Hallo, du bist gefeuert
Der Lieferdienst Gorillas kündigt in Berlin Fahrer*innen, die sich an Streiks beteiligt haben sollen
Von Jan Ole Arps
In meinem Warehouse gab es in den letzten drei Monaten mehr als zehn Unfälle von Fahrer*innen mit Knochenbrüchen. Wir haben das Unternehmen gebeten, uns neue Fahrräder zu stellen, aber nichts ist passiert. Deshalb beende ich das Arbeitsverhältnis von Kağan.« Applaus. »Bei Gorillas gibt es sexistische und rassistische Diskriminierung. Deshalb feuere ich Kağan.« Applaus. »Ich streike, weil wir bessere Ausrüstung brauchen, um die Waren auszuliefern. Kağan, du bist gefeuert!«
Vor dem Berliner Firmensitz des Lebensmittellieferdienstes Gorillas in der Schönhauser Allee steht am Mittwoch, den 6. Oktober, eine Menschenmenge. Etwa 120 Leute – Gorillas-Fahrer*innen, Unterstützer*innen und jede Menge Journalist*innen – sind gekommen, und gerade hören sie zu, wie Arbeiter*innen des Unternehmens erklären, warum sie ihren Boss, den Gorillas-Gründer Kağan Sümer, feuern.
Der Anlass für die Versammlung: Zahlreiche Fahrer*innen haben tags zuvor per Brief oder Anruf ihre Entlassungen erhalten, und sie wurden aus den Whatsapp-Gruppen ihrer Warehouses, der Lieferzentren, von denen es in Berlin derzeit 16 gibt, entfernt. Damit reagiert das Unternehmen auf Streiks in mehreren dieser Warehouses. Betroffen sind laut Aussagen von Gorillas-Arbeiter*innen Fahrer*innen, die in einem der drei Lieferzentren – Schöneberg, Gesundbrunnen und Bergmannkiez – arbeiten, in denen zwischen dem 1. und 4. Oktober gestreikt wurde. Offenbar habe sich das Unternehmen diejenigen Arbeiter*innen herausgepickt, die an den betreffenden Tagen im Schichtplan standen. Im Lieferzentrum Bergmannkiez sei gleich die komplette Belegschaft gefeuert worden. Und das könnte erst der Anfang sein. In mehreren Zeitungsartikeln ist von bis zu 350 Kündigungen die Rede, die das Unternehmen ausgesprochen habe. Gorillas-Fahrer*innen können bis Redaktionsschluss etwa 40 bestätigen.
Die Entwicklung seit Sommer
Im Unternehmen, das mit dem Versprechen antritt, innerhalb von zehn Minuten Lebensmittel zu Supermarktpreisen bis an die Haustür zu liefern, ist es seit Sommer immer wieder zu spontanen Arbeitsniederlegungen und Protesten der Beschäftigten gekommen. Die erste Welle wilder Streiks im Juni war ausgelöst worden durch die Kündigung eines Fahrers im Warenlager am Checkpoint Charlie. Damals brachten ein bis zwei Dutzend Fahrer*innen spontan den Betrieb zum Erliegen und zogen dann weiter, um auch andere Lager in der Stadt zu blockieren. (ak berichtete) Die Aktionen brachten den Gorillas-Fahrer*innen schnell große Aufmerksamkeit ein, sind doch wilde, also nicht von einer Gewerkschaft ausgerufene, Streiks in Deutschland eine Seltenheit.
Zu der Forderung nach Wiedereinstellung des Fahrers Santiago kamen schnell weitere hinzu: Die Arbeiter*innen kritisierten die sechsmonatige Probezeit, innerhalb derer sie ohne Angaben von Gründen entlassen werden können, schlechte Arbeitsbedingungen und ungenügende Ausrüstung. In den folgenden Wochen mussten Lieferzentren wegen der Proteste mehrmals für einige Stunden oder einen Tag den Betrieb einstellen. Die Hauptkraft hinter den Protesten war das Gorillas Workers Collective, eine selbst organisierte Gruppe von Fahrer*innen, die bereits seit Anfang des Jahres die Geschäftspraktiken des Unternehmens kritisiert und auch eine Initiative zur Gründung eines Betriebsrates gestartet hatte.
Gorillas-Gründer Kağan Sümer hatte zunächst versucht, die Proteste auszusitzen. Gegenüber den Fahrer*innen signalisierte er Dialogbereitschaft, trug in Zoom-Konferenzen wirre Motivationsreden vor und versprach Verbesserungen. »Wir arbeiten hart daran, die Probleme zu lösen« und »Ich bin im Herzen selber Fahrer« waren beliebte Sätze aus Sümers Rhetorik-Baukasten. Doch die versprochenen Verbesserungen blieben aus, Unfälle wegen schlecht gewarteter Räder, verspätete Lohnzahlungen, straffere Schichtpläne und kürzere Lieferzeiten heizten den Unmut unter den Arbeiter*innen weiter an.
Möglich, dass die neuen, besser organisierten wilden Streiks das Management veranlasst haben, nun zum Gegenschlag auszuholen.
Am Freitag, den 1. Oktober, traten daher die Belegschaften der Lieferzentren Bergmannkiez und Gesundbrunnen in den unbefristeten Streik. Am 2. Oktober streikten auch die Beschäftigten im Lieferzentrum Schöneberg. In allen drei Lagern waren Versammlungen vorausgegangen, auf denen über den Streik und die Forderungen abgestimmt wurde. Duygu, eine Fahrerin im Lieferzentrum Bergmannkiez, erklärte während des Streiks am Montag – vor der Kündigungswelle – gegenüber ak: »Wir fordern faire und vollständige Bezahlung, sichere Fahrräder, ein Ende der Unterbesetzung, menschenwürdige und planbare Schichten und Rücksprache mit den Fahrer*innen bei Änderungen in den Abläufen. Für uns war wichtig, dass wir unsere Forderungen ausführlich miteinander diskutiert haben, dadurch haben am Ende fast alle Arbeiter*innen hier im Warehouse für den Streik gestimmt.«
»Diese Verankerung in den Lieferzentren ist ein großer Fortschritt gegenüber dem Sommer«, meinte auch ein Mitglied des Workers Collective. »Es sind mehr Leute dabei, auch Communities, die wir damals nicht erreicht haben. Sogar einzelne Supervisoren unterstützen den Streik.«
Kampf ums Streikrecht
Möglich, dass die neue Dimension des Streiks das Management veranlasst hat, zum Gegenschlag auszuholen. Noch im Sommer hatte Sümer betont, er werde niemanden wegen des Streiks entlassen. Nun erklärt das Unternehmen: »Solche unangekündigten und nicht gewerkschaftlich getragenen Streiks sind rechtlich unzulässig. Nach intensiver Abwägung sehen wir uns gezwungen, diesen rechtlichen Rahmen nun durchzusetzen.«
Dass die Kündigungen vor Gericht Bestand haben werden, ist allerdings keineswegs sicher. Der Arbeitsrechtler Martin Bechert vertritt 20 entlassene Gorillas-Fahrer*innen. Bechert regt sich auf, weil in vielen Medien nur zu lesen ist, dass die Kündigungen wegen des wilden Streiks »möglicherweise rechtswidrig« seien. Ja, die Rechtmäßigkeit des Streiks sei strittig, sagt er. »Aber an den Kündigungen ist so vieles ungesetzlich, da gibt es rechtlich gar keine Frage.« Keine*r der Gekündigten habe zuvor eine Abmahnung erhalten. Zudem müssten Kündigungen, gerade bei befristeten Arbeitsverhältnissen, wie sie bei Gorillas üblich sind, schriftlich erfolgen. »Aber sicher nicht per Telefonanruf«, so Bechert. Schließlich seien 18 der Fahrer*innen, die er vertrete, Kandidat*innen für die Betriebsratswahl. Sie genießen sogar besonderen Kündigungsschutz.
Ohnehin ist die strikte Auslegung des Streikrechts, nach der Streiks, zu denen keine tariffähige Gewerkschaft aufgerufen hat, illegal sind, eine deutsche Besonderheit. Ihm steht die Europäische Sozialcharta gegenüber, ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen, laut dem das Streikrecht ein Individualrecht ist. In den anstehenden Arbeitsgerichtsprozessen könnte also ein interessanter Präzendenzfall verhandelt werden, bei dem es auch darum geht, ob wilde Streiks in Zukunft ganz legal stattfinden können – oder ob ihre Illegalisierung fort- und festgeschrieben wird.
Doch wenn die Kündigungsschutzklagen der Gorillas-Arbeiter*innen in einigen Monagen vor Gericht landen, hat das Unternehmen sein Ziel, den Arbeitskampf abzuwürgen, längst erreicht. Gorillas versucht, mit den Entlassungen jetzt Fakten zu schaffen, und spekuliert auf die prekäre Lage der meisten Fahrer*innen. Tatsächlich ruft das Workers Collective auf Twitter schon dazu auf, ihnen Jobangebote weiterzuleiten. »Das Arbeitsrecht ist zu langsam, um die Gorillas-Kollegen zu schützen«, beklagt Bechert.
Gorillas kommt es also durchaus gelegen, dass das Interesse an der Frage, ob »wilde« Streiks zulässig sind, die nach der Rechtswidrigkeit der Entlassungen verdrängt. Sollte Gorillas mit der Strategie des Faktenschaffens Erfolg haben, könnten sich andere Unternehmen daran ein Beispiel nehmen. Den Fahrer*innen bleibt daher nur die Hoffnung, dass öffentlicher Druck das Unternehmen zum Einlenken bewegt oder dass ver.di den Streik formal übernimmt und damit legalisiert – wodurch auch die Kündigungen zurückgenommen werden müssten. Doch bisher gibt es keine Anzeichen, dass ver.di zu diesem Schritt bereit wäre.
Spenden an die Streikkasse des Gorillas Workers Collective: elinor Treuhand e.V., IBAN: DE48 4306 0967 7918 8877 00, BIC: GENODEM1GLS, Verwendungszweck: ELINORKX6HV9
Eine frühere Version des Textes erschien am 6. Oktober auf www.akweb.de.