Lampedusa ist kein Kriegsschauplatz
Vier Protokolle über praktische Solidarität gegen nationale Regierungen, EU-Bestimmungen und das Sterben im Mittelmeer
Von Şeyda Kurt
Im Oktober 2013 sanken zwei Flüchtlingsboote vor den Küsten Lampedusas, mehr als 500 Menschen starben, darunter 60 Kinder. Die Insel mit ihren malerischen Stränden gelangte damals zu tragischer Berühmtheit, in den folgenden Jahren schien sie jedoch vergessen – und somit auch ihre Bewohner*innen. Etwa die Fischer*innen, die Geflüchtete auf dem offenen Meer gerettet hatten. Aber auch die Flüchtenden selbst, deren Boote fast täglich am Inselhafen anlegen, waren aus den Nachrichten verschwunden. Lampedusa, die südlichste Insel Italiens, ist seit Jahrzehnten ein Anlaufpunkt für Menschen, die sich aus Libyen und Tunesien über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa machen.
Im September war die Insel zurück in den internationalen Schlagzeilen: Allein in einer Woche erreichten fast 7.000 Menschen mit Booten die Küsten. Der örtliche Hotspot, der als Erstaufnahmestelle Platz für 400 Menschen bietet, war heillos überfüllt. Europäische Politiker*innen schienen sich in ihren Reaktionen einig, dass die Migration nach Lampedusa um jeden Preis eingeschränkt werden soll. Dabei gibt es bis heute eine andere Normalität auf der Insel: eine solidarische Zusammenarbeit von Geflüchteten, Aktivist*innen und Einheimischen, die sich für offene Grenzen engagieren. Und dann gibt es da noch die vielen Tourist*innen – wer im Oktober durch das Stadtzentrum flaniert, mit seinen Restaurants und Souvenirläden, wird kaum etwas von den Katastrophenbildern der vergangenen Wochen ahnen. Das rührt auch daher, dass die Regierung die neu Ankommenden systematisch vom Rest der Insel isoliert. Sie dürfen den militärisch abgeschirmten Hotspot im Zentrum der Insel nicht verlassen. Hilfsorganisationen wie auch Journalist*innen ist der Zugang untersagt. Im Süden Lampedusas haben sich jedoch Anfang Oktober vier Tage lang Aktivist:innen, Einheimische und Menschen, die geflüchtet sind, auf dem selbstorganisierten Maldusa Camp getroffen. Zehn Jahre nach den Schiffskatastrophen von 2013 haben sie über die Herausforderungen für zivile Seenotrettung, die europäische Grenzpolitik und ein solidarisches Zusammenleben in Lampedusa diskutiert.
Jihed aus Tunesien, 35, forscht zu Bewegungsgerechtigkeit und arbeitet beim Maldusa Projekt, einem Netzwerk aktivistischer Gruppen, das sich für den Austausch zwischen Geflüchteten und Locals einsetzt. Er selbst musste Tunesien 2019 verlassen und lebt heute in Frankreich.
»Früher war ich wütend auf Lampedusa. Ich hörte lauter Geschichten von meinen tunesischen Freund*innen, die auf ihrer Flucht hier ankamen. Manche von ihnen waren tagelang in Seenot und hatten das Gefühl, hier auf Ignoranz zu stoßen. Tourist*innen haben sogar Fotos von ihnen geschossen, als sie am Ende ihrer Kräfte an den Küsten strandeten.
Für rund 6.000 Bewohner *innen gibt es nur eine Notaufnahme. Es herrscht oft Wassermangel, die Müllentsorgung funktioniert nicht immer, und die Meere sind zunehmend verschmutzt. Trotzdem weiß ich heute, dass viele Einheimische die Seenotrettung unterstützen.
