Aktivierungsmomente
Die Stimmung auf den Straßen in Sachsen hat sich seit Juni verschlechtert – einige halten dagegen
Von Yaro Allisat
Am Rand von Grimma steht die Alte Spitzenfabrik. Seitdem das »Dorf der Jugend«, ein Projekt emanzipatorischer Jugendarbeit, dort eingezogen ist, bietet die alte Fabrik einen Freiraum in der Kleinstadt östlich von Leipzig. Es ist der größte linke Ort in Grimma. In einem Raum mit verstaubten Fabrikfenstern, der sich trotz Vorhang unerträglich aufgeheizt hat, sitzen Lukas und Samuel von der Infostelle Asyl & Bildung. Die beiden studieren Jura und beraten gemeinsam mit einem sechsköpfigen Team jede Woche Menschen im oder nach dem Asylverfahren. Sie helfen beim Umzug, bei der Klärung des Aufenthaltsstatus, bei der Durchsetzung des Bleiberechts, bei der medizinischen Versorgung oder bei Sprachkursen.
Am 1. September finden in Sachsen und Thüringen Landtagswahlen statt. In Brandenburg wird am 22. September gewählt. Die Ergebnisse der Europa- und Kommunalwahlen im Juni, bei denen die AfD ohne Ausnahme in allen Städten massiv zulegte, gaben schon einen Vorgeschmack: Vereine und Initiativen befürchten einen »Kahlschlag in der Integrationsarbeit«. Auch Gewerkschaften und andere linke Gruppen warnen vor den Auswirkungen der rechtsextremen und konservativen Erstarkung und organisieren Großdemonstrationen und Kampagnen gegen den Rechtsruck.
In Sachsen steht die AfD aktuell mit 31 Prozent knapp vor der CDU (29,5 Prozent). Ähnlich sieht es in Thüringen (AfD 28,6 und CDU 22,4 Prozent) und Brandenburg (AfD 23,6 Prozent, SPD 19 und CDU 18,4 Prozent) aus. Die Partei, deren Landesverbände in Sachsen und Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden, könnte also in allen drei Bundesländern die stärkste Kraft werden.
Angriffe nehmen zu
Direkte Auswirkungen hatten die Kommunalwahlen für viele Vereine bisher noch nicht – denn der Großteil der Städte und Gemeinden im Osten stellt ohnehin wenige bis keine Mittel für die Integrationsarbeit zur Verfügung. Auch in Borna legte die AfD bei den Kommunalwahlen deutlich zu. »Der Schwerpunkt der Partei scheint wohl zu sein, den Geldfluss an uns zu verhindern«, so Carolin Münch vom antirassistischen Verein Bon Courage e.V. gegenüber ak. »Das beeindruckt uns wenig, da es für uns derzeit überhaupt keine städtische Förderung gibt. Auch wenn die AfD-Pfeifen zu blöd sind, das einordnen zu können, zeigt es ja, welche Debatten geführt werden und wie sehr unsere Arbeit im Fokus steht und stehen wird.«
Der Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DamOst) macht sich ebenfalls Sorgen um die wachsende Hetze gegen Migrant*innen. So sagt eine Sprecherin gegenüber ak: »Die Wahlergebnisse befeuern eine besorgniserregende Atmosphäre, die potenziell zu Kürzungen in wichtigen Bereichen wie der Unterbringung von geflüchteten Menschen und Demokratieprojekten führen könnte.« Die Wahlen hätten aber auch je nach Stadt das Bewusstsein innerhalb der verschiedenen Communities für die Relevanz politischer Teilhabe gestärkt. »Wir haben verstärkt den Dialog gesucht, um auf die Herausforderungen und Ängste der betroffenen Gruppen zu reagieren.«
Die Wahlen haben das Bewusstsein für die Relevanz politischer Teilhabe gestärkt.
Finanziell sind die meisten Vereine vor allem von Landes- , teils auch von Bundesmitteln abhängig. An diesen wurde im letzten Jahr an allen Ecken und Enden gekürzt. (ak 703) Mitarbeitende mussten entlassen werden, Räume gekündigt, Beratungsangebote eingestellt werden. Auch die Infostelle Asyl & Bildung in Grimma hatte bis Ende letzten Jahres Geld für zwei Zehn-Stunden-Stellen auf Mindestlohnbasis vom Bund. Mittlerweile müssen sie die Beratung ehrenamtlich durchführen. Lukas und Samuel bangen um die Aufrechterhaltung ihres Angebots: »Außer der Spitzenfabrik haben wir keinen dauerhaften Ort. Und ehrenamtlich können wir die Beratung vielleicht noch ein Jahr lang weiterführen. Alles danach ist ungewiss.« Tobias Burdukat, Geschäftsführer der Between the Lines GmbH, der die Alte Spitzenfabrik gepachtet hat, ärgert sich, dass seit den letzten Landtagswahlen keine Strukturen aufgebaut wurden, um alternative Projekte im ländlichen Raum finanziell unabhängig von staatlichen Förderungen zu machen, denn letztere »werden perspektivisch in Richtung null gehen«.
