Revolution statt Sozialarbeit
Im armen Bezirk Kayole der Hauptstadt Kenias kämpfen Aktivist*innen des Community Justice Center gegen Polizeigewalt – und für Selbstermächtigung
Von Tim Krüger
Felix Omondi verließ an einem Juniabend im Jahr 2019 nach dem Abendessen das Haus seines Onkels, um sich auf den Weg zum elterlichen Kiosk zu machen. Der 15-jährige Teenager bereitete dort allabendlich Mandazi, eine lokale Mehlspeise, zum Verkauf vor. Wenige Augenblicke, nachdem Felix das Haus des Onkels im Bezirk Kayole in Nairobi verlassen hatte, stieß er auf eine Streife der örtlichen Polizei. Kurz darauf war Felix Omondi tot. Als sein Onkel am nächsten Morgen im Kiosk stand und sich schon sorgte, wo sein Neffe abgeblieben war, besuchten Polizisten den kleinen Laden, um ihm mitzuteilen, die Familie könne Felix’ leblosen Körper in der örtlichen Leichenhalle abholen.
Geschichten wie die von Felix und seinen Angehörigen können viele der Anwohner*innen Kayoles schmerzlich nachvollziehen. Nicht wenige Familien haben selbst Kinder, die zu Opfern von Polizeigewalt geworden sind. Das Viertel im Osten Nairobis gilt gemeinhin als einer der ärmsten und gefährlichsten Bezirke der kenianischen Hauptstadt. Es beherbergt weit über 190.000 Menschen, die auf engstem Raum und zumeist in sogenannten informellen Siedlungen wohnen, viele von ihnen Wellblechverschläge.
Kenia hat eine Jugendarbeitslosigkeit von über 20 Prozent, mehr als 85 Prozent der Bevölkerung erwirtschaften ihr täglich Brot im informellen Sektor; in Bezirken wie Kayole dürften die tatsächlichen Zahlen noch weit über den offiziellen Statistiken liegen. Für die meisten Jugendlichen gibt es keinerlei soziale Aufstiegsperspektive. »In Kayole ist der größte Teil der jungen Menschen arbeitslos, oder es fehlen ihnen jegliche Mittel, um ihre Ausbildung fortzusetzen«, erklärt Faith Kasina. Die junge Frau ist Aktivistin im Kayole Community Justice Center, einem selbstorganisierten Zentrum, das mit den Jugendlichen und Familien im Viertel arbeitet.
Kasina ist selbst in Kayole groß geworden und kennt die Probleme hier gut. Gemeinsam mit weiteren Mitstreiter*innen hat sie 2018 das KCJC ins Leben gerufen. »Wir sind so etwas wie eine in der Gemeinschaft verankerte Menschenrechtsorganisation«, meint Kasina. Im Unterschied zu vielen anderen Nichtregierungsorganisationen gehe es ihnen darum, eine Plattform zu schaffen, auf der die Menschen ihre eigenen Probleme diskutieren und für ihre Interessen kämpfen können. Laut Gerald Kamao, ebenfalls Aktivist der ersten Stunde, versuche man gemeinsam mit der Community gegen »extralegale Hinrichtungen, Polizeigewalt und willkürliche Festnahmen, aber auch gegen die fortschreitende Umweltzerstörung und geschlechtsspezifische Gewalt im Viertel« zu kämpfen. Neben der Gewalt der Sicherheitsbehörden prägen auch Bandenkriminalität und horizontale Gewalt innerhalb der Gemeinschaften das Leben in den Randbezirken der ostafrikanischen Metropole.
Nahezu wöchentlich ein Polizeimord
Doch sind es vor allem Fälle wie der von Felix Omondi, die die Basisaktivist*innen beschäftigen. In den armen Stadtteilen Nairobis kommen nahezu wöchentlich Jugendliche durch die Polizei zu Tode. Meist sind es junge Männer, die zum Opfer der Kugeln und Knüppel der kenianischen Polizei werden. Die Behörden rechtfertigen die Vorfälle stets mit Verweis auf die hohe Rate der Kriminalität in den betreffenden Vierteln, doch folgt man Kasina, Kamao und ihren Kolleg*innen, so handelt es sich bei den teils tödlichen Übergriffen der Polizei nicht um tragische Einzelfälle, sondern um staatliche Gewalt, die einem systematischen Kalkül folge.
