Keine Flecken auf dem Lidl-Shirt
International In Sri Lanka und Myanmar versuchen Basisgewerkschaften und ein feministisches Kollektiv, Näher*innen in Textilfabriken zu organisieren
Von Helene Buchholz
Devika Nandani* ist 28 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und wohnt im Norden Sri Lankas. Sie sagt, sie näht für H&M und Lidl, die meisten ihrer Kolleg*innen wissen das aber gar nicht so genau. Oft läuft die Auftragsvergabe über Zwischenhändler. Und die Logos der Modemarken werden zum Teil erst am Ende der Produktionskette von einigen wenigen Arbeiter*innen eingenäht.
Ich treffe sie in einem winzigen Schulgebäude, in dem rund zehn Näherinnen sitzen. Einige sind erst 17 Jahre alt. Meist sind ganze Familien von dem niedrigen Lohn der Tochter, Schwester oder Ehefrau abhängig. 80 Prozent der Arbeiter*innen in den Textilfabriken sind Frauen – bei den Näher*innen sind es sogar mehr als 90 Prozent. Junge Frauen, denn lange können sie den Job nicht machen.
Das Schulgebäude, in dem wir uns treffen, hat das »Norwegische Volk« gestiftet, so steht es auf einem Schild am Eingang. Es besteht aus vier Wänden und einem Dach. Fenster gibt es nicht, nur Löcher mit Gittern davor. Der Fußboden ist staubig.
Die 31-jährige Dorflehrerin Malar Bhumika* ist neben ihrem Hauptjob »district manager« für das Dabindu Collective. Das Kollektiv ist eine feministische Organisation, die versucht, bessere Arbeitsbedingungen für Näher*innen in Sri Lanka zu erstreiten. Dafür setzen die Kollektivist*innen auf die Mithilfe von Locals. Malar hat sich bereit erklärt, die Frauen aus dem Ort an der Bushaltestelle abzupassen und sie zu einem Treffen mit dem Dabin du Collective in die Schule einzuladen. Sie will helfen, die Situation ihrer Nachbar*innen zu verbessern. Bei diesem Treffen darf ich dabei sein und mit den Arbeiter*innen sprechen.
Alltag einer Näherin
Devika Nandani arbeitet sechs Tage die Woche, viele ihrer Kolleginnen sogar sieben. Sie haben weder Urlaub noch Feiertage. Der Verdienst reicht kaum für das Nötigste. Devika lebt in einem Dorf in der Nordprovinz von Sri Lanka. Es ist eine ärmliche Region. Straßen gibt es keine im Dorf, die Wege sind staubig und voller Schlaglöcher. Abgemagerte Kühe und Hühner laufen zwischen streunenden Hunden und spielenden Kindern umher.
In diesem nördlichen Teil Sri Lankas leben hauptsächlich Tamil*innen, eine Minderheit, gegen die der Staat rund 30 Jahre lang Bürgerkrieg geführt hat. Seit zehn Jahren herrscht Frieden, aber noch immer sind Polizei und Militär im Alltag präsent. Mit zahlreichen Straßensperren etwa, die offiziell den Drogenhandel eindämmen sollen. Erst seit wenigen Jahren etablieren sich auch in dieser Region die Nähfabriken diverser westlicher Textilhersteller, unter anderem von Victoria’s Secret, Lidl und H&M.
Trinken ist während der Arbeit verboten – damit die Kleidung keine Flecken bekommt.
Devikas Tag beginnt um vier Uhr. Seit ihr Mann sie verlassen hat, ist sie allein für die Kinder und den Haushalt verantwortlich. Sie kocht noch, bevor sie die Kinder weckt und gegen sechs Uhr zu ihrer Mutter bringt. Dann nimmt sie den Shuttlebus zu der Fabrik, in der sie arbeitet. Eine Stunde dauert die Fahrt, neun Stunden geht ihre Schicht. Wenn Auslieferungszeit ist, sind ihre Überstunden unbegrenzt. Manchmal endet die Arbeit erst mitten in der Nacht. Fast alle Näherinnen sind auf solche Überstunden angewiesen, denn der reguläre Lohn reicht nicht zum Leben. Devikas ganze Familie ist von ihrem Lohn abhängig. Ihr Vater ist krank und auf finanzielle Hilfe angewiesen. Auch Devika hat Angst, Nierenprobleme zu bekommen. Denn Trinken ist während der Arbeit verboten – damit die Kleidung keine Flecken bekommt.
Wenn Devika nach Hause kommt, kocht sie, wäscht Wäsche und kümmert sich um den Haushalt. Im Laufe des Abends kommen die Kinder von ihrer Mutter. Gemeinsame Zeit haben sie nur beim Essen, danach gehen die Kinder ins Bett. Wenn der Haushalt fertig ist, kann auch Devika ein paar Stunden schlafen – bis der Wecker um vier Uhr klingelt und alles von vorne beginnt. Sechs Tage die Woche, ohne Feiertage, ohne Urlaub.
Strategien der Textilindustrie
Fabriken wie die, in der Devika Nandani arbeitet, gibt es viele in Sri Lanka. Vor allem in Gegenden, wo die Menschen besonders arm sind. Das hat System: Aus Angst, den dringend benötigten Job zu verlieren, trauen sich viele Arbeiter*innen in den armen Landesteilen nicht, gegen die schlechten Arbeitsbedingungen aufzubegehren. Nur wenigen wissen über ihre Rechte Bescheid.
Einige Fabriken siedeln sich auch im Hochland in der Mitte der Insel an, außerhalb der tamilischen Gebiete im Norden. Die Transportwege sind zwar schlecht, für die Textilunternehmen ergeben sich daraus aber auch Vorteile. Für kritische Organisationen wie das Dabindu Collective sind diese Fabriken schwer erreichbar. Denn sie haben ein begrenztes Budget, und die Fabriken liegen schwer zugänglich in den Bergen. Die Einhaltung von Arbeitsstandards kann hier kaum effektiv überwacht werden. So ist es schon vorgekommen, dass die Arbeiter*innen in diesen Fabriken 24 Stunden eingeschlossen wurden, um durchgängig zu produzieren – das berichtet Chamila Thushari vom Dabindu Collective. Einige Näher*innen seien von den Stühlen gefallen, weil sie bei der Arbeit eingeschlafen seien. Irgendwann hat die Polizei die Tore wieder geöffnet.
Viele dieser Fabriken haben wohlklingende Namen, wie beispielsweise Triple Safety. Das Unternehmen beschreibt sich selbst als ein »in hohem Maße ethisch und sozial verantwortlicher Textilhersteller und Lieferant«. Hinter der glatten Fassade aber kommt oft eine ganz andere Welt zum Vorschein: Hitze, stundenlanges Stehen, kein Trinken und fehlende Schutzkleidung setzen den Menschen zu. Häufig kommt es auch zu sexualisierter Gewalt gegen die Arbeiterinnen. Da die Frauen innerhalb bestimmter Zeitabschnitte, zum Teil sogar stündlich eine bestimmte Stückzahl produzieren müssen, bevor sie gehen dürfen, sind sie darauf angewiesen, dass ihre Nähmaschinen schnell repariert werden, wenn sie mal kaputtgehen. Das versetzt sie in Abhängigkeit zu den Mechanikern, die die Situation oft ausnutzen und die Frauen sexuell belästigen.
Die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Näher*innen verstoßen auch in Sri Lanka oftmals gegen geltendes Recht, meist wissen die Betroffenen aber gar nicht, wen sie zur Rechenschaft ziehen sollen. Das Netz aus Herstellern, Lieferanten, Zwischenhändlern und Auftraggebern ist undurchsichtig. Recherchen sind aufwendig. Das Dabindu Collective versucht sich seit einigen Jahren dennoch in diesem Feld aufzustellen und die Näher*innen zu unterstützen. Erst seit einem Monat ist die NGO auch eine anerkannte Gewerkschaft. Die fünf Mitarbeiterinnen versuchen, die Frauen zu organisieren und zu ermutigen, gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Derzeit konzentrieren sie sich darauf, die rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Die Frauen in einem weiteren Schritt für direkte Aktionen zu gewinnen, sei noch schwierig, sagt Chamila Thushari. Sie stehen unter hohem Druck und haben zu wenig Zeit. Vielleicht auch zu wenig positive Vorbilder.
Vorbild Myanmar
In Myanmar dagegen sei es relativ einfach, Frauen aus Nähfabriken für Streiks zu gewinnen, sagt Ya Tha* vom Solidarity Center am Rande einer Gewerkschaftskonferenz Ende Februar in Colombo. Das Solidarity Center gehört zu einem US-amerikanischen und kanadischen Gewerkschaftsdachverband und unterstützt den Aufbau von Basisgewerkschaften vor Ort. Denn bislang gibt es in Myanmar keine große, übergreifende Gewerkschaft. Dennoch organisieren sich hier seit einiger Zeit vermehrt Näher*innen und bauen in einzelnen Nähfabriken gewerkschaftliche Strukturen auf. Diese fabrikbezogenen Gewerkschaften schließen sich in der Federation of Garment Workers’ Myanmar (FGWM) zusammen. Mit Streiks haben hier viele gute Erfahrungen gemacht. Moe Sandar Myint (FGWM) berichtet, dass sie einmal für die Kündigung eines Mechanikers gekämpft haben, der eine Frau sexuell belästigt hat. Eine Woche wurde gestreikt, danach war der Mechaniker weg. Die Fabrik hatte danach eine neue Gewerkschaft, und ihr gelang es, weitere Forderungen zu formulieren und durchzusetzen.
Die Gewerkschaftsbewegung in Myanmar ist relativ jung, denn bis 2010 herrschte in dem Land eine Militärdiktatur. Erst seitdem können sich gewerkschaftliche Strukturen hier überhaupt etablieren. Insbesondere Basisgewerkschaften scheinen mit ihrem Ansatz erfolgreich zu sein. Nun gilt es, ihre Erfahrungen nicht nur innerhalb von Myanmar zu streuen, sondern international für Solidarität und eine stabile Vernetzung zu sorgen. Denn es besteht immer die Gefahr, dass ein Fabrikbesitzer seine Niederlassung einfach schließt, wenn die Belegschaft aus seiner Sicht zu viel fordert, und die Produktion beispielsweise nach Bangladesch verlagert, wo die Armut und damit die Abhängigkeit der Menschen von ihrer Arbeit oftmals noch größer sind.
Grenzübergreifende Vernetzung
Die Notwendigkeit einer grenzübergreifenden Vernetzung von Textilarbeiter*innen war auch Anlass für die internationale Konferenz Ende Februar in Colombo, der inoffiziellen Hauptstadt von Sri Lanka. Maßgeblich organisiert haben sie das Dabindu Collective und die deutsche linksradikale Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen Union (FAU). Zwei Tage lang haben sich rund 30 Teilnehmer*innen aus fünf verschiedenen Ländern darüber ausgetauscht, wie eine internationale Vernetzung aussehen kann und wie sich auch westliche Gewerkschaften sinnvoll einbringen können. Aus Europa hat neben der FAU auch die Confederación Nacional del Trabajo (CNT) aus Spanien teilgenommen und mit ihnen ihr internationaler Dachverband Internationale Konföderation der Arbeiter*innen (IKA).
Alle Teilnehmer*innen waren sich darin einig, dass der Druck in erster Linie von den Arbeiter*innen selbst ausgehen muss. Aber – so beschreiben es sowohl Gewerkschaften aus Sri Lanka als auch aus Myanmar: Auch die westlichen Modemarken, die um ihr sauberes Image bemüht sind, reagieren empfindlich auf öffentlichkeitswirksamen Protest gegen die Arbeitsbedingungen, unter denen ihre Produkte hergestellt werden. Selbst kleine, symbolische Aktionen vor Geschäften von H&M oder Victoria’s Secret können dazu führen, dass sich etwas bewegt. Deshalb sollten Streiks in den Nähfabriken vor Ort im besten Fall zeitnah durch Solidaritätsaktionen in anderen Ländern unterstützt werden. Das erhöht die Chancen auf einen Erfolg der Näher*innen. Dafür wurden kurze Kommunikationswege festgelegt, Banner für Fotoaktionen ausgetauscht und Konzepte für die weitere Zusammenarbeit erstellt. Am 1. Mai soll es bereits eine erste gemeinsame Aktion geben: Unter dem Motto »One World One Struggle« wollen unter anderem die Teilnehmer*innen der Konferenz aus Bangladesch, Sri Lanka, Myanmar und Deutschland mit dem gleichen Banner auf die Straße gehen und sich so miteinander solidarisch erklären
Das langfristige Ziel: Mitarbeiter*innen von H&M, Lidl & Co in Europa solidarisieren sich bei ihren Arbeitskämpfen mit den Produzent*innen in Asien und Südamerika und umgekehrt, Konsument*innen erhöhen den Druck auf die Marken, und die Arbeiter*innen in den Nähfabriken sind alle gleichermaßen nicht länger dazu bereit, unter den aktuellen Bedingungen Kleidung zu produzieren. Ein Anfang ist gemacht.
* Namen von der Redaktion geändert