Kein Zugeständnis und erst recht noch kein Sieg
Frankreichs Regierung hält weiter am Kern ihrer Rentenpläne fest - die Gewerkschaftsbewegung ist indes gespalten
Von Bernard Schmid
Gut 40 Tage, seit dem 5. Dezember 2019, halten in Frankreich die massenhaften Streiks gegen die Pläne der Regierung zu einer erneuten Rentenreform an (mit Stand vom Redaktionsschluss dieser Ausgabe). Der Ausstand ist damit einer der längsten in der französischen Geschichte. Die Regierungspläne knüpfen an die Renten»reformen« von 1993 (weitgehend widerstandslos durchgesetzt), 1995 (verhindert), 2003, 2007, 2010 und 2013/ 14 (nach Protesten durchgesetzt) an.
Ein am 11. Januar von der Regierung einseitig verkündeter »Kompromiss« löste zwar ein großes nationales und internationales Medienecho aus – an der Proteststimmung in weiten Teilen der Bevölkerung änderte dieses politische Manöver zunächst allerdings wenig: Die Streiks bei den Transportbetrieben SNCF und RATP wurden durch Teile des Personals fortgesetzt, und es wurde weiterhin gegen die Regierung demonstriert.
Teile der französischen Gewerkschaften zeigten sich aber auch erfreut über das vermeintliche Zugeständnis der Regierung. So gelang es Emmanuel Macron und seinem Premierminister Edouard Philippe doch zumindest, einen Keil zwischen Gewerkschaften unterschiedlicher Orientierung zu treiben.
Gewerkschaften uneins
»Sieg!« (Victoire!) rief es einem bereits am 11. Januar aus einem Kommuniqué der CFDT entgegen, dem zweitstärksten Gewerkschaftsdachverband Frankreichs. Das Papier kursierte in den sozialen Medien, auch Flugblätter wurden eilig gedruckt. Dies war durchaus voraussehbar: Vor allem der Apparat der CFDT lässt sich am besten als rechtssozialdemokratisch beschreiben.
Ähnlich wie die CFDT positionierte sich auch die UNSA, ein sich als »unpolitisch« verstehender Gewerkschaftszusammenschluss, dessen Positionen in der Praxis oftmals denen der CFDT nahe kommen. Bislang ist die UNSA nur in einigen Branchen als tariffähiger Verband anerkannt. Um nach französischem Recht tariffähig (représentatif) zu sein, muss ein Verband u.a. Wahlergebnisse in Höhe von mindestens acht Prozent auf Branchen- oder zehn Prozent auf Unternehmensebene vorweisen können. Durch ihre Profilierung in der derzeitigen Auseinandersetzung steigt für die UNSA die Chance, dies bei den nächsten Gewerkschaftswahlen zu erreichen, sowie die Möglichkeit, dass die Regierung ihr bei der Bewertung der übrigen Kriterien Entgegenkommen zeigt.
Aber was war eigentlich der Inhalt des Kompromisses, den Premier Edouard Philippe an jenem 11. Januar verkündet hatte und den CFDT und UNSA so begeistert aufgriffen? Wie zuvor bereits angekündigt, gab Philippe bekannt, die Einführung des sogenannten âge pivot oder âge d’équilibre (Scharnier- bzw. Gleichgewichtsalter) vorläufig aus den Reformplänen streichen zu wollen. So jedenfalls stellten es die bürgerlichen Leitmedien dar, unmittelbar nachdem bekannt geworden war, Philippe habe an die Vorstände der wichtigsten Gewerkschaftsdachverbände einen Brief geschickt. Der Inhalt dieses Briefes sei an diese Medien durchgesickert.
Die (Teil-)Rücknahme des âge pivot aus dem Reformpaket ist allerdings kein wirkliches Zugeständnis, denn die Regelung war zu keinem Zeitpunkt der Kern der Reform. Deren restliche Elemente sollen den Absichten der Regierungsspitze zufolge am 22. Januar im Kabinett beschlossen und ab Ende Februar ins Parlament eingebracht werden. Die Verabschiedung soll in erster Lesung im März und in letzter Lesung im Juni erfolgen.
Das âge pivot
Die Maßnahme des âge pivot, des Scharnieralters, betrifft ausschließlich jene Lohnabhängigen, die eine »volle Berufslaufbahn« beisammen haben (für die Jahrgänge 1948 und älter sind dafür mindestens 41,5 Beitragsjahre erforderlich, für die Jahrgänge 1973 und jünger steigt diese Zahl schrittweise auf 43 Beitragsjahre – ein Erbe der vorangegangenen Rentenreform von 2014 unter François Hollande), jedoch das âge pivot von 64 Jahren noch nicht erreicht haben. Sie werden mit finanziellen Strafen belegt, sollten sie dieses Eintrittsalter unterschreiten und etwa mit 62 in Rente gehen, was das gesetzliche Rentenmindestalter ist, das auf dem Papier unangetastet bleiben soll. Die geplante Unterscheidung zwischen gesetzlich fixiertem Rentenmindestalter und dem âge pivot, das nicht gesetzlich festgelegt ist, sondern – je nach »finanziellem Gleichgewicht« der Rentenkassen – künftig durch die Regierung nachjustiert werden soll, hat den praktischen Nebeneffekt, dass die Anhebung eben jenes Eintrittsalters keiner weiteren Gesetzesänderung bedürfte. Nur vorläufig sollte das erste Gleichgewichtsalter ab 2022 mit progressiver Anhebung von 62 auf 64 Jahre bis 2027 festgelegt werden.
