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Dienstags und donnerstags gegen Austerität

Angeführt von Kenias Jugend erlebte das ostafrikanische Land in den letzten Wochen Proteste von nie dagewesenem Ausmaß

Von Eric Otieno Sumba

Straßenbild mit vielen Menschen die an oder neben der Straße laufen. Mitten auf der Straße sitzen Zwei Aktivist*innen und halten eine kenianische Flaggen. Sie tragen Maske, einer einen Anzug.
Steuererhöhungen? In this economy? Die Bewegung ist nach den repressiven Maßnahmen des Staates nur noch größer geworden. Foto: Boniface Muthoni / picture alliance/ SOPA Images/Sipa USA

Am 14. Juni verunglimpfte David Ndii, der Wirtschaftsberater des kenianischen Präsidenten William Ruto, Tausende Social-Media-Nutzer*innen, die den Hashtag #RejectFinanceBill2024, als »digitale Wichser« und deutete an, dass ihr Online-Aktivismus verpuffen würde. Doch der Aktivismus schwappte nicht nur von TikTok und X auf die Straße über, sondern wurde zu einer rauschenden Anti-Regierungsbewegung. Initialzündung war ihr Unmut über geplante Steuererhöhungen, kodifiziert im Finance Bill 2024.

Nur drei Tage zuvor hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) eine Überprüfung ihres kenianischen Kreditprogramms abgeschlossen, das darauf abzielt, die Währung zu stabilisieren und das Handelsdefizit zu verringern. Für Kenia, das bereits etwa 50 Prozent seiner Exporteinnahmen für die Bedienung von Schulden ausgibt, wären höhere Steuern inmitten einer bereits ernsten Lebenshaltungskostenkrise katastrophal. Der IWF war sich dessen bewusst, ging aber von einem »mittleren« Risiko politischer Gegenreaktionen im Lande aus. Ruto glaubte ihnen.

Der IWF ging von einem »mittleren« Risiko politischer Gegenreaktionen aus. Ruto glaubte ihnen.

Die »digitalen Wichser«, die in Wirklichkeit große Teile der sogenannten Generation Z sind, wurden durch Berichte über ein neues Steuerregime mobilisiert, die das Finanzgesetz 2024 gemäß den Empfehlungen des IWF eingeführt hätte. Die Jugendarbeitslosenquote von rund 67 Prozent birgt für Kenias gut ausgebildete und digital versierte Jugend schon lange Eskalationspotenzial. Im Gegensatz zu ihren älteren Landsleuten, die zwischen Wahljahren in den politischen Winterschlaf gehen, ging die Kenianische Gen Z als »furchtlose, führerlose und ethnielose« (fearless, leaderless, tribeless) Bewegung auf die Straße, wie auf einem der vielen originellen Plakate zu lesen war, die auch IWF- und Weltbankprogramme als »moderne Sklaverei« anprangerten.

Nanjala Nyabola, die Autorin des bahnbrechenden Buches »Digital Democracy, Analogue Politics«, bemerkte in der britischen Tageszeitung The Guardian zu Recht, dass »Außenstehende, die an vereinfachende Erzählungen über die afrikanische Politik gewöhnt sind, sich abmühen und nicht verstehen, was diese Ereignisse wirklich bedeuten«. Die meisten internationalen Medien haben den Blick auf die politische Ökonomie des kenianischen Haushaltsgesetzes zugunsten einer abgedroschenen Trope vernachlässigt: »Bastion der Stabilität in einer turbulenten Region geht vor die Hunde«, hieß es sinngemäß.

Seit den 1980er Jahren verschreibt der IWF bei hoher Verschuldung eines Landes die Haushaltskonsolidierung, heißt die Verringerung der Differenz zwischen den Gesamteinnahmen und -ausgaben einer Regierung. Aufgrund des hohen Haushaltsdefizits in Kenia, das auf große laufende Infrastrukturprojekte zurückzuführen ist, hatte Ruto jedoch nur die Möglichkeit, die Einnahmen entweder durch Kreditaufnahme oder durch Steuern zu erhöhen. Angesichts der bereits hohen Schuldenlast entschied sich Ruto dafür, zunächst (erneut) die Steuern zu erhöhen und dann die Steuereinnahmen zur Umstrukturierung der Schulden und zur Aufnahme weiterer Kredite zu verwenden. Das wurde ihm politisch zum Verhängnis, ihm, dessen Spitzname »Zakayo« bereits auf die biblische Figur des Steuereintreibers Zachäus zurückgeht.

Occupy und Shutdown

Die Mobilisierung für Dienstags- und Donnerstagsproteste unter dem oben genannten Hashtag ging schnell über TikTok, Instagram und X vonstatten. Mitte Juni begannen Aktivist*innen mit einer #OccupyParliament-Protestaktion vor dem kenianischen Parlament. Sie filmten ihre Verhaftung und stellten sie am Dienstag, dem 18. Juni, in die sozialen Medien. Am darauf folgenden Donnerstag, dem 20. Juni, riefen die Organisator*innen dazu auf, »Nairobi zu besetzen und zum Parlament zu marschieren«. Zu diesem Zeitpunkt war die Polizei bereits in Alarmbereitschaft und die Wasserwerfer im Einsatz. Das erste Todesopfer, Rex Kanyike Masai, erlag an diesem Tag seinen Schussverletzungen. Nicht weit entfernt endete der Tag mit einer Party auf der Moi Avenue in Nairobi, wo sich die Demonstrierenden für die historische #shutdownkenya Aktion am folgenden Dienstag warmliefen.

Am Dienstag, dem 25. Juni, dem Tag, an dem über den Gesetzentwurf abgestimmt werden sollte, kam es in Kenia zu den größten Protesten in der Geschichte des Landes. In 34 der 47 Bezirke Kenias, in Städten und sogar in Botschaften im Ausland gab es unabhängig voneinander organisierte Proteste. Auch die zuvor zurückhaltenden Millennials spielten ihre Rolle. Journalist*innen lieferten detaillierte Analysen des Gesetzentwurfs, über die die Medien am Tag der Verabschiedung gebührend berichteten. Angeführt von der standhaften Präsidentin der Law Society of Kenya, Faith Odhiambo, durchkämmten Anwält*innen in Gruppen Polizeistationen, um die Freilassung der verhafteten Demonstrierenden zu erwirken. Für jeden Wasserwerfer der Polizei, der steife Strahlen aus rosa, beigem oder blauem Wasser warf, stand für die Demonstrierenden ein ziviler Wassertanker bereit, um ihre vom Tränengas getroffenen Augen auszuspülen. Restaurants verteilten Trinkwasser, Erste-Hilfe-Stationen wurden eingerichtet, und Motorradtaxis sorgten für den Transport zu und von den Protesten. Diejenigen, die nicht dabei sein konnten, teilten online Notfallinformationen und politische Bildungsinhalte sowie Memes, um die Stimmung aufrechtzuerhalten.

Zur Verhöhnung der Protestierenden stimmten am frühen Nachmittag insgesamt 195 der 301 Abgeordneten für den Gesetzentwurf. Als sich die Nachricht verbreitete, zog die empörte Menge zum Parlament. Einige Organisatoren rieten ihren Anhänger*innen, nach Hause zu gehen, da sich Gerüchte verbreiteten, die Regierung habe den Protest mit bezahlten Schlägern infiltriert, um später tödliche Polizeigewalt rechtfertigen zu können. Die Beweislage ist unklar, doch das Parlament wurde tatsächlich von Hunderten von Menschen gestürmt und im Handgemenge in Brand gesteckt, ebenso wie das Amt des Gouverneurs auf der anderen Seite der Stadt und mehrere Bezirksversammlungen und andere Regierungsbüros im ganzen Land.

