Kollektive Angriffe von innen
Nur den Humanismus zu verteidigen führt in einen defensiven Teufelskreis, dem die Linke nur mit einer radikalen Kritik an der EU entkommen kann
Von Carina Book
Die Bilder, die uns von der griechisch-türkischen Grenze erreichen, zeigen eine menschliche Katastrophe. Es ist die erneute Zuspitzung einer zynischen Politik, die die von Deutschland dominierte EU mit Erdogan zur Abwehr von Geflüchteten ausgehandelt hat. Die EU ist auch die Architektin einer Politik, die jedes Jahr Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt und jeden legalen Weg nach Europa versperrt. 2019 ertranken laut UNHCR 1.100 Menschen im Mittelmeer. Das meiste passiert, wo nicht so viele Kameras vor Ort sind. Doch was wir an der griechischen Grenze sehen, macht die Festung Europa so begreifbar wie selten.
Wenn die deutsche Linke nun versucht, im Namen des Humanismus breite Teile der Bevölkerung für ein neues 2015 zu mobilisieren, ist das richtig. Richtig, weil die Hoffnung besteht, dass Deutschland unter dem Druck dieser Teile der Gesellschaft tatsächlich die Geflüchteten von der türkisch-griechischen Grenze aufnimmt und sich die Situation dieser Menschen verbessert. Aber auch richtig, um zu verhindern, dass sich die rechte Erzählung von »2015 darf sich nicht wiederholen« weiter gesellschaftlich verbreitet. Vielleicht sogar richtig, weil man hoffte, das EU-Migrationsregime grundsätzlich zu verändern. Doch es hat sich viel verändert in der Zeit zwischen 2016, als ein Sturm der Empörung losbrach, weil Beatrix von Storch (AfD) ihre Sehnsucht nach Schüssen an den Grenzen kundgetan hatte, und jetzt – da Geflüchtete an der türkisch-griechischen Grenze zwischen hochmilitarisierten Einheiten von beiden Seiten zerrieben und beschossen werden. Den großen humanitären Aufschrei hat die Gesellschaft hierzulande bisher leider vermissen lassen.
Belässt man es also beim Hochhalten des Humanismus, begibt man sich in einen defensiven Teufelskreis, in dem die immer wiederkehrenden schockierenden Bilder der EU-Abschottungspolitik ebenso wiederkehrend beklagt werden. Um in eine strategische Offensive zu kommen, braucht es aber eine radikale Gegnerschaft zur deutschen EU und die Erinnerung daran, dass die Gegnerschaft zu diesem neoliberalen und undemokratischen Europaprojekt noch vor einigen Jahren eine zentrale Achse linker Politik war. Das war, bevor sich bei vielen der Eindruck eingestellt hat, dass EU-Kritik der Markenkern einer sich in einem ungebremsten Siegeszug befindenden rechten Bewegung geworden wäre.
Die Schwierigkeit bei den letzten Versuchen linker EU-Kritik schien vor allem darin zu bestehen, nicht auf falsche Versprechen einer Re-Orientierung auf den Nationalstaat reinzufallen oder Hoffnungen in einen Nationalkeynesianismus zu setzen. In Abgrenzung dazu haben sich einige Linke auf die Vorstellung eingelassen, die EU könnte Europa vor dem grassierenden Nationalismus bewahren. Man müsste sie nur an dem messen, was sie selbst vorgibt zu sein. Da werden die europäische Idee und die Europäische Menschenrechtskonvention bemüht – ein irreführender Spurwechsel, denn natürlich ist die EU nie das humanistische Friedensprojekt gewesen, als das sie von den Liberalen verkauft wird.
Das deutsche Europa kritisieren
Richtig ist, dass ein linkes Hegemonieprojekt für ein solidarisches Europa von unten fehlt. Doch das ist kein Grund, die EU-Kritik bleiben zu lassen, denn: Eine Bedingung für das Entstehen eines solchen Projektes ist, die EU von innen zu schwächen. Für die Linke in Deutschland bedeutet das zuallererst, die deutsche Politik in Europa anzugreifen. Sie hat dafür gesorgt, dass die Interessen des Wirtschaftsstandorts Deutschland bis in die letzte Ecke der EU-Architektur verbaut wurden. Und das hat letztlich dafür gesorgt, dass wir mit der EU nun da stehen, wo wir stehen: Es war Deutschland, das die zahlreichen Dublin-Abkommen durchgedrückt hat, die im Kern nicht »nur« bedeuten, dass Deutschland im Prinzip mangels EU-Außengrenze für Geflüchtete überhaupt nicht zuständig ist. Die Dublin-Abkommen haben immer auch eine Botschaft an die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen gesendet, nämlich: »Sorry Leute, dass ihr euer Land an die EU-Außengrenze gebaut habt, ist wirklich nicht unser Problem.« Es sind dieselben Mitgliedstaaten, die seit der Krise von 2008ff. unter einer von der deutschen EU verordneten Austeritätspolitik leiden und in denen jedes progressive Aufbegehren gegen das Spardiktat niedergeschlagen wurde. Und es sind dieselben Mitgliedstaaten, deren Volkswirtschaften durch das deutsche Exportmodell zerstört wurden.
Wer nun mit dem Finger auf die rechte griechische Regierung zeigt, die sich mit Ansage von aller Menschlichkeit verabschiedet hat, muss sich auch klar machen, dass die Dominanz Deutschlands den Weg für diese Regierung und den Aufstieg rechter Kräfte im Rest Europas vorbereitet hat. Die griechische Linke steht derweil kurz vor dem Kollaps. Nach der Niederschlagung während der Euro-Krise ist es nun die Repression der neuen rechten Regierung, die versucht, ihr den Rest zu geben. Deutsche Politiker*innen zeigen sich unterdessen wie gewohnt im Krisenmanagement, das überhaupt nicht im Widerspruch zur rechten griechischen Regierung steht. Besonders deutlich wird das, wenn die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin und jetzige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) über das »Krisengebiet« an der griechisch-türkischen Grenze fliegt und in Kriegsrhetorik sagt: »We will hold the line«. Ihr Kollege Manfred Weber von der CSU, EVP-Vorsitzender im Europaparlament, will überhaupt nicht mehr über geflüchtete Menschen sprechen. Er spricht über kollektive Angriffe von außen auf die EU-Grenze. Es ist Zeit, dass die Linke kollektive Angriffe von innen auf die EU-Grenzen diskutiert. Nötig dafür ist, die abgerissenen Fäden einer europäischen linken Vernetzung wieder aufzunehmen.