»Lieber sterbe ich auf dem Platz als auf der Warteliste«
Nach mehr als drei Monaten ist die Dynamik des Aufstands in Chile ungebrochen
Von Alix Arnold
Die Proteste von Schülerinnen gegen eine Fahrpreiserhöhung der Metro von Santiago am 18. Oktober haben einen Aufstand losgetreten, der sich binnen kurzer Zeit auf das ganze Land ausgedehnt hat und auch im neuen Jahr weiter geht. Dabei geht es, wie ein berühmter Slogan der Proteste formuliert, »nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre«. Kritisiert wird die neoliberale Politik der Privatisierung und Verarmung, die mit der Pinochet-Diktatur durchgesetzt und in 30 Jahren Demokratie auf die Spitze getrieben wurde: Renten, die so niedrig sind, dass sie Rentnerinnen in den Selbstmord treiben; Studiengebühren, wegen derer sich Student*innen für ihr ganzes Leben verschulden müssen; ein miserables Gesundheitssystem, das allein 2018 etwa 26.000 Menschen das Leben kostete, die auf den langen Wartelisten für Operationen und medizinische Behandlungen standen. »Lieber sterbe ich hier auf dem Platz als auf der Warteliste«, heißt es auf einem Plakat.
Eines derZentren des Aufstands ist – neben den Städten Valparaiso, Antofagasta und Concepción – die Plaza Italia im Zentrum von Santiago, jetzt »Platz der Würde« genannt. Hier finden täglich Demonstrationen statt. Ermöglicht werden sie durch die Primera Línea, größtenteils jüngere Aktivist*innen, die in den Seitenstraßen mit Todesverachtung gegen die Carabineros kämpfen und sie vom Platz fernhalten. (Siehe Interview in dieser Ausgabe)
Viele der Jugendlichen der Primera Línea kommen aus den staatlichen Heimen der Institution SENAME, bei denen eine offizielle Untersuchung 2017 ein unvorstellbares Ausmaß von Gewalt und Missbrauch feststellte. Sie haben eine Horrorkindheit hinter sich und nichts zu verlieren. Von Politik und Presse werden sie als Vandalen beschimpft, aber für die breite Bewegung sind sie Heldinnen. Hier gibt es keine Spaltung in friedliche und böse Demonstrantinnen. Bei den Kundgebungen werden sie immer wieder mit Lob und Applaus bedacht. Eine schöne Geste war das große Essen, das am Silvesterabend speziell für die Primera Línea, ihre Unterstützerinnen und Obdachlose organisiert wurde. Es waren mehr als 100.000 Demonstrantinnen, die auf dem Platz das neue Jahr feierten – und den 75. Tag ihrer Revolution.
Jenseits der spektakulären Straßenschlachten ist eine ungeheure Politisierung im Gange. Gleich zu Beginn der Revolte gründeten sich in den Stadtteilen Versammlungsstrukturen, Asambleas oder Cabildos genannt. Leute aus der Nachbarschaft treffen sich regelmäßig, um darüber zu diskutieren, wie es mit der Bewegung weitergehen soll – und wie eine Gesellschaft organisiert sein müsste, in der ein Leben in Würde für alle möglich ist. Große Einigkeit besteht in der Forderung nach einer Änderung der Verfassung, die noch aus der Diktatur stammt. Bei dem im November vom Parlament beschlossenen Verfahren ist jedoch die Gefahr groß, dass die grundlegenden Veränderungen, die massenhaft auf der Straße gefordert werden, auf diesem Wege nicht durchsetzbar sind.
Der Präsident und Milliardär Sebastián Piñera versucht mit äußerster Gewalt, sein Regime zu retten. Die Carabineros begehen schlimmste Menschenrechtsverletzungen. Sie foltern und vergewaltigen. Sie schießen aus nächster Nähe mit Gasgranaten und mischen Ätznatron in das Wasser der Wasserwerfer. 27 Menschen sind bei dem Aufstand bisher gestorben, mehr als 350 haben schwere Augenverletzungen davongetragen. Zehntausende wurden festgenommen. Aber der Staatsgewalt gelingt es nicht, die Menschen einzuschüchtern und von der Straße weg zu bringen. Im Gegenteil. Die große Zahl von Opfern ist eine weitere Motivation, auf keinen Fall aufzugeben, solange keine grundlegenden Veränderungen erreicht sind.