»Diese Vorfälle sind keine Zufälle, die Gewalt dient dazu, uns zu zwingen, ein Leben zu akzeptieren, in dem man uns unserer Würde beraubt«, meint Faith Kasina. Auf ihrem kleinen Block hat sie die Statistiken über die steigende Polizeigewalt in den vergangenen Jahren notiert. Im Jahr 2019 wurden 73 Fälle von Folter, Morden, Verschwindenlassen und weiteren Übergriffen der Polizei registriert. Seit dem Amtsantritt der aktuellen kenianischen Regierung unter Präsident William Ruto im September 2022 wollen die Aktivist*innen, Stand Oktober 2023, 482 Fälle gezählt haben. Die Tendenz, sagen sie, sei weiter steigend.
Wir sind sowas wie eine in der Gemeinschaft verankerte Menschenrechtsorganisation.
Faith Kasina
Kommt es zu Gewalt, willkürlichen Festnahmen oder gar Morden, so kümmern sich die Aktivist*innen des Gesellschaftszentrums um die betroffenen Familien, dokumentieren die Fälle und versuchen auch auf juristischem Wege eine Verurteilung der Todesschützen zu erreichen. Doch meist bleibt ihr Kampf vor den Gerichten vergeblich. Die allermeisten Morde werden einfach unter den Tisch gekehrt, sagt Kasina. So sind seit dem Tod von Felix Omondi im Jahr 2019 mittlerweile mehr als vier Jahre vergangen, doch nicht einmal die Todesumstände des jungen Mannes konnten bis heute abschließend geklärt werden. Laut der Darstellung der Polizei, den einzigen Zeugen seines Todes, soll es sich bei Omondi um einen auf der Flucht erschossenen Kriminellen gehandelt haben. Doch die Familie des getöteten Jugendlichen widerspricht der Version der Polizei vehement. »Felix wurde aus nächster Nähe brutal ermordet«, sagt auch der junge Aktivist Okakah Onyango, der ebenfalls zum KCJC gehört. »Dass der Junge ein Dieb, ein gefährlicher Krimineller oder sonst was gewesen sein soll, ist nichts weiter als eine vorgeschobene Ausrede der Bullen.«
Auch Kasina vertraut bei der Aufarbeitung der Fälle nicht auf die Ermittlungen der Behörden. »Die meisten Fälle werden einfach eingestellt, und dann heißt es, es gäbe zu wenig Beweise«, erzählt sie. Das Grundproblem sei, dass die Polizei gegen die Polizei ermittle und die Beweise zurechtbiege. »Sie entfernen die Leiche ohne Zeugen vom Tatort, verfrachten sie an einen anderen Ort und legen alles so hin, wie sie es brauchen, um ihre Kollegen zu schützen.«
Auch die Familien der Betroffenen seien immer wieder Ziel polizeilicher Willkür. So soll die Polizei in Kayole gezielt Familien, deren Fälle vom KCJC bearbeitet werden, unter Druck setzen, belastende Aussagen zurückzuziehen. »Wir hatten auch schon Fälle, bei denen die Opfer von Polizeigewalt im Laufe unserer Arbeit getötet wurden.« Kasina berichtet zudem von Einschüchterungsversuchen gegen Aktive des Gesellschaftszentrums. Manche Mitglieder seien schon von Beamt*innen der örtlichen Polizeistation bedroht worden, »man könne sie auch einfach verschwinden lassen«. Die junge Aktivistin hat selbst den Glauben in die Justiz weitestgehend verloren, sie ist sich sicher: »Dieses System funktioniert nicht für das Volk.«
Doch ein Grund kleinbeizugeben, ist das für die jungen Aktivist*innen nicht – im Gegenteil. Da die Probleme nicht lokal begrenzt sind, sondern sich in allen armen Vierteln Nairobis ähneln, wurden seit 2015 insgesamt 20 solcher Zentren im gesamten Stadtgebiet aufgebaut. Zusammen kommen die einzelnen Zentren unter dem Dach der Social Justice Centres Working Group, dem nairobiweiten Zusammenschluss der Basisorganisationen. Dabei verstehen sich die Aktivist*innen der Zentren nicht als bessere Sozialarbeiter*innen. Die meisten unter ihnen würden sich als revolutionäre Sozialist*innen bezeichnen. So findet in den Zentren, neben den alltäglichen Arbeiten, auch eine intensive politische Bildungsarbeit statt. »Wir sehen uns in unserer Arbeit nicht als Messias, sondern wollen, dass die Menschen durch politische Bildung dazu befähigt werden, selbst für ihre Interessen zu kämpfen«, sagt Faith Kasina. Bei der politischen Bildung gehe es vor allem darum, den Zusammenhang zwischen der Armut und Gewalt und der kolonialen Geschichte Kenias aufzuzeigen.
