Kein identitäres Streicheln der ostdeutschen Seele
In Magdeburg diskutierten 130 Linke auf Einladung des Sozialkombinats Ost über Politikansätze und Klassenbewusstsein in den Teilen der Republik, die einst DDR waren
Von Sebastian Bähr
Stigma« – »Heeme« – »Utopie und Enttäuschung«, »Normabweichung«, »Das Leben unserer Eltern«, »Freiraum und Angstraum« – das sind nur einige der Kartenaufschriften, die an einer Pinnwand im Magdeburger Kulturzentrum Feuerwache zu lesen sind. Die Aufgabe im Workshop der Soziologieprofessorin Stefanie Hürtgen lautete, das, was man selbst mit dem Osten verbindet, aufzuschreiben. Zum gegenseitigen Kennenlernen und um zu schauen, was für Themen die Leute mitbringen.
Der Anlass: Die Initiative Sozialkombinat Ost hat Ende Mai zur eintägigen »Ostdeutschland-Konferenz« eingeladen. Bereits drei Wochen nach Anmeldestart waren die Plätze in dem denkmalgeschützten Gebäude ausgebucht. Über den Osten gibt es offensichtlich Gesprächsbedarf, nicht nur in Magdeburg: Etwa sechs Monate zuvor hatte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, in Leipzig zu einer Konferenz eingeladen, um gegenüber der bundespolitischen Elite den »Aufbruch Ost«, die erfolgreiche Ansiedlung der »Global Player«, »die Abkehr von Putins Öl und Gas« und den »Erfahrungsschatz mit Veränderungen« zu betonen. In etwa vier Monaten finden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg statt, bei denen viele einen weiteren Rechtsruck befürchten. Für ein paar Monate leuchten mal wieder die Scheinwerfer der bundesweiten Öffentlichkeit.
Zur Konferenz in Magdeburg kommen diejenigen, die gegen die Rechten ankämpfen und für einen solidarischen Osten streiten: kritische Forscher*innen, Gewerkschafter*innen, linke Aktivist*innen, viele von ihnen sind während oder nach der Wende geboren. »Unsere verschiedenen Kämpfe hier finden unter spezifischen Bedingungen statt – diese wollen wir untersuchen, ohne die Kämpfe dabei aus ihrem größeren Kontext herauszulösen«, benennt Mathias Grabow vom Sozialkombinat Ost gegenüber ak eines der Ziele der Zusammenkunft.
Konkrete Erfahrungen sammelt die Initiative auch selbst: In Magdeburg setzt sie sich etwa für einen Sozialfonds ein, zum Nikolaus verteilten Aktive Süßigkeiten an Kinder aus Familien mit wenig Geld. Auch die Ansiedlung des US-Chipherstellers Intel in der Stadt wird kritisch begleitet. (ak 690) »Ich muss niemandem im Osten den globalen Kapitalismus erklären – die Leute hier haben den durchgespielt und am eigenen Leib die Auswirkungen der kapitalistischen Transformation gespürt«, sagt Grabow. Auch bei der Ansiedlung von Intel wüssten viele aufgrund ihrer Osterfahrung, dass die Versprechen der Politik oft nicht eingehalten werden.
Den materiellen Kern erforschen
Der Umgang mit der AfD ist natürlich auch ein Thema, steht aber nicht im Fokus der Konferenz. »Die Demokratie stirbt im Osten nicht am Wahltag. Die massive rechte Stimmung kennen wir schon seit langem«, sagt Grabow. »Wir wollen uns viel mehr auf die ökonomischen Verhältnisse in Ostdeutschland – den materiellen Kern – fokussieren, da dort in der Debatte weniger passiert.« Kein identitäres Streicheln der ostdeutschen Seele, sondern Auseinandersetzung mit Armut, schlechten Arbeitsbedingungen und den Eigentumsverhältnissen ist der eigene Anspruch. Mehr Klassenkampf könne dazu beitragen, autoritäres Denken zu schwächen. Vorbild ist etwa die Kampagne »Niedrig-Lohnmauer einreißen!« der Gewerkschaft NGG. »Dass dies nicht das alleinige Mittel zum Zurückdrängen der AfD ist, sollte klar sein«, erklärt Grabow.
Auf der Konferenz spricht dann etwa der Humangeograf Dominik Intelmann über die strukturelle Abhängigkeit der ostdeutschen Wirtschaft. Er beschreibt, wie verlängerte Werkbänke und Filialen westdeutscher beziehungsweise internationaler Unternehmen die hiesige Ökonomie dominieren und die Gewinne an die anderswo lebenden Eigentümer*innen abfließen. Der Soziologe Daniel Kubiak zeigt auf, wie die ostdeutsche Bevölkerung vergleichsweise älter, ärmer, ländlicher, rechter und stärker vom Klimawandel betroffen ist; der Soziologieprofessor Klaus Dörre stellt ein paar Räume weiter Thesen für eine linke Utopie in Ostdeutschland vor.
Im Cafe- und Tresenbereich findet man derweil eine Wand voller DDR-Blechschilder. Darunter Bleche vom Volkseigenen Betrieb (VEB) Getränkekombinat Magdeburg und vom VEB Brauhaus Zerbst. In den oberen Etagen des Kulturzentrums können die Konferenzbesucher*innen eine begleitende Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die Privatisierung und Liquidierung der rund 9.000 VEBs im Osten nach der Wende anhand von exemplarischen Einzelschicksalen betrachten. Eine Frage, die in den Gesprächen tagsüber immer wieder aufkommt: Wie kann eine linke Ostidentität eigentlich aussehen, die zwar die Geschichte und ihre Folgen im Bewusstsein hat, aber nicht an den räumlichen wie gedanklichen Grenzen der DDR halt macht?
Die Angleichung an das kapitalistische Zentrum in Westdeutschland darf nicht das Ziel sein.
Stefanie Hürtgen
»Nicht die Angleichung an das kapitalistische Zentrum in Westdeutschland darf das Ziel sein, sondern transnationale Werte wie Würde, Respekt und demokratisch gestaltbare Arbeitsbedingungen«, schlägt Stefanie Hürtgen in ihrem Workshop vor. Die Soziologieprofessorin plädiert für einen Perspektivwechsel: Die Region Ostdeutschland sei demnach nicht einzigartig, sondern mit anderen »kapitalistischen Peripherien« vergleichbar, etwa mit Nordfrankreich, Griechenland oder Teilen des Globalen Südens. Sie alle würden mit schlechten Arbeitsbedingungen und geringen Löhnen als »Standortvorteil« um internationales Kapital werben. Zwar gebe es immer wieder auch »Kathedralen in der Wüste«, also etwa moderne Fertigungszentren und bessere Stadtviertel für gehobene Beschäftigte – diese »Kathedralen« seien aber strukturell bedingt von Prekarität und Armut umgeben. Man müsse sich mit den Menschen in den anderen Peripherien daher solidarisieren: »Ich habe Sorge, dass die Ostdebatte sonst in dünkelhafter Abgrenzung und Borniertheit endet«, so Hürtgen.
Die Soziologin fordert ostdeutsche Linke auf, sich in eine rebellische DDR-Tradition zu stellen und diese Haltung nun gegen einen autoritären Neoliberalismus zu behaupten. Dieser vollziehe schließlich die Spaltung in Peripherie und Zentrum auf der ganzen Welt immer wieder aufs Neue. Diskussion im Workshopraum: »Stimmt ja, aber damit komme ich in meiner praktischen politischen Arbeit hier nicht so weit«, sagt ein Teilnehmer. Fehlende Organisierungsangebote und lokale Handlungsmöglichkeiten machen es schwierig, sich das, was Hürtgen vorschlägt in der Praxis vorzustellen. Auf der Spotify-Playlist, die extra für die Konferenz erstellt wurde, ist das Zusammenbringen von ostdeutschen und internationalen Stimmen einfacher. Dort finden sich etwa der Rapper Kummer und die Band Keimzeit, aber auch Spice Girls und Rihanna.
Auch Streikende können rechts sein
Ganz praktisch blickt der ver.di-Gewerkschaftssekretär Stefan Bornost auf die Arbeitskämpfe im Osten. Er ist für die Abfallwirtschaft im Landesbezirk Berlin-Brandenburg zuständig und begleitet die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen dort seit mehreren Jahren. Lange Zeit habe die Gewerkschaft bei den Beschäftigten in der brandenburgischen Abfallwirtschaft einen schweren Stand gehabt, berichtet er. Widerständiges Verhalten wurde hart bestraft, Resignation war verbreitet. »Die Leute wissen, dass sie die herrschende Klasse verarscht – aber sie haben die völlige Hoffnungslosigkeit, daran etwas zu ändern.« Die Stimmung in den Betrieben habe sich mittlerweile jedoch radikal verändert: »Die Arbeitsmarktsituation lässt das Selbstbewusstsein der Beschäftigten ansteigen und die Inflation ihre Militanz«, sagt Bornost. Zahlreiche neue ver.di-Eintritte, kämpferische Kampagnen unter Einbeziehung der Mitglieder und erfolgreiche Abschlüsse der Tarifverhandlungen zeugten davon.
