Kalte Wut macht keinen heißen Herbst
Der Band »KlassenLos« gibt Antworten auf das Scheitern linker Krisenproteste
Von Hannah Eberle
Als die Inflation nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im vergangenen Jahr hierzulande in lange nicht gekannte Dimensionen stieg, versuchten auch linke Kräfte, den Protesten gegen die Teuerung ihren Stempel aufzudrücken. Doch der heiße Herbst blieb aus. Warum – das wird in Beiträgen des Sammelbandes »KlassenLos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten« untersucht. Die Artikel geben außerdem Einblicke in 30 Jahre linker Kämpfe gegen den Abbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit und gegen Ausschließung aufgrund von Armut.
Los geht es mit guten Überblicken zur Einführung von Hartz IV (Anne Seeck) und den Veränderungen durch das neue Bürgergeld (Harald Rein). Hervorragend gelingt es beiden Autor*innen herauszuarbeiten, dass Hartz IV in den vergangenen Jahrzehnten eine »sozialstaatliche Verarmungspolitik« und keine sozialstaatliche Absicherungspolitik war. Es ging und geht darum, einen Niedriglohnsektor mit einer abschreckenden Wirkung zu schaffen. Auf diese Weise konnten die Spaltung der Lohnabhängigen vorangetrieben und Menschen verwaltet werden, die zeitweilig dem Kapital zur Verfügung stehen, um sie dann wieder vom Amt abhängig zu machen.
Das Ergebnis sieht so aus: »In der Folge zwangen mich Krankenkasse und Jobcenter, mich in Therapie zu begeben, um meine ›Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen‹. Es ging also gar nicht um mich, und darum was mich krank machte. Es ging um andere. Ich durfte nicht ›auf Kosten anderer‹ leben«. MJ erzählt wie auch Franziska seine Geschichte im Sammelband. Kennengelernt haben sie sich im Rahmen der Kampagne #IchBinArmutsbetroffen. Die Kampagne ermöglicht die Bezugnahme unter Armutsbetroffenen, die heute kaum mehr möglich ist, was im Beitrag von Oskar, Erwerbslosenaktivist aus Köln, deutlich wird. Die Verarmungsstrategie ist eingebettet in eine intendierte Eigenverantwortlichkeit; konsumfreie Räume oder Treffpunkte sind rar.
Teil der Verarmungspolitik durch Hartz IV ist die diskursive Begleitung, die den »breit vorhandenen Glauben an die prinzipielle ›Leistungsgerechtigkeit‹«, so die Journalistin Mag Wompel, oder das Festhalten an »Lohnarbeit als alternativlos erscheinende Existenzbedingung«, so der Erwerbslosenaktivist Harald Rein, fest in den Köpfen verankert. Und hier muss die Antwort auf die Frage, warum die linken Proteste im vergangenen Herbst scheiterten, gesucht werden. So führt Wompel an, dass jeder Protest bei einer moralischen Empörung stehen bleibt, wenn keine ernsthafte Perspektive entwickelt wird, wie diese Ideologie der Leistungsgerechtigkeit gebrochen werden kann. Eine solche Perspektive muss sich folgerichtig mit jenem Staat auseinandersetzen, der für die Armutspolitik verantwortlich ist. An ihn Forderungen zu stellen und sich etwas davon zu versprechen, erscheint allerdings absurd.
Ratlosigkeit und reaktive Proteste
Harald Rein bezeichnet die Versuche, letztes Jahr Krisenproteste zu initiieren, als »ratlos und reaktiv«. Es sei notwendig, »emanzipatorische Visionen« abseits eines »besseren Sozialstaats« zu diskutieren, da dieser seit jeher den Klassenkonflikt geschwächt habe und heute die Verarmung noch verstärke. Rein kritisiert zudem einen in der Linken verbreiteten »Handlungszwang«. Er beobachtet einen »Aktivierungsbezug vieler linker/linksradikaler Gruppen«, die schnell und dauernd handeln wollen, aber langfristige Ziele offenbar nur noch als »Belastung« sehen. Schnelle Proteste gegen die Inflation könnten ihm zufolge nicht erfolgreich sein, weil sie den Kontext jahrzehntelang betriebener Verarmungspolitik nicht beachten. Ausdruck dessen: Das Bürgergeld war in keinem der vielen Forderungskataloge linker Krisenproteste Thema.
Eine zweite prominente Diskussionslinie im Buch knüpft an diesen diagnostizierten »Handlungszwang« an. Einige der Autor*innen kritisieren, dass Linke die Proteste zuvörderst aus der Sorge initiieren wollten, weil die Rechte wieder schneller sei. Diese Kritik ist mit Argumenten verbunden, die mit Vorsicht zu lesen sind.