2011, während der blutigen Proteste in Tunesien, flohen rund 48.000 Menschen nach Lampedusa, mehrere Tausend Menschen saßen hier unter katastrophalen Bedingungen fest. Als Tunesier hatte auch ich das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein. Nun bin ich zum zweiten Mal in Lampedusa und habe begriffen, dass die Menschen auf der Insel auch viele Probleme haben: es gibt wenig Wohnraum für die Einheimischen, weil etwa viele Wohnungen an Tourist*innen vermietet werden. Für rund 6.000 Bewohner*innen gibt es nur eine Notaufnahme. Es herrscht oft Wassermangel, die Müllentsorgung funktioniert nicht immer, und die Meere sind zunehmend verschmutzt. Trotzdem weiß ich heute, dass viele Einheimische die Seenotrettung unterstützen. Sie haben Geflüchtete bei sich übernachten lassen, für sie gekocht und ihnen Zugang zum Internet gewährt. Das hat mein Bild verändert. Wir haben als Maldusa Projekt Anfang Oktober jeden Abend öffentliche Diskussionsrunden zu Flucht und Grenzpolitik im touristischen Zentrum veranstaltet. Es kamen viele Locals vorbei und haben Fragen gestellt. Ich habe das Gefühl, dass sie wieder ein größeres Interesse für unsere Anliegen entwickeln. Nach den negativen Schlagzeilen der vergangenen Wochen war es uns wichtig, die unterschiedlichen Realitäten auf der Insel sichtbar zu machen. Wir wollen, dass die Locals ihre Probleme mit uns teilen können.«
Giuseppe aus Lampedusa, 44, betreibt mit seiner Familie ein beliebtes Restaurant im touristischen Zentrum Lampedusas. Er ist auf der Insel geboren und aufgewachsen.
»Das Italienische Wort für ›Insel‹ ist ›Isola‹, und das trifft es gut: Wir sind isoliert. Lampedusa scheint nur zu Italien zu gehören, wenn wir Steuern zahlen sollen. Es gibt zwar eine Notaufnahme, aber kein Krankenhaus. Wenn wir medizinische Hilfe brauchen, müssen wir nach Palermo. Für unsere Kinder gibt es eine einzige weiterführende Schule auf der Insel. Dabei ist Bildung das Wichtigste, Kinder müssen bereits in jungen Jahren lernen, was es etwa bedeutet, Menschen in Not zu helfen. Sie sind die Politiker*innen der Zukunft!
Es gab Bilder des Chaos und der Überforderung, als wäre das Alltag. Das ist politisches Kalkül. So konnten sich Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen als Retterinnen inszenieren.
Mir gefällt aber, dass wir ein solidarisches Zusammenleben auf der Insel haben. Du hast keinen Sprit mehr für deine Vespa? Kein Problem, ich helfe dir aus. Unsere Kinder spielen bis tief in die Nacht auf der Straße, wir fühlen uns sicher. Als Anfang der 1990er Jahre die ersten Flüchtenden auf Lampedusa ankamen, war ich sieben Jahre alt. Damals haben Menschen sich einfach in der Militärkaserne registriert und sind weitergezogen. Es gab keine Hotspots. Die Insel hat sich seit jeher dagegen gewehrt, Menschen einzusperren. Denen, die vor Krieg flüchten und sich bei uns ein Leben aufbauen wollen, soll jede Unterstützung geboten werden. In den vergangenen Wochen hat Lampedusa wieder negative Schlagzeilen gemacht. Es gab Bilder des Chaos und der Überforderung, als wäre das Alltag. Das ist politisches Kalkül. So konnten sich unsere Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, vor den Kameras als Retterinnen inszenieren. Doch wie kann es sein, dass nach dem Medienrummel plötzlich viel weniger Menschen in Lampedusa angekommen sind? Als wäre das abgestimmt! Wir leben hier vom Tourismus, wir öffnen unsere Restaurants nur wenige Monate in der Sommersaison. So viele Tourist*innen haben in den vergangenen Wochen ihre Reisen hierher abgesagt. Wissen die Politiker*innen eigentlich, was das für uns bedeutet? Jetzt wird noch mehr Geld in die Grenzpolitik fließen. Das wird aber wieder nicht uns Einheimischen zugutekommen.«
Dorina aus Berlin, 37, kommt ursprünglich aus Rumänien und lebt in Berlin, wo sie als Journalistin und Vorstandsmitglied bei Mediterranea Berlin tätig ist. Die Organisation ist in der Seenotrettung aktiv, mit einem eigenen Schiff auf dem zentralen Mittelmeer.
»Als Verein klären wir über die Themen Migration, Menschenrechte und Bewegungsfreiheit auf, sei es in Deutschland, in der Mittelmeerregion oder Osteuropa. Das ist bei der Gemengelage nicht einfach. Die italienische Regierung ist sehr intransparent. Wir wissen zum Beispiel nicht, was aus den Menschen wird, die den Hotspot hier in Lampedusa verlassen. Die Insel ist kein Kriegsschauplatz, es gibt keinen Feind. Aber so wurde es häufig in der Berichterstattung der vergangenen Wochen dargestellt, in manchen Schlagzeilen deutscher Zeitungen war die Rede von ›Invasionen‹. Dabei nutzen Menschen auf der Flucht Lampedusa seit Jahrzehnten als Transit, die Insel ist das Tor zu Europa. Aber es fehlt an politischem Willen, die Probleme tatsächlich zu bekämpfen. Stattdessen steckt man hier Tausende Menschen in einen Hotspot mit Kapazitäten für 400 Personen! Es gibt nicht genug Schlafplätze oder ausreichende Gesundheitsversorgung für so viele Menschen. Nach der Krisenverordnung im Juni hat das Italienische Rote Kreuz den Hotspot auf der Insel übernommen, seitdem hat sich die Lage zumindest etwas verbessert, es gibt jetzt zum Beispiel freies W-Lan.