Während die erschütterten Abgeordneten durch eine Unterführung in ein nahe gelegenes Gebäude evakuiert wurden, machten sich einige Demonstrierende mit Gegenständen davon oder speisten gemütlich im Restaurant. In seiner Ansprache am Dienstagabend ermahnte der wütende Präsident das Land und schickte seine Armee auf die mutmaßlich »verräterischen Schläger« und »kriminellen Elemente« los. Die Kenianer*innen verabschiedeten sich in die Nacht mit dem Spruch »Goodnight Criminals!«, der für den Rest des Monats zum Running Gag wurde. Während sie sich erholten und neu formierten, sammelten die Protestierenden Spenden, um die Krankenhausrechnungen für die Verletzten und die Beerdigungskosten für die Toten zu decken.

IWF-Plan geht nicht auf

Ruto lenkte am Mittwoch, dem 26. Juni, ein und schickte das Gesetz zurück zum Parlament. Doch der politische Schaden war bereits angerichtet. Die Rücknahme des Gesetzes erinnerte das Land nur an Rutos zahlreiche unerfüllte Versprechen, die inzwischen – passend zur Gen Z Marke – in einem KI gesteuerten »Versprechenstracker« gesammelt werden, die über die Verwendung eines Hashtags aktualisiert wird. Die medial verbreiteten Beerdigungen getöteter Demonstrierender und wöchentlichen Enthüllungen über Rutos inkompetente Regierung waren anschließend Hauptantriebskräfte der aufkeimenden #RutoMustGo-Bewegung. Es herrschten Wut und Trauer über die 1.429 Festnahmen, 601 Verletzten, 60 Toten und 66 Entführungen durch die Sicherheitsbehörden, von denen 26 bis Ende Juli ungeklärt blieben. Ein Trauerkonzert wurde an dem Tag gehalten, an dem jährlich an die pro- demokratischen Proteste vom 7. Juli 1990 erinnert werden.

Kein kenianischer Präsident hat sich einer so umfangreichen und intensiven politischen Prüfung unterzogen.

In der parlamentarischen Demokratie Kenias herrschte im Juni und Juli 2024 mehr politische Dynamik als in den 60 Jahren der Unabhängigkeit. Das gesamte Kabinett wurde entlassen und teilweise neu besetzt, und der Präsident wurde von der Jugend, die seine Versuche, die Führer*innen der Bewegung zu identifizieren und zu kooptieren, zurückwies, zu einem Online-Plenum auf der öffentlichen Plattform X-spaces bestellt. Kein kenianischer Präsident hat sich einer so umfangreichen und intensiven politischen Prüfung unterzogen, und zum ersten Mal spielten ethnische Zugehörigkeiten und Allianzen keine Rolle dabei. Das ist eine sehr begrüßenswerte Entwicklung.

Doch die IWF-Frage und die Schuldenfalle der gegenwärtigen »Weltordnung« schweben über den vergangenen Wochen. Der IWF ist strukturell nicht in der Lage, den verschuldeten Ländern etwas anderes als Austerität anzubieten. Er ist, platt gesagt, ein gehobenes ›one-trick-pony‹. Reformvorschläge für den IWF gibt es viele, aber eine Alternative zum Dollar als Liquiditätsgarantie oder der Dominanz westlicher Länder gibt es auch nach 80 Jahren Institutionsgeschichte und Stimmrechtsreform von 2010 nicht. Schuldenerlass, eine notwendige Maßnahme in Zeiten der weltweiten Überschuldung, ist nach wie vor ein Tabuthema. Im September 1988 gab es die größten Proteste gegen IWF und Weltbank in Westberlin, die nächsten bahnen sich an, eventuell in Ostafrika.

Eric Otieno Sumba

ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Bis 2021 forschte er im Rahmen der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Nachwuchsforschungsgruppe »Protest und Reform in der globalen politischen Ökonomie aus der Perspektive einer postkolonialen Politikforschung« an der Universität Kassel.

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