Plädierst du aktuell auch für die Beibehaltung des Status quo?
Ja – vor allem, um einen chinesischen Angriff auf Taiwan zu vermeiden. Aber New Bloom positioniert sich auch gegen den Nationalstaat als politisches Konzept. Gleichzeitig aber glaube ich an das Recht auf Selbstbestimmung: Menschen sollten selbst entscheiden können, in was für einem Land sie leben möchten. Unsere Position ist vertrackt. Der Nationalstaat als politische Einheit, die global dominiert, wird sich nicht von heute auf morgen auflösen. Deshalb sind wir auch für die Unabhängigkeit.
Taiwan ist seit dem Zweiten Weltkrieg eng mit den USA verbunden, auch wenn im Gegensatz zu Südkorea und Japan kein offizielles Militärbündnis mit den USA existiert. Trotzdem soll die Option, dass die USA Taiwan militärisch bei einem Angriff Chinas verteidigen, China abschrecken. Ist es für Taiwans Pro-Unabhängigkeits-Linke auch schwierig, in Anbetracht der militärischen Abhängigkeit von den USA eine antiimperialistische Position zu formulieren?
Die militärische Abhängigkeit verkompliziert die Situation für viele Linke. Ein Beispiel für die Integration Taiwans in den von den USA dominierten asiatisch-pazifischen Raum ist der Aufbau der Halbleiterindustrie. Bekanntermaßen werden die am weitesten entwickelten Chips heute vor allem in Taiwan produziert. Aber auch diese Entwicklung ist eng mit dem Rüstungs- und Industriekomplex der USA, verbunden und auch mit dem Vietnamkrieg. Deshalb sollte Taiwan die eigene Rolle in der Region kritisch hinterfragen. Es ist schwierig, eine Position zu formulieren, die sowohl kritisch gegenüber den USA als auch gegenüber China ist. Wir versuchen, das zu tun, aber es bleibt letztlich eine marginale Perspektive.
Taiwan sollte die eigene Rolle in der Region kritisch hinterfragen.
Wie artikuliert ihr eure Position?
Wir weisen darauf hin, dass beide Supermächte – die USA und China – in ihrem Verhalten gewisse Gemeinsamkeiten zeigen, sei es in der Überwachung ihrer Bevölkerungen oder in Bezug auf soziale Ungleichheit im eigenen Land. China betreibt zum Beispiel Internierungslager für Uigur*innen, eine muslimische Minderheit, und rechtfertigt dies mit Rhetorik, die dem »Krieg gegen den Terror« der USA entlehnt ist. Gleichzeitig strebt China in gewisser Weise nach der imperialen Machtposition, die die USA innehaben. China imitiert US-Taktiken und baut Institutionen auf, die denjenigen ähneln, die die Macht der USA gefestigt haben, wie den IWF oder die Weltbank. Wir sehen Parallelen zu anderen, die zwischen zwei Mächten gefangen sind, wie Kurdistan oder die Ukraine.
Wie gelingt es euch in Anbetracht der schärferen Repression in China und Hongkong noch, euch mit Aktivist*innen dort zu vernetzen?
Es ist tatsächlich immer schwieriger geworden, die seit langem bestehenden solidarischen Verbindungen zwischen Taiwan, Hongkong und China aufrechtzuerhalten. Der einzige Ort, an dem wir noch politische Treffen auf Chinesisch abhalten können, ist Taiwan. Aber durch die intensive Überwachung und Kontrolle wird es für viele Aktivist*innen aus Hongkong und China immer schwieriger hierherzukommen. Gleichzeitig ist es für Aktivist*innen aus Taiwan kaum möglich, nach China oder Hongkong zu reisen. Wir versuchen auch, den Austausch mit anderen Bewegungen in Ost- und Südostasien zu stärken. Aber auch hier gibt es viele Barrieren – und natürlich viele Unterschiede. Wenn Aktivist*innen aus Myanmar und Hongkong in einem anderen Land auf dem Podium sitzen, können sie zwar über ihre Erfahrungen im Exil sprechen, doch die Kontexte sind sehr unterschiedlich: Myanmar befindet sich mitten im Bürgerkrieg, während in Hongkong die Repression nach der Niederschlagung der Proteste anhält. Viele dieser Gruppen finden sich im Exil wieder, kämpfen ums Überleben, versuchen Bewusstsein zu schaffen und Geld für Genoss*innen in der Heimat zu sammeln, während sie den Kontakt zu den Entwicklungen vor Ort aufrechterhalten. Es ist wichtig, dass sie miteinander sprechen und voneinander lernen. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, diese Barrieren abzubauen und eine stärkere Vernetzung zu ermöglichen.
Gibt es etwas, dass du dir von linken Bewegungen in Deutschland wünschst?
Wenn ich auf das letzte Jahrzehnt zurückblicke, gab es in Asien kontinuierlich soziale Bewegungen, aber im Westen wurde dem wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In Taiwan befinden wir uns in einer schwierigen Lage, gefangen zwischen den USA und China. Es ist entscheidend, dass internationale linke Bewegungen, einschließlich der in Westeuropa, dies verstehen, ihre Solidarität jedoch nicht nur durch die geopolitische Linse betrachten, sondern auch die historischen und sozialen Realitäten Taiwans einbeziehen. Das bedeutet, ein differenzierteres Verständnis von Taiwans Geschichte zu entwickeln. Viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass der Großteil der Bevölkerung, deren Nachfahren heute in Taiwan leben, bereits viele Jahre vor dem Ende des Chinesischen Bürgerkriegs nach Taiwan gekommen ist und dass das Streben nach Unabhängigkeit keine neue Entwicklung ist.