Die Insel ist kein Kriegsschauplatz, es gibt keinen Feind.
Wir wissen längst, dass die Schließung der Grenzen Menschen nicht an der Flucht hindert, genauso wenig gehen wir davon aus, dass zivile Seenotrettung einen Anreiz liefert, nach Europa zu flüchten. Es braucht humanitäre Korridore, also legale Fluchtwege per Flugzeug oder Schiffe, die von der internationalen Gemeinschaft finanziert werden, damit sich Menschen nicht in überfüllten Schlauchbooten ohne Rettungswesten auf die Flucht ins Mittelmeer begeben müssen. Und solche Korridore gibt es längst, ein Beispiel aus Italien ist die Gemeinde Sant’Egidio. Das ist eine religiöse Gemeinschaft, die in Zusammenarbeit mit evangelischen Kirchen und der italienischen Regierung – aber auch mit Hilfsgeldern aus Deutschland – direkten Kontakt zu Menschen in der Not aufnimmt, Visa beschafft und eine sichere Reise nach Italien finanziert, um sie dann in ihren Einrichtungen zu beherbergen, bevor die Flüchtenden weiterziehen können. Ein anderes Beispiel sind die sogenannten sicheren Häfen, zu denen Städte wie Barcelona oder Marseille gehören. Das sind Orte, die sich dazu bereit erklärt haben, Rettungsschiffe mit Menschen auf der Flucht in ihren Häfen willkommen zu heißen. Diese Städte und Kommunen müssen das aber meist gegen den Willen ihrer eigenen nationalen Regierungen durchsetzen. Und sie müssen weiter Druck auf ihre Regierungen aufbauen, um noch mehr sichere Häfen zu ermöglichen.«
Madieye aus dem Senegal, 32, ist vor sieben Jahren nach Italien geflüchtet und lebt in Palermo. Er arbeitet als Schweißtechniker unter Wasser.
»Ich weiß, was es bedeutet, in Italien anzukommen, ein neues Leben zu beginnen: Dokumente sammeln, eine Arbeit finden oder eine Wohnung. Ich teile mein Wissen mit anderen Menschen. Ich bin froh, Teil von Baye Fall zu sein, das ist ein islamisch-sufistischer Orden aus dem Senegal. Unsere Philosophie erfordert einen bewussten Umgang mit sich selbst und der Umwelt, wir setzen uns außerdem für soziale und Geschlechtergerechtigkeit ein.
Es ist nicht möglich, eine pauschale Lösung für die aktuelle Situation zu finden, wie sie oft gefordert wird.
Wir sind für unsere Geschwister da. Es ist wichtig, dass wir hier in Lampedusa mit so vielen Menschen aus unterschiedlichen Orten der Welt zusammengekommen sind, die gegen Grenzregime kämpfen. Dass so viele Menschen aktiv sind, um die Situation für Ankommende und Einheimische zu verbessern, gibt mir Hoffnung. Ich mag es nicht, wenn man von Menschen pauschal als ›Flüchtlinge‹ spricht. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Menschen sich auf den Weg machen: Kriege, Armut, Hunger als Folgen jahrzehntelanger kolonialer Ausbeutung, aber auch grundsätzlich die politische Situation in ihren Herkunftsländern. Alle stehen vor ihren eigenen Herausforderungen, erzählen ihre eigenen Geschichten. Es ist nicht möglich, eine pauschale Lösung für die aktuelle Situation zu finden, wie sie oft gefordert wird. Für Menschen on the move gibt es viele Probleme auf verschiedenen Etappen: die Gewalt in ihren Herkunftsländern, ihre Fluchtrouten und ihre Ankunft in Europa. Neuerdings fordert die italienische Regierung zum Beispiel von abgelehnten Asylbewerber*innen 5.000 Euro Kaution, um einer Abschiebehaft zu entgehen. Das ist ein Vermögen, woher sollen diese Menschen so viel Geld auftreiben? Es gilt also erst einmal, zu präzisieren: Wo wollen wir die Probleme anpacken? Welche Ressourcen erfordert das?«