So ist Marcus Staiger, der im Bündnis »Heizung, Brot und Frieden« aktiv ist, der Ansicht, dass die Sanktionspolitik der Bundesregierung zur Inflation führt. Sicher nicht falsch, aber verkürzt gelesen, kann diese Ansicht jenen Vorschub leisten, die à la Sahra Wagenknecht an eine nationalstaatliche Sozialpolitik anknüpfen wollen. Auch in anderen Beiträgen wird der Krieg in der Ukraine als Problem benannt, ohne jedoch analytisch zu klären, wie das Verhältnis von Krieg, Sanktionen und Energieknappheit ist. Staiger plädiert schließlich dafür, dass die Linke sich aus der Kriegsdiskussion heraushalten solle, weil man in den Berechnungen der Mächtigen ohnehin nicht vorkomme und wir »deren Fragen« daher auch nicht bearbeiten müssen. Damit orientiert er auf eine Linke, die letztlich nur stumpf gegen »die da oben« wettern kann.
Ähnlich argumentieren auch die Aktivist*innen der »offenen Versammlung«, eine Neugründung aus dem antiautoritären Spektrum Berlin. Sie wollen keine Themen der »herrschenden Klasse« behandeln und zählen dazu unter anderem geopolitische Fragestellungen. Stattdessen schlagen sie vor, »zu kämpfen«, anstatt »zu fordern«. Doch was das heißt, bleibt unbestimmt. Die Beiträge im Sammelband widersprechen sich: Einerseits wird darauf hingewiesen, die Verarmungspolitik als Machtpolitik zu analysieren und entsprechend Strategien zu entwickeln, andererseits wird die Analyse der Verhältnisse als vermeintliche Abgehobenheit problematisiert.
Jeder Protest bleibt bei einer moralischen Empörung stehen, wenn die Ideologie der Leistungsgerechtigkeit ungebrochen fortwirkt.
Marcus Staiger führt außerdem als Grund für die gescheiterten Sozialproteste an, dass die Linke »so wenig von diesem unappetitlichen Volk« hält. Angesichts des brandgefährlichen Nationalismus ist diese Aussage zurückzuweisen. Die Bewegungen von Armutsbetroffenen, spezifischer von Arbeitslosen, besaßen »nur in Verbindung mit anderen Bewegungen … Durchschlagskraft«, schreibt Gerhard Hanloser in seinem Beitrag. Anstatt also das Volk als Subjekt zu adressieren, scheint es sinnvoller, über die realen Verbindungsmöglichkeiten der Klima- oder der migrantischen Bewegungen zu debattieren. In diese Richtung zielen auch die Beiträge von Judith Dellheim (Referentin für Solidarische Ökonomie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung) oder des Ökosozialisten Bruno Kern.
Alltag der Armut
Doch Staiger und auch Rein haben in einem Punkt Recht: Die Linke ist ständig damit beschäftigt, sich abzugrenzen – und verliert damit den Bezug zum Alltag jener, die in Armut leben. Die soziale oder gar die Klassenfrage zu stellen, galt lange nicht mehr als schick, was angesichts der sich durchsetzenden neoliberalen Verarmungspolitik ignorant ist. Was es heißt, finanziellen Ausschließungsprozessen unterworfen zu sein, weiß innerhalb der radikalen Linken bis heute kaum jemand. Hanloser kritisiert in seinem lesenswerten historischen Beitrag zum Verhältnis der Linken zur Nicht-Arbeit, die immer noch verbreitete Überzeugung, dass jene, die nicht lohnarbeiten, die »Klassenlosen«, keine »gesellschaftliche Macht« generieren. Vielleicht gibt es eine »potenzielle Systemsprengkraft gerade aufgrund der ›Überflüssigkeit‹«? Wenngleich sicher ist, dass die Strategie, das Kapital durch massenhafte Arbeitsverweigerung in die finale Krise zu treiben, nicht aufgehen wird.
Der Sammelband endet mit Beiträgen, die die »kapitalistische Ignoranz gegenüber menschlichen Lebensgrundlagen« (Gabriele Winker) und den Leid hervorrufenden »bürgerlichen Arbeitsprozess« (Slave Cubela) ins Zentrum stellen. Dagegen werden organisierte und soziale Beziehungen gestellt. Ausgrenzungserfahrungen, Krankheiten, andauernde Existenzangst, Stigmatisierung und Scham machten es notwendig, mit Menschen zu sprechen und Orte des Gemeinsamen zu schaffen, an denen das Leid geteilt werden kann. Vertrauen innerhalb der Klasse ohne Klasse zu schaffen, wird niemals in einzelnen Mobilisierungen gelingen.
Anne Seeck, Gerhard Hanloser, Peter Nowak und Harald Rein (Hg): KlassenLos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten. Die Buchmacherei, Berlin 2023. 256 Seiten, 12 EUR.