Weiße Landnahme
Das heutige Gebiet Kenias wurde seit 1895 durch die britische East-African Company kolonisiert und ausgebeutet. Als das Land 1920 als Kronland endgültig in das Empire eingegliedert werden sollte, wurden große Teile des fruchtbaren Landes der ansässigen Bevölkerung entrissen. Die Gebiete wurden als »White Highlands« deklariert und von weißen Siedler*innen in Besitz genommen.
Nach den Vorstellungen der britischen Krone sollte Kenia in einen Siedler*innenstaat nach dem Vorbild Südafrikas verwandelt werden. Die einheimische Bevölkerung wurde in Reservate umgesiedelt; ab 1923 verbot die koloniale Autorität Afrikaner*innen jeglichen Landbesitz außerhalb der Reservate. Den zahlreichen land- und damit mittellos gewordenen einheimischen Bäuer*innen blieb damit keine andere Wahl, als sich auf den Farmen der Weißen zu verdingen. Die zumeist wohlhabenden weißen Siedler*innen sicherten sich auf diese Weise einen steten Fluss an billiger Arbeitskraft. Da auch nach der Unabhängigkeit das in der Kolonialperiode geraubte Eigentum nie wirklich angetastet wurde, besitzen weiße Siedler*innen auch heute noch enorme Ländereien.
Die Enteignung der ansässigen afrikanischen Bevölkerung führte – in Ermangelung anderer Alternativen – zu einer Landflucht in die großen städtischen Zentren und setzte damit eine bis heute anhaltende Dynamik in Gang. Die ersten Armutsviertel Nairobis entstammen dieser Zeit. Als Anfang der 1950er Jahre die Kenya Land and Freedom Army unter der Führung des Unabhängigkeitskämpfers Dedan Kimathi den bewaffneten Aufstand gegen die britische Kolonialmacht probte, reagierte das Empire äußerst brutal. Über 200.000 Kenianer*innen aus »unzuverlässigen Teilen« der Gesellschaft, vor allem Angehörige der Kikuyu-Gemeinschaft, die die Massenbasis der Guerillabewegung darstellte, wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort interniert. Eines der neben Kayole ärmsten Viertel Nairobis, Mathare, geht auf ein solches Konzentrationslager der britischen Kolonialherrschaft zurück.
1963 wurde Kenia formell in die Unabhängigkeit entlassen, doch bis heute wird ein großer Teil der Wirtschaft Kenias von ausländischem Kapital dominiert. Das Land stellt zudem eine der wichtigsten Operationsbasen der USA und Großbritanniens in Ostafrika dar. So unterhalten die USA eine permanente Präsenz in Mandela Bay, nahe der somalischen Grenze. Von hier aus werden Operationen im instabilen Nachbarland koordiniert, doch auch für die Planung und Durchführung des US-Drohnenkriegs im Jemen hat der Stützpunkt in den vergangenen Jahren bereits eine wichtige Rolle gespielt.
Auch wenn die US-amerikanische Truppenpräsenz sich auf wenige hundert Soldat*innen beschränkt, so besitzt das Land mit seiner günstigen geografischen Lage eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die USA. Schon während des Kalten Kriegs galt Kenia mit seinen antikommunistischen und teils diktatorischen Regimen als sicherer Rückzugsraum und wichtiger Verbündeter auf dem Kontinent. Als in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents Unabhängigkeitskämpfe ausbrachen, stütze die kenianische Regierung in den meisten Fällen die (neo)kolonialen Regime gegen die Befreiungsbewegungen. Selbst Veteranen der sogenannten Mau-Mau-Rebellion, wie der Aufstand der Kenya Land and Freedom Army von den Kolonialbehörden genannt wurde, mussten sich im de jure unabhängigen Kenia versteckt halten und wurden Teils als »Terroristen« verfolgt.
Das Vereinigte Königreich nutzt das Land vor allem als Ausbildungsbasis für die eigenen Streitkräfte. So befinden sich permanent 300 britische Soldat*innen auf insgesamt fünf Basen im Land. Das Personal dient vor allem dazu, die Infrastruktur für die Ausbildungsmission BATUK aufrechtzuerhalten. In Rotation können so zeitgleich bis zu 10.000 britische Soldat*innen in Kenia Lehrgänge durchlaufen oder halten Manöver ab. In der Vergangenheit wurden die britischen Soldat*innen hier vor allem auf ihren Einsatz in Afghanistan vorbereitet. Doch auch die Kenianischen Verteidigungskräfte KDF, die aus den King’s African Rifles, der loyalistischen Miliz aus der Kolonialzeit, hervorgingen, sowie Einheiten der Polizei werden durch die US-amerikanischen und britischen Verbände ausgebildet.
Urbane Kriegsführung im In- und Ausland
Auch Israel unterhält enge Beziehungen mit Kenia und ist bei der Ausbildung ganz vorne mit dabei. Dabei gehen die engen israelisch-kenianischen Beziehungen sogar bis vor die israelische Staatsgründung zurück. Denn bevor Palästina sich als Siedlungsland der Wahl durchsetzen konnte, sprachen sich Teile der zionistischen Bewegung für eine Staatsgründung in den britischen Kolonien Ostafrikas aus. Eine kleine Zahl zionistischer Siedler*innen machte sich Kenia Anfang des 20. Jahrhunderts zur neuen Heimat und legte damit auch das Fundament für eine lang anhaltende und strategische Beziehung Israels und Kenias. Über lange Jahre wurde etwa die General Service Unit, eine paramilitärische Spezialeinheit der Polizei, die auf die Aufstandsbekämpfung spezialisiert ist, durch israelische Dienste ausgebildet. Auch heute noch bilden Kommandosoldat*innen der Israel Defence Forces und der Geheimdienste Israels Sicherheits- und Streitkräfte einer Vielzahl afrikanischer Nationen, unter ihnen ganz vorne mit dabei Kenia, in Bereichen wie der urbanen Kriegsführung aus.
Nach urbaner Kriegsführung sieht es auch aus, wenn man die Streifen der Polizei mit ihren Range Rovern durch die Straßen Kayoles patrouillieren sieht. Pistolen an den Gürteln der Beamt*innen vermisst man, dafür gehört die Kalashnikow zur Standardbewaffnung der Streifenpolizist*innen. »Nairobi ist eine militarisierte Stadt«, meint Faith Kasina. »Sie nutzen die Polizei als ein Werkzeug, um die Menschen niederzuhalten. Für uns ist das dasselbe System wie die afrikanischen ›Homeguards‹ während der Kolonialperiode.« Dabei sei schon die Ausbildung der Polizist*innen ein Problem. Die jungen Rekrut*innen würden, so Kasine, regelrecht zur Verachtung gegenüber den Menschen in den Armenvierteln erzogen. »Man trichtert ihnen ein, dass sie überlegen und berechtigt seien, alles mit Gewalt zu lösen«, erklärt die Aktivistin.
Nicht nur im Inland sollen die besonderen »Fähigkeiten« der kenianischen Polizei zum Einsatz kommen. Jüngst erklärte Präsident Ruto, sein Land sei bereit, die Federführung der im Oktober vergangenen Jahres durch die UN beschlossenen internationalen Polizeimission in Haiti zu übernehmen. 1.000 kenianische Polizist*innen sollen in dem von Gewalt gebeutelten Karibikstaat für »Ruhe und Ordnung« sorgen. Ob es sich bei der Entsendung der kenianischen Ordnungshüter*innen um eine »Mission der Menschlichkeit und Solidarität« handeln wird, wie das kenianische Staatsoberhaupt die Intervention jüngst betitelte, bleibt in Anbetracht des rabiaten Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung mehr als zweifelhaft.