Konservative Gemeinderäte und Landesregierungen schaden den Strukturen auch ideell, so heißt es vom Sächsischen Flüchtlingsrat gegenüber ak: »Auch wenn die AfD nicht die Regierung bildet, bleiben die jetzt verbreiteten negativen Stereotypen von Schutzsuchenden über Jahre in den Köpfen. Alle müssen sich der inzwischen salonfähigen Hetze entgegenstellen, die immer wieder zu Gewalt auf Geflüchtete oder ihren Unterkünften führt!«
Mehrere Initiativen berichten ak zudem, dass die Stimmung auf der Straße sich schon jetzt deutlich nach rechts verschiebt. Auch Bon Courage stellt fest: »Seitens der Geflüchteten wird uns vermehrt von noch viel offensiverem Alltagsrassismus berichtet, dem die Menschen hier tagtäglich ausgesetzt sind. Beleidigungen, Bedrohungen und auch körperliche Übergriffe nehmen zu.«
Angst und Politisierung
Entscheidend für die Politik in Thüringen, Brandenburg und Sachsen wird zudem sein, ob die Linkspartei es in die Landtage schafft. In den Umfragen zu den Landtagswahlen im September liegt die Partei nur in Thüringen unter Ministerpräsident Bodo Ramelow bei zwölf Prozent, in Sachsen und Brandenburg schafft die Partei es nicht über fünf Prozent. Um den Einzug in den Landtag trotzdem zu schaffen, will Die Linke in Sachsen mindestens zwei Direktmandate gewinnen. Das sichert den Einzug in den Landtag per sogenannter Grundmandatsklausel. Damit würden auch AfD und CDU wiederum Sitze und Fördergelder verloren gehen. Eine Chance auf ein Direktmandat haben aktuell die drei Leipziger Kandidat*innen Juliane Nagel, Marco Böhme und Nam Duy Nguyen, der zum ersten Mal antritt.
Nguyen geht es um eine neue Basisorientierung der Partei und eine langfristige Verankerung in seinem Bezirk Leipzig Mitte-Ost. Dafür führt er mit einem Team aus 150 Menschen seit mehreren Monaten Haustürgespräche, um herauszufinden, welche Themen die Nachbar*innen beschäftigen. Auf einer Stadtversammlung im Juni einigten sich Anwohner*innen und das Wahlkampfteam gemeinsam auf die Themen Mieten, Inflation und Mobilität. »Es braucht eine Partei, die sich konsequent gegen Niedriglöhne, steigende Mieten und Lebenskosten einsetzt«, so Nguyen. Wenn Die Linke über die Direktmandate in den Landtag einzieht, würde das zwei bis drei Sitze weniger für die AfD bedeuten. »Gleichzeitig bietet die parlamentarische Verankerung auch eine wichtige Infrastruktur für Stadtteile und soziale Bewegungen«, heißt es aus dem Team von Nguyen gegenüber ak. Juliane Nagel, die schon seit Jahren im Stadtteil Connewitz verankert ist, will die Partei auch gegen einen Rechtsruck der Mitte verteidigen: »Gerade SPD und Grüne haben in der laufenden Legislatur im Land und im Bund gezeigt, dass sie Menschen, die von Transferleistungen abhängig sind oder Geflüchtete auch bereit sind an den Rand zu drängen und sich hier nicht gegen die CDU durchsetzen oder Verschlimmerungen sogar mit vorantreiben.«
Die ostdeutsche Kampagne »Jugend steht auf« wurde gegründet, um einen »Antifaschismus zu prägen, der nicht nur in den Großstädten stattfindet, der die dörfliche und kleinstädtische Realität einbezieht und sich nicht nur auf die parlamentarische Politik fokussiert.« Anfang Juni lud die Kampagne zu einer Konferenz in Zeitz ein, um die Zukunft des Antifaschismus in Ostdeutschland zu diskutieren. Die Angst vor Rechtsextremen und Faschist*innen in Entscheidungspositionen in Kommunal- und Landespolitik sei laut einer Sprecherin von »Jugend steht auf« ein »Aktivierungs- und Politisierungsmoment« für viele gewesen. Dabei dürfe sich der Aktivismus nicht auf die Zeit vor den Wahlen beschränken: Man habe in enger Zusammenarbeit mit der Gruppe »Dorfliebe für alle« bereits im Februar daran gearbeitet, einen AfD-Landrat im Thüringer Saale-Orla-Kreis zu verhindern. Stattdessen gewann der CDU Politiker Christian Herrgott – und setzte nach der Wahl einen Arbeitszwang für Geflüchtete zu einem Stundenlohn von 80 Cent durch. Deshalb wissen die Antifaschist*innen, dass es wichtig ist, Bündnisse für eine solidarische Gesellschaft über die Wahlen hinaus zu schmieden. »Einige Menschen in meinem Umfeld überlegen, im Falle eines AfD-Sieges das Bundesland zu verlassen. Es muss unsere Aufgabe sein, in diesem Fall ein Anlaufpunkt für Menschen zu sein, die Angst haben und sich engagieren möchten«, so ein Aktiver von »Jugend steht auf«.