Dennoch seien die Herausforderungen groß: Ein erheblicher Teil der überwiegend männlichen Müllwerker vertritt rechte Positionen, so Bornost. Neumitglieder könnten nicht immer etwas mit den gesellschaftlichen Werten der Gewerkschaft anfangen. »Was wir in der Breite gewinnen, verlieren wir in der Tiefe.« Diskussionen über solidarische Grundsätze und der Aufbau von aktiven Betriebskernen, die diese Haltung auch tragen, würden Zeit benötigen. »Die Teilnahme an Arbeitskämpfen sorgt nicht automatisch für weniger AfD-Stimmen. Aber wenn man uns als Gewerkschaft vertraut, können wir mit den Menschen ins Gespräch kommen und Erfahrungen neu interpretieren«, sagt der Gewerkschaftssekretär. Wenn sich tatkräftige Gewerkschaftsaktive als gefestigte Neonazis herausstellen, müsse man sich aber konsequent trennen. Der seltsame Widerspruch dieser Tage im Osten – verhältnismäßig starke gewerkschaftliche Kämpfe und zugleich ein gesellschaftspolitischer Rechtsruck in weiten Teilen der Gesellschaft – stelle einen vor Herausforderungen, resümiert Bornost.
Auf den Zusammenhang zwischen Arbeitskämpfen und politischen Einstellungen geht auf dem Abschlusspodium auch Andre Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Else-Frenkel-Brunswick-Institut für Demokratieforschung der Universität Leipzig, ein. Aktiven im Osten empfiehlt er, das Thema ernst zu nehmen, denn betriebliche Kämpfe seien für die Menschen im Alltag sehr relevant, und der Betrieb als Ort lege bereits eine gewisse Kollektivität im Handeln nahe.
Schmidt berichtet aus seiner Forschung, welche Wirkung die erste Beteiligung an einer Arbeitsniederlegung auf Beschäftige haben kann: »Ein Streik bricht mit den bisher gemachten Erfahrungen von Fremdbestimmung, Missachtung und Ohnmacht.« Wer sich im Arbeitsalltag als handlungsfähig erlebe, sei seltener extrem rechts eingestellt und habe seltener das Bedürfnis, andere abzuwerten. »Tarifpolitik ersetzt aber keine politische Auseinandersetzung«, mahnt der Forscher. Arbeitskämpfe würden aktuell immer an die Grenze stoßen, dass es in der Politik keine starken linken Organisationen gibt, die solidarische Deutungen verbreiten und Themen sichtbar machen. Für Schmidt gehören demnach zu den drängendsten Aufgaben einer gesellschaftlichen Linken in Ostdeutschland, die sozialen Kämpfe, die im Alltag stattfinden, zu politisieren – und die AfD zurückzudrängen.
Doch wo ansetzen? Die antimilitaristische Bewegung und die Klimagerechtigkeitsbewegung werden in der Abschlussdiskussion als potenzielle Verbündete genannt. Es kommt der Vorschlag auf, Sozialforen durch breite, linke Bündnisse zu organisieren. Viel weiter kommt die Debatte an diesem Samstag aber nicht. »Vernetzung sollte nicht nur Selbstzweck sein, sondern der Findung gemeinsamer Aufgaben und Ziele dienen, die über reine Abwehrkämpfe hinaus gehen – eine gemeinsame Vision könnte man sagen«, so Mathias Grabow vom Sozialkombinat Ost. Dafür sollte die Konferenz Impulse geben. Die dort zusammengekommenen Menschen ahnen, dass positive Veränderungen im Osten Zeit und Pragmatismus brauchen. Ein paar Minuten Fußweg von der Feuerwache entfernt hängen derweil Plakate verschiedener Parteien für die anstehenden EU-Wahlen. Auf dem der AfD steht: »Ihr hattet Jahrzehnte Zeit!«