Das ist hässlich für die Betroffenen und bekämpfenswert. Es betrifft jedoch zugleich nur eine begrenzte, und künftig wohl immer kleinere Gruppe von Lohnabhängigen überhaupt. Denn in Anbetracht heute existierender Ausbildungs-, Schul- und Studienzeiten, Perioden von Prekarität und »lückenhaften Erwerbsbiografien« werden immer weniger Lohnabhängige vor dem Alter von 64 Jahren bereits 43 volle Beitragsjahre zusammen haben. Deswegen ist die Maßnahme zwar ein abzulehnender Unterpunkt der Rentenpläne, jedoch nicht die Einzelmaßnahme, die den größten Betroffenenkreis unter den Lohnabhängigen aufweist. Überdies wurde sie gar nicht vollends zurückgezogen. Vielmehr hat Regierungschef Edouard Philippe laut seinem Schreiben vom 11. Januar nicht grundsätzlich auf ein höheres Scharnieralter verzichtet, sondern diese Maßnahme lediglich für die Jahre 2022 bis 2027 aufgeschoben. Das bedeutet, dass das zu erwartende höhere âge pivot nach dem Jahr 2027 keineswegs aus den Regierungsplänen herausgenommen, sondern im Gegenteil auch nach den jüngsten »Zugeständnissen« in ihnen festgeschrieben wurde. Philippes Brief sieht sogar ausdrücklich vor, dass ab 2027 durch ordonnances (Exekutivverordnungen mit Gesetzeskraft, also am Parlament vorbei), entsprechende Bestimmungen erlassen werden können.
Die Pläne der Regierung bleiben im Kern bestehen
Den harten Kern der Regierungspläne bildet aber ohnehin die Absenkung so gut wie aller künftiger Renten durch die neuen Berechnungsgrundlagen, beruhend auf dem Durchschnittswert aller 43 Beitragsjahre statt nur der 25 finanziell besten Berufsjahre in der Privatwirtschaft bzw. der letzten sechs Monate der Laufbahn für die öffentlich Bediensteten. Die Renten können für alle Lohnabhängigen einschließlich der Staatsbediensteten (mit Ausnahme der laut jüngsten Ankündigungen verschonten Gruppen: Militärs, Teile der Polizei, Piloten, Operntänzerinnen …) damit nur niedriger ausfallen. Denn ihnen soll es künftig unmöglich sein, die finanziell schwachen Jahre herauszurechnen. Dies ist des Pudels wahrer Kern.
Dennoch ruft die CFDT nun lauthals, man habe »gewonnen«, um so jegliche weitere Opposition gegen die »Reform« abzublasen. Und am 14. Januar höhnte UNSA-Chef Laurent Escur öffentlich über andere Gewerkschafter*innen sowie über politische Stützen der derzeitigen Sozialprotestbewegung (wie immer man deren Positionierung auch ansonsten bewerten mag): »Es ist nicht Jean-Luc Mélenchon, der den Kühlschrank am Monatsende auffüllt!«, in Anspielung auf die Streikunterstützung des etablierten Linkspolitikers. Die CGT sowie FO (drittstärkster Dachverband nach CGT und CFDT) und Mélenchon hätten die streikenden Lohnabhängigen manipuliert, ihnen falsche Hoffnungen gemacht und sie »in die Sackgasse geführt«.
Unterdessen brechen die Widersprüche innerhalb der UNSA auf. Diese Gewerkschaftsvereinigung bildet derzeit von ihrem Stimmenanteil her die zweitstärkste Einzelgewerkschaft bei der Eisenbahngesellschaft SNCF, wo sie jedoch in den streikenden Teilen des Personals relativ schwach und erheblich stärker unter Büroangestellten und Führungskräften verankert ist. Außerdem ist sie die stärkste Einzelgewerkschaft bei den Pariser Métro-, RER- und Bus-Betrieben, wo die UNSA auch stärker am Streik teilnimmt als bei der SNCF. Während die UNSA bei der SNCF auf Linie ihrer Dachorganisation ist, erklärte die UNSA der Pariser Verkehrsbetriebe ihrerseits, diese Positionierung abzulehnen und ihre Streikbeteiligung fortzusetzen.