Ein tiefsitzender Rassismus
Im Nachgang der Krawalle in den Niederlanden geraten migrantische Viertel in den Mittelpunkt einer Debatte, die die Probleme vor Ort ignoriert
Am Abend des 26. Januar versammelten sich in Bijlmermeer Bewohner*innen des migrantisch geprägten Viertels im Südosten der Stadt Amsterdam: »Wir sind Eltern aus dem Viertel«, sagt ein älterer Mann. »Wir sind hier, weil wir unsere Jugendlichen daran hindern wollen, an den Ausschreitungen teilzunehmen.« Ziel der Eltern war es, das Gespräch mit Jugendlichen zu suchen und so die Lage zu deeskalieren. Sie wandten sich damit gegen eine Reihe von gewaltsamen Protesten gegen die Coronamaßnahmen der Regierung, die das Land seit ein paar Tagen beschäftigten.
Ihren Ausgang hatten sie am 23. Januar in der rechten, christlich-fundamentalistischen Kleinstadt Urk genommen, wo ein Corona-Testzentrum des Gesundheitsamtes in Brand gesetzt worden war. Danach hatten sich die Ausschreitungen wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Am Sonntagmittag war es in Amsterdam und Eindhoven zu gewaltsamen Protesten gekommen, an denen sich maßgeblich extrem rechte Akteur*innen, aber auch linke Querfront- und verschwörungsideologische Spektren beteiligten.
Insbesondere in Eindhoven war es dabei zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei sowie zu Plünderungen gekommen. Abends schlossen sich vermehrt junge Männer den Auseinandersetzungen an. In Großstädten wie Rotterdam und Den Haag lieferten sie sich Straßenschlachten mit der Polizei und plünderten Ladengeschäfte. Aber auch in kleineren Städten wie Zwolle, Tilburg und Arnhem kam es zu Krawallen. In Enschede wurde ein Krankenhaus angegriffen. Insgesamt kam es in mehr als 21 Städten zu sogenannten Krawallen zur Abendstunde.
Rechte wollen durch Kurswechsel Punkte sammeln
Auslöser waren die wenige Tage zuvor von Parlament und Regierung verschärften Ausgangsbeschränkungen, insbesondere die Sperrstunde. Um Zustimmung von links zu kriegen, hatte die Regierung Zugeständnisse bei der Schließung von Unternehmen und beim Gesundheitsschutz für Arbeiter*innen im Zuge der Pandemie machen müssen. Die extrem rechten Parteien Partij voor de Vrijheid (PVV) und Forum voor Democratie (FvD) nutzten diesen Kompromiss und die im März anstehenden Parlamentswahlen, um ihre Rhetorik noch einmal deutlich zuzuspitzen und zu Protesten gegen die Regierungspolitik aufzurufen.
Beflügelt wurde die Dynamik dadurch, dass die Regierung aufgrund der sogenannten Toeslagenaffaire am 15. Januar zurückgetreten war und seitdem nur noch kommissarisch im Amt ist. Über Jahre hinweg waren vor allem Eltern mit vermeintlichem oder tatsächlichem Migrationshintergrund von der Steuerbehörde des Betrugs bezichtigt worden. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass viele keinen Anspruch mehr auf die Auszahlung von Kinderbeihilfe hatten. Sie mussten die Beihilfe zurückzahlen, die sie bereits erhalten hatten. Besonders hart traf es alleinerziehende Arbeiterinnen, die so in die Schulden getrieben und mit dem Stigma des Betrugs belegt wurden.
Das Vorgehen der Steuerbehörde ist Ausdruck einer tiefsitzenden rassistischen politischen Kultur in Teilen der niederländischen Staatsapparate. Die Behörde arbeitete bei ihren Betrugsermittlungen mit einem Algorithmus, der anhand von Nationalität Risikoprofile erstellte. Zudem steht der Verdacht im Raum, dass vermeintlich ausländische Nachnamen oder besonders migrantisch geprägte Viertel pauschal als Kriterien in der Risikobewertung eingeflossen sind. Die Datenschutzbehörde sprach in ihrem Bericht davon, dass es sich beim Vorgehen der Steuerbehörde um einen klaren Fall von institutioneller Diskriminierung handle – Wissen, das bei vielen Betroffenen schon jahrelang vorhanden war.
