Uns aus dem Elend zu erlösen …
Die Freund*innen einer vorgeblich linken Friedenspolitik haben die Grundprinzipien gewerkschaftlicher Solidarität aufgegeben
Von Bernd Gehrke
Jede Art von Imperialismus und Tyrannei zu bekämpfen, das ist die Aufgabe der emanzipatorischen Linken innerhalb oder außerhalb der Gewerkschaften. Es ist eine grundsätzliche, aber einfache Orientierung. Einige linke gewerkschaftliche »Friedensfreund*innen« haben diesen Anspruch offenbar aufgegeben.
In ak 704 besprach Malte Meyer den von Ulrike Eifler herausgegebenen Tagungsband »Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg. Zur Rolle der Gewerkschaften in der Friedensbewegung«. Der Band geht auf die von der IG Metall Hanau-Fulda gemeinsam mit der Rosa Luxemburg Stiftung organisierte friedenspolitische Gewerkschaftskonferenz zurück, die im Juni 2023 in Hanau stattfand. Bereits der Titel der Besprechung gibt Auskunft über Meyers Bewertung: »Burgfrieden reloaded«.
Die Gemeinsamkeiten der Beiträge fasst Malte Meyer wie folgt zusammen: »Viel Übereinstimmung herrscht (…) in der Distanzierung von der Desinformation, derzufolge der Überfall Russlands auf die Ukraine mit der ihm vorausgegangenen Osterweiterung nichts zu tun habe und diese Aggression sich nur mit westlichen Waffenlieferungen und Aufrüstungsprogrammen beantworten ließe. Einigkeit besteht weiterhin darüber, dass es sich beim Ukraine-Krieg nicht etwa um eine Frontstellung zwischen Demokratie und Autoritarismus handelt, sondern um die neue Etappe einer handelsüblichen Blockkonfrontation innerhalb des kapitalistischen Weltsystems. Kaum Dissens gibt es schließlich darüber, dass die Lasten des Krieges in erster Linie (und nicht allein in den Krieg führenden Ländern) von der arbeitenden Bevölkerung getragen werden« usw. usf.
Im Tagungsband wie auch in Meyers Zusammenfassung wird mit Worthülsen wie »Militarisierung«, (gewerkschaftlichem) »Militarismus« oder (linkem) »Bellizismus« umher geworfen, ohne dass sie jemals definiert, voneinander abgegrenzt oder gar begründet werden. Die Funktion der stets im Ungefähren bleibende Begriffe ist die Denunziation politischer Gegner*innen.
Begriffsloser Antimilitarismus
Solche Worthülsen fungieren als beliebig austauschbare Ausdrücke der Empörung über gewerkschaftliche Akzeptanz der Ampelpolitik bezüglich der Ukraine und der beschlossenen Aufrüstung der Bundeswehr, der es jedoch an analytischer Schärfe fehlt, weshalb sie ihren Gegenstand nicht wirklich zu fassen bekommt. Ist der kritisierte Aufrüstungseifer tatsächlich »Bellizismus«, also Kriegslüsternheit? Oder erleben wir die panische Reaktion des politischen Establishments auf eine durch die russische Invasion der Ukraine massiv veränderte politisch-militärische Lage Europas?
Um zu unterscheiden, wo klassische staatliche Verteidigungspolitik aufhört und eine imperialistisch intendierte oder sogar geradezu abenteuerliche Militärpolitik beginnt, wie sie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit der Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen forciert, eben dazu bedarf es keiner leeren Worthülsen, sondern analytischer Schärfe. Nur so lässt sich, wie in der Innenpolitik, auch in der Militärpolitik unterscheiden, welche Aktivitäten des bürgerlichen Staates toleriert und welche bekämpft werden sollten.
Mit dem Blick auf die Gewerkschaften erweist sich das Gerede vom Zusammenhang zwischen der Unterstützung des ukrainischen Widerstands und einer angeblichen Burgfriedenspolitik als abstrus.
Eben weil es keinen »automatischen« Zusammenhang etwa zwischen militärischer Ukraine-Unterstützung, Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens oder Sozialabbau gibt, wie ihn Teile der Herrschenden verkünden, haben sich auch in ak vor längerer Zeit Befürworter*innen von Waffenlieferungen an die Ukraine deutlich gegen Aufrüstung und die Abwälzung der Folgen des russischen Überfalls auf die arbeitenden Klassen ausgesprochen.
Gerade mit dem Blick auf die Gewerkschaften erweist sich das Bild vom Zusammenhang zwischen der Unterstützung des ukrainischen Widerstands und einer angeblichen Burgfriedenspolitik als abstrus. Im Tagungsband wird besonders ver.di kritisiert, denn der ver.di-Bundeskongress hatte sich letzten September mit großer Mehrheit auch für die militärische Unterstützung der Ukraine ausgesprochen.
Doch der Beitrag von Wolfgang Däubler, der sich mit der ver.di-Beschlusslage kritisch auseinandersetzt, macht deutlich, dass ver.di trotz der Unterstützung des ukrainischen Widerstands mitnichten einen Burgfrieden beschlossen hat, denn die Aufrüstungspolitik der Bundesregierung lehnte ver.di ab. Beschlossen wurde dagegen die aktive Verteidigung der Interessen der abhängig Beschäftigten. Tatsächlich ist die Zahl gewerkschaftlicher Streiks in den letzten Jahren in die Höhe geschnellt – mit ver.di als aktivster Streikgewerkschaft im Rekordstreikjahr 2023. In einem Burgfrieden würde man anderes erwarten.
Internationale Solidarität? Fehlanzeige
Der Tagungsband der gewerkschaftlichen »Friedensfreund*innen« in Hanau enthält zwar viele Anklagen gegen die Nato und Teile der Gewerkschaften, aber nicht einen einzigen Gedanken gewerkschaftlicher Solidarität mit den von der russischen Diktatur überfallenen Arbeiter*innen und ihren Gewerkschaften, mit den Leidtragenden des Terrorkrieges gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.
Diese Abwesenheit von internationalistischer Solidarität prägt den gesamten Band und macht alles Reden darüber, dass der Frieden im Interesse der »Arbeitnehmer*innen« sei, zur leeren Phrase. Oder aber es ist ein Hinweis darauf, dass damit faktisch vor allem die Arbeiter*innen hierzulande gemeint sind, während das Schicksal der direkt vom Krieg Betroffenen außen vor bleibt. Zudem findet sich in den Beiträgen keine einzige Andeutung von Kritik an der langjährigen deutsch-russischen Fossilkumpanei, die für die dramatischen sozialen Folgen der Unterbrechung russischer Energielieferungen maßgeblich verantwortlich war.
Das Gefