Riots für Kommunist*innen
Joshua Clover bietet eine Theorie des Aufstands – hilft das für die politische Praxis in Deutschland?
Auch nach dem Jahrzehnt der Aufstände seit der Finanzkrise ab 2007 hat der Insurrektionalismus einen schweren Stand in der deutschen Linken. Riot, Unplanbarkeit, Chaos – das widerstrebt dem deutschen Ordnungswillen und auch dem effizienten Partei- und Aktivismusmanagement. Zumal er propagiert wird von Anarchist*innen aus Griechenland wie der Verschwörung der Feuerzellen oder französischen Autonomen wie dem Unsichtbaren Komitee, die von der hiesigen Linken politisch nicht ernst genommen werden. Aber was wäre, wenn ein marxistischer Akademiker den Riot historisch-materialistisch als avancierteste Form des Klassenkampfes im 21. Jahrhundert begründet?
Darum geht es Joshua Clover in »Riot. Strike. Riot. Die neue Ära der Aufstände«, das nun in deutscher Übersetzung erschienen ist: die Delegitimierung von Riots zu durchbrechen und eine historisch-materialistische Analyse der Aufstände für Kommunist*innen zu entwickeln. Die Dreiteilung des Titels in »Riot, Streik, Riot« bildet die Grundthese des Textes ab: Auf eine Phase der Riots als Brotrevolten im frühen Handelskapitalismus sei ab dem 19. Jahrhundert die Phase der Streiks im Industriekapitalismus gefolgt, die sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in eine neue Form der »Riots Prime« wieder aufhebe. Riots und Streiks schließen sich dabei nicht aus, sondern ergänzen sich, wobei die entsprechende Kampfform die prägende für die jeweilige Epoche sei.
Die jeweils zentrale Form des Klassenkampfes erklärt Clover aus den Produktions- und Tauschverhältnissen einerseits und den Orten des Kampfes sowie der staatlichen Repression andererseits. Im Handelskapitalismus, der Profit eher in der Zirkulation realisierte, sei besonders der Riot auf den Märkten und in den Häfen das Mittel der Eigentumslosen gewesen, um den Preis der Lebenshaltungskosten zu drücken. Im Industriekapitalismus, wo über das Ausmaß der Mehrwertabpressung und des Profits vor allem in der Produktion selbst verhandelt wird (durch das Ringen um Lohnhöhe, Arbeitszeit etc.), sei der Streik zentrales Mittel im Kampf um den Preis der Arbeitskraft. Im postfordistischen Kapitalismus würden die Fabriken leerer, eine für die Produktion des Mehrwerts nicht notwendige überschüssige Bevölkerung, ein »Surplus-Proletariat«, entstehe, und die Bedeutung der Zirkulationssphäre für die Profite wachse wieder. Folgerichtig sei die Entstehung neuer Riots zu beobachten – nicht nur als Mittel zur »Verhandlung« über den Preis der Waren, sondern auch als Aneignung der Plätze, Kampf gegen staatliche Gewalt und Antizipation einer bedürfnisorientierten Reproduktion.
Clover spricht deswegen nicht bloß von einer Rückkehr des Riots sondern vom »Riot Prime«, einem Riot höherer Ordnung, der sich aus einer Veränderung der Logistik, des Finanzkapitalismus und der staatlichen Repression ergebe: »Um 1700 hat die Polizei, so wie wir sie kennen, nicht existiert; gelegentlich wachten Stadtknecht oder Büttel über den Markt. Gleichzeitig wurden die meisten Güter des täglichen Bedarfs vor Ort hergestellt. Kurzum, der Staat war fern, und die Ökonomie war nah. Im Jahr 2015 ist der Staat nah und die Ökonomie fern. (…) Waren werden entlang globaler Logistikketten montiert und geliefert. Selbst Grundnahrungsmittel stammen häufig von einem anderen Kontinent. Derweil ist die staatliche Polizei als stehendes Heer im Inneren stets zur Hand – fortschreitend militarisiert (…). Der Riot Prime kann nicht umhin, sich gegen den Staat zu erheben, er hat keine andere Möglichkeit.«
Leerstellen in Clovers Analyse
Das ganze Buch ist stark durch diesen spekulativ-deskriptiven Stil in historisch-materialistischer Absicht geprägt. Clover versucht nicht, normativ vorzuschreiben, wie Kämpfe sein sollten, sondern zu beschreiben, wie das Proletariat Kämpfe führt und warum es welche Taktiken vor dem Hintergrund der jeweiligen Produktionsverhältnisse wählt. Linke Historiker*innen werden bestimmt mit einiger Freude detailreiche Diskussionen im Anschluss an das Buch führen können.
In der englischsprachigen Diskussion hat Amanda Amstrong darauf hingewiesen, dass Clover in Bezug auf den Frühkapitalismus zentrale Arbeitsregime wie Sklavenarbeit und feminisierte Hausarbeit ausklammere. War für die Millionen versklavter Schwarzer Arbeiter*innen, die nach C.L.R. James einem modernen Proletariat näher kommen als alle anderen Arbeiter*innen jener Zeit, die wichtigste Aktionsform nicht, die Aufseher zu erschlagen und sich selbst zu bewaffnen gegen die weißen Bestrebungen, sie wieder zu versklaven? In Anlehnung an Silvia Federici könnte man zudem fragen, ob nicht die Zurichtung besonders von feminisierten Körpern sowie Frauenaufstände den Frühkapitalismus zentral prägten? Trägt Clovers Buch also eurozentristische Züge und ignoriert die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung?
Diese Fragen haben nicht nur historische Relevanz. Denn Clovers zentrale These für die Gegenwart lautet, dass die lange Krise des Kapitalismus seit 1973 unauflösbar ist. Die Krise transformiere auch den Widerspruch von Kapital und Arbeit in der Weise, dass vor allem in produktiven Sektoren beide nun immer wieder zusammen für den Erhalt von Standorten kämpften. Dies habe weitreichende Folgen für den Klassenkampf: »Gefangen in der Affirmationsfalle hört die organisierte ArbeiterInnenschaft auf, Antithese zum Kapital zu sein.«
Der aktuelle Riot ist antirassistisch, ein Aufstand des rassifizierten Surplus-Proletariats, revolutionäre Identitätspolitik.
Clovers Theorie bezieht sich auf die Verhältnisse im kapitalistischen Westen – das weltweite Industrieproletariat war indes noch nie so groß wie heute, es gab wahrscheinlich noch nie so viele Streiks wie heute. Dies muss keine Schwäche von Clovers Theorie sein, erfordert jedoch weitergehende Überlegungen, zum Beispiel was das Verhältnis zwischen kapitalistischen Zentren und der Peripherie betrifft. Wichtig wäre dies, weil der kapitalistische Westen die internen Klassenkonflikte durch Krieg, Imperialismus, höhere Ausbeutungsraten in der Peripherie abfedert. Der Ausbau von Grenzregimen, das Massensterben im Mittelmeer und die Formierung von rechten und protofaschistischen Projekten können als Teile einer solchen Krisenbearbeitung verstanden werden. Auch der Antifeminismus der neuen Rechten kann als eine Strategie verstanden werden, einen Teil der Klasse aus der formalen Lohnarbeit wieder auszuschließen.
Das rassifizierte Surplus-Proletariat
Clover zieht aus der strukturellen Krise des fordistischen Akkumulationsmodells und der Affirmationsfalle, in der die Arbeiter*innen steckten, alles andere als pessimistische Schlüsse. Denn Surplus-Proletariat und Surplus-Bevölkerung antworteten auf die Krise des Kapitals, die staatliche Repression und die historische Schwäche der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung mit neuen Kampfformen. Dabei betont Clover, dass race der Modus ist, in dem Klasse für Schwarze und People of Color erfahren wird, und dies bedeute notwendig die Konfrontation mit staatlicher Gewalt.
Diese These hat in Anbetracht der George-Floyd-Rebellion von 2020 eine zwingende Relevanz für die USA. Die Vernichtung von Schwarzem Leben durch einen weißen Polizisten am helllichten Tag, die anschließende Konfrontation der Protestierenden mit der Staatsgewalt, die Zerstörung der Polizeistation in Minneapolis, die Plünderungen, die Aneignungen von öffentlichen Räumen. Der Riot Prime ist antirassistisch, ein Aufstand des rassifizierten (Surplus-)Proletariats, revolutionäre Identitätspolitik, die sich danach sehnt, race, Staat und Klassenunterdrückung aufzuheben.
Statt Frauen und Migrant*innen in alte Klassenpolitik einzubinden, bräuchte es nach Clover eine grundlegend andere Analyse der Modalitäten, in denen Klasse erfahren und gelebt wird.
An dieser Stelle zeigt sich ein entscheidender Unterschied zu dem, was in Deutschland unter dem Schlagwort »neue Klassenpolitik« diskutiert wurde. Schien es dabei trotz anders lautender Absichtsbekundungen oft darum zu gehen, Frauen und Migrant*innen in alte Klassenpolitik einzubinden, so bräuchte es nach Clover im Gegenteil eine grundlegend andere Analyse der Modalitäten, in denen Klasse erfahren und gelebt wird. Während die Mehrheitsgesellschaft von Migrant*innen fordert, sich zu integrieren, fordert die deutsche Linke die Integration in die alte Klassenpolitik. Mit Clover steht die Linke aber viel eher vor der Aufgabe, etwas vom rassifizierten Proletariat zu lernen, nämlich die Kampfform des 21. Jahrhunderts: den Riot Prime.
Die zentrale Qualität dieses neuen Riots sieht Clover neben dem Plündern in der Fähigkeit zur Blockade und zur »Kommune«. Die Blockade bezieht sich auf den Wunsch, den logistischen Kapitalismus an seinen neuralgischen Punkten zu treffen. Die Taktik der Kommune entspringt dem Wunsch nach einer gemeinsamen Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens jenseits von Lohn und Preis. In Bezug auf beide Taktiken hält Clover fest, dass das Surplus-Proletariat ihr entscheidender Träger ist. Insgesamt kann Clovers Theorie damit als eine geschichtsphilosophisch modifizierte Verelendungsthese verstanden werden, in der die Krise des industriellen Kapitalismus und die staatliche Gewalt das Surplus-Proletariat als revolutionäre Kraft produzieren. »Riots, Blockaden, Barrikaden, Besetzungen. Die Kommune. Das ist es, was wir in den nächsten fünf, fünfzehn, vierzig Jahren erleben werden«, so Clover.
Aufstand, Kommune und Organisationsfrage
Die Beschreibung dieser Taktiken ist nicht neu. Sie findet sich bereits im Buch »An unsere Freunde« des Unsichtbaren Komitees (2014), in dem sowohl die Schwachpunkte des logistischen Kapitalismus herausgearbeitet als auch die Taktiken der Kommune näher bestimmt wurden. Eine weitergehende deutschsprachige Ausarbeitung der Kommune gibt es von der marxistischen Gruppe Freund*innen der klassenlosen Gesellschaft: »Umrisse der Weltkommune« (2018). Während das Komitee aber seit seinem Buch »Der kommenden Aufstand« (2007) in der deutschsprachigen Linken kaum mehr ernst genommen wird, hat Clover das Ansehen eines marxistischen Gelehrten, kann möglicherweise gerade darüber eine minoritäre Position in den linken Mehrheitsdiskurs hineinheben.
Ironischerweise hat das Komitee aus den Aufständen seit 2007, die zumeist in Niederlagen endeten, die Lehre gezogen, dass es, in loser Anlehnung an Marx, eine »historische Partei« brauche, jedenfalls die Frage der Revolution nicht mit der Taktik des Aufstands beantwortet sei. Die Partei- oder Organisierungsfrage stellt Clover nicht. Auch zeigte sich zum Beispiel 2016 bei der Bewegung gegen das neue Arbeitsgesetz, das Loi Travail, in Frankreich, dass die Blockaden der Logistik-Infrastruktur nur dann wirklich wirkungsvoll waren, wenn sie von Streiks unterstützt wurden. Braucht es also nicht gerade das Zusammenspiel zwischen Blockade, Kommune und Streiks?
»Die kommenden Kommunen werden sich dort entwickeln, wo sich sowohl die Produktions- als auch Zirkulationskämpfe erschöpft haben. Die kommenden Kommunen werden wahrscheinlich zunächst nicht in ummauerten Städten oder in zurückgezogenen Gemeinden entstehen, sondern in offenen Städten, in denen diejenigen, die von der formellen Ökonomie ausgeschlossen und in die Zirkulation geworfen werden, nun über das Versagen des Marktes bei der Deckung ihrer Bedürfnisse wachen«, schreibt Clover.
Aber was bedeutet das für die deutsche Linke, deren Kader*innen sich größtenteils aus gehobeneren Schichten der weißen Arbeiterklasse rekrutieren, die von einem Ausschluss aus dem Produktionsprozess oder rassistische Gewalterfahrungen in aller Regel sehr weit entfernt sind? Wenn das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Riots wird, dürfte Deutschland eher eine der zurückgezogenen Gemeinden und ummauerten Gebieten sein, die auf Riots reagieren, nicht sie hervorbringen. Kein Zufall scheint es allerdings zu sein, dass der erste kleinere Riot 2020 in Stuttgart, einer Stadt mit einer der größten migrantischen Bevölkerungen in Deutschland, nach einer rassistischen Polizeikontrolle stattfand.
Joshua Clover: Riot. Strike. Riot. Die neue Ära der Aufstände. Galerie der abseitigen Künste & Non Derivate 2021, 240 Seiten, 19 EUR.