Die stärkste Oppositionspartei PVV von Geert Wilders versuchte die Toeslagenaffaire zu einem Problem umzudeuten, das »unschuldige niederländische Familien« im Allgemeinen getroffen hätte. Die rassistische Dimension des Skandals spielte er dabei herunter. In der Parlamentsdebatte über den Rücktritt der Regierung verteidigte er sogar den dem Skandal zugrundeliegenden harten Kurs gegen Betrug und etwaiges racial profiling vonseiten der Behörde. So schaffte Wilders es, rechte politische Kräfte zu bündeln. Dies trug zur Vehemenz der Querfrontproteste am Wochenende des 23. Januar bei.
Die Situation in den Vierteln ist schon länger schlecht
Der Rücktritt der Regierung geht aber eigentlich auf einen linken Erfolg zurück, der vor allem durch migrantische Selbstorganisation und Sammelklagen ins Rollen gebracht worden war. Die Toeslagenaffaire ist dabei nur das letzte Ereignis in einer bereits seit Jahren schwelenden Debatte um Rassismus in den Niederlanden. Sie prägt die Alltagserfahrung vieler und ist ein Schlüssel zum Verständnis der vehementen Ausschreitungen in proletarischen und migrantischen Vierteln wie der Schilderswijk in Den Haag, Bijlmermeer in Amsterdam oder Rotterdam Zuid. Dabei spielt auch die niederländische Polizei eine unrühmliche Rolle.
Bewohner*innen berichten immer wieder von rassistischen Übergriffen und racial profiling seitens der Polizei. Besonders prägend ist dies im Schilderswijk, wo es im Zuge der sogenannten avondklok rellen zu besonders heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen war. Entscheidend war hierfür der Tod von Mitch Henriquez im Jahr 2015. Er war auf einem Open Air Festival im angrenzenden Zuiderpark brutal von der Polizei festgenommen worden. Noch während der Festnahme verlor Henriquez durch einen Würgegriff der Beamten das Bewusstsein, wenig später starb er in Polizeigewahrsam an seinen Verletzungen. Nach Bekanntwerden seines Todes kam es zu Großdemonstrationen gegen Rassismus und rassistische Polizeigewalt.
Bewohner*innen berichten immer wieder von rassistischen Übergriffen und racial profiling seitens der Polizei.
Die mobilisierenden Initiativen wie Movement X forderten eine umfassende Aufklärung über die Todesursachen und -umstände von Henriquez. Sie drängten auf eine unabhängige Untersuchung über etwaige rassistische Motive der beteiligen Beamten, sowie über die politische Kultur innerhalb der niederländischen Polizei. Ihre Forderungen blieben weitestgehend unbeantwortet. Von den an der Festnahme beteiligten Beamten wurde einer im Juni 2019 zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Ein weiterer Beamter wurde freigesprochen, einem Antrag auf Dienstsperre gab das Gericht nicht statt.
Im Schilderswijk war der Unmut über das Urteil entsprechend groß und prägt bis heute die Stimmung im Viertel. Die sozialen und ökonomischen Probleme im Viertel sind bekannt: Neben Rassismus sind auch Arbeitslosigkeit und Armut Teil der Alltagserfahrung vieler Bewohner*innen. Sie haben kaum Chancen und Perspektiven, raus zu kommen. Weder auf dem Arbeits- noch auf dem Wohnungsmarkt haben sie irgendeine Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage. Für Gesprächsstoff sorgt das Viertel entweder, wenn es um islamistische Strukturen geht, die dort verankert sind, oder wenn es zu Ausschreitungen kommt. So auch im Januar dieses Jahres.
Die extreme Rechte nutzte die Ausschreitungen in Den Haag, Rotterdam und Amsterdam, um die von ihr befeuerten verschwörungsideologischen Mobilisierungen und Krawalle gegen die Sperrstunde reinzuwaschen. So sprach Wilders von »ausländischem Gesocks«, das mit dem »Militär bekämpft werden« müsse. Hooligans und Bürgerwehren formierten sich daraufhin in den Provinzen, um »Städte und Unternehmen zu verteidigen«. Aber auch Parteien und Bewegungen, die sich ihrem Selbstverständnis nach für migrantische Interessen einsetzen, kritisierten die Ausschreitungen.
Zwei Parteien mit unterschiedlichen Ansätzen
Für Den Haag und Rotterdam ist vor allem die politische Partei DENK entscheidend. Sie hatte gemeinsam mit FvD und PVV gegen die Sperrstunde gestimmt. Nach den Ausschreitungen im Januar verurteilte sie die Gewalt der Jugendlichen. Sie müssten aufhören, »unsere Viertel zu zerstören«. Die Partei hatte sich im Jahr 2014 von der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA) abgespalten und ist mit zwei Sitzen in der Tweede Kamer (Parlament) vertreten. Sie weist eine starke Nähe zur politischen Linie der türkischen AKP von Erdogan auf, etwa in der Frage zum Völkermord an den Armenier*innen. Zudem ist die Partei durch einen ausgeprägten israelbezogenen Antisemitismus aufgefallen.
Ihre Verankerung hat DENK vor allem in konservativen muslimischen Gemeinden. Die Partei versteht es, Rassismuserfahrungen in türkisch-nationalistische oder konservativ-religiöse Gefühle zu übersetzen. Dabei inszeniert sie sich als Sprachrohr für kleine und mittlere Unternehmen. Der Abgeordnete Tunahan Kuzu von DENK besuchte nach den Ausschreitungen Unternehmer im Rotterdamer Süden, deren Geschäfte geplündert worden waren. Dass die Hauptakteure bei DENK überwiegend Männer sind, ist kein Zufall. Denn in Fragen der Geschlechter- und Sexualpolitik vertritt die Partei ein ausgesprochen konservatives Weltbild.
Aufgrund dessen hatte die ehemalige Radio- und Fernsehmoderatorin Sylvana Simons die Partei schon im Jahr 2016 verlassen. Sie gründete mit anderen Aktivist*innen die neue Organisation BIJ1. Simons, die in der ehemaligen niederländischen Kolonie Suriname geboren wurde, sitzt inzwischen für die Bewegung im Amsterdamer Stadtrat und will im März ins Parlament einziehen. BIJ1 begreift sich als Plattform für verschiedene Bewegungen. Ihre Ausrichtung ist dabei intersektional. Das heißt, dass sie versucht, antirassistische, feministische und antikapitalistische Kämpfe miteinander zu verbinden. Die Partei war eine der treibenden Kräfte hinter den Black Lives Matter-Protesten im Sommer vergangenen Jahres. Über Wochen hatte die Bewegung mehrere zehntausend Menschen mobilisiert und auch den Tod von Mitch Henriquez wieder zum Thema gemacht.
In ihren Stellungnahmen verurteilte auch BIJ1 die Ausschreitungen. Sie kritisierte die »toxische Männlichkeit«, die sie als verbindendes Moment zwischen extrem rechten Mobilisierungen, Bürgerwehren in den provinziellen Regionen, Polizeigewalt und Plünderungen in den migrantischen Vierteln bezeichnete. Vertreter*innen der Partei gingen abends auf die Straße, um mit Bewohner*innen ins Gespräch zu kommen. So trafen sie am 26. Januar auf die Eltern in Bijlmermeer, die versuchten, die überwiegend jungen Männer von Ausschreitungen abzuhalten. Erneute Bilder, wie am Vorabend im Amsterdamer Indische Buurt, wo Steine geflogen, Barrikaden errichtet und Polizist*innen von Jugendlichen in antisemitischer Manier als Juden beschimpft worden waren, wollten sie verhindern.