Journalismus, drinnen und draußen
Max Zirngasts Artikel und Gefängnisbriefe beschreiben den autoritären Umbau der Türkei
Von Johanna Tirnthal
Ein Mensch im Gefängnis – ein Körper hinter Mauern, dessen Möglichkeiten, sich zu seiner Umwelt und zu seinen Mitmenschen zu verhalten, auf einmal radikal eingeschränkt sind. In ganz verschiedenen Formen von Gesellschaften stecken Menschen andere Menschen ins Gefängnis, um deren Handlungen »draußen« zu unterbinden und in der Zeit »drinnen« ihren Geist zu verändern. Das Gefängnis als eine Art Urszene des kritischen Engagements und der Opposition ist in Europa heute in räumliche, historische oder literarische Ferne gerückt: Ich würde doch nicht im Gefängnis landen! Das Buch »Die Türkei am Scheideweg« holt diese Szene wieder ein wenig näher heran.
Im Herbst 2019 wurden Max Zirngast und die mit ihm angeklagten Hatice Göz und Mithatcan Türetken freigesprochen.
Max Zirngast ist im Gefängnis gelandet – 2018 in der Türkei, für drei Monate. Er ist ein junger österreichischer Journalist, Politikwissenschaftler und Aktivist und hatte seit 2015 in Ankara gelebt. Für verschiedene Medien, allen voran für Jacobine und re:volt, schrieb Zirngast über die politischen Entwicklungen dort und anderswo. Inhaftiert wurde er – wie so viele andere – mit dem Vorwurf der »Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation«. In Wahrheit ging es – wie bei so vielen anderen – darum, oppositionelles Engagement zu unterbinden. Im Herbst 2019 wurden Max Zirngast und die mit ihm angeklagten Hatice Göz und Mithatcan Türetken freigesprochen. Fast zeitgleich gab die #FreeMaxZirngast-Solidaritätskampagne ein Buch mit seinen Texten heraus: »Die Türkei am Scheideweg«. Das Buch weiß vom Freispruch noch nichts und nimmt so eine Perspektive inmitten der dramatischen Ereignisse ein. Auf knapp über 400 Seiten lernen wir hier einerseits Zirngasts journalistische und politikwissenschaftliche Texte und andererseits ihn als Person recht gut kennen.
Analysen der Haftgründe -im vorhinein
Das Buch unterteilt sich grob in drei Abschnitte: Erstens eine sehr persönliche Einleitung, in der Max Zirngast selbst und viele Freundinnen und Wegbegleiterinnen zu Wort kommen. Die Texte beschreiben den »Fall Max Zirngast«, aber auch die Person, den Freund, den Studenten und Aktivisten, den seine Schreibkollegen Güney Isikara und Alp Kayserilioglu (mit denen gemeinsam er den Großteil der Texte im Buch verfasst hat) liebevoll »Aslan Max’imiz – Unser Löwe Max« nennen. Der zweite Abschnitt des Buchs, der den größten Teil ausmacht, besteht aus den journalistischen und politikwissenschaftlichen Analysen, die Zirngast mit Isikara und Kayserilioglu verfasst hat. Es geht darin um die politischen Entwicklungen der letzten Jahre in der Türkei, aber auch in anderen Ländern. Der dritte Abschnitt schließlich nähert sich der Gefängniserfahrung an. Einige Texte beschreiben den Kontext – die Verhaftung, die Vorwürfe, den Ablauf von Polizeigewahrsam, Untersuchungshaft, Freilassung und Prozess. Das späte Herzstück des Buches sind Zirngasts Gefängnisbriefe.
Mit dem Wissen, dass der Autor vieler Artikel über die politischen Entwicklungen in der Türkei, über zunehmende Repression und den Aufbau eines diktatorischen Systems schlussendlich selbst von diesem System ins Gefängnis gesteckt werden wird, liest man diese Texte anders: berührter. Die Tragweite des brutalen Umbaus, den die AKP an der türkischen Gesellschaft vornimmt, ist greifbarer, weil die einleitenden Texte sensibel für dessen ganz konkrete Folgen machen. Schon im Oktober 2015, kurz nach Zirngasts Ankunft in Ankara, kreuzen sich die politischen Ereignisse mit der Person, mit dem Körper: Gemeinsam mit Alp Kayserilioglu, der zu Besuch ist, möchte Max Zirngast an einer Demonstration für Frieden, Arbeit und Demokratie teilnehmen. Nur weil sie einige Minuten zu spät dran sind, entgehen sie den Bomben zweier Selbstmordattentäter, die sich 150 Meter vor ihnen in die Luft sprengen und 102 Menschen töten. 500 weitere werden verletzt. In diesem Bewusstsein lesen sich die folgenden politischen Analysen brisant und mit heißer Feder geschrieben, inmitten des Geschehens. Trotzdem sind die Texte nüchtern. Sie sind gut recherchiert, mit vielen Verweisen versehen und stehen auf einem breiten Fundament von Zahlen und Fakten. Die Fähigkeit der drei Autoren (Max Zirngast, Güney Isikara und Alp Kayserilioglu), verschiedenste Statistiken eingängig zu erklären und interessante Schlüsse aus den Zahlen zu ziehen, ist beeindruckend und zieht sich durch das ganze Buch.
AKP-Regime in der Hegemoniekrise
Die Texte über die Türkei sind chronologisch abgedruckt und erlauben, den Aufstieg der AKP, den neoliberalen Umbau der türkischen Wirtschaft, den Krieg gegen die Kurd*innen und schließlich den diktatorischen Umbau der letzten Jahre detailreich nachzuvollziehen. Insgesamt diagnostizieren die Autoren dem AKP-Regime eine Hegemoniekrise und deuten den gewaltvollen Umbau der Gesellschaft als verzweifelten Versuch des Machterhalts. Die Potenziale des Widerstands und der oppositionellen Arbeit sind aus ihrer Sicht trotz der allgegenwärtigen Repression nicht zu unterschätzen.
Wenn im dritten Teil des Buchs auf die politischen Analysen Max Zirngasts Briefe aus dem Gefängnis folgen, verändert wiederum das Wissen über die zuvor gelesenen journalistischen Texte das Verständnis jener Gedanken, die Max Zirngast mit Bleistift in seiner Zelle zu Papier bringt. Er ist ein genauer und empfindsamer Beobachter der Gesellschaft und auch des Gefängnisses, das er als einen anderen Umstand begreift, den man – wie auch draußen – nicht selbst bestimmt und zu nutzen wissen muss. Gegen Isolation, Ungewissheit und Willkür, die den Inhaftierten zusetzen, empfiehlt er Disziplin, Kreativität und Solidarität. Das Buch lässt sich als Ergebnis aller drei Eigenschaften verstehen.
Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast (Hg.): Die Türkei am Scheideweg und weitere Schriften von Max Zirngast. Edition Assemblage, Münster 2019. 432 Seiten, 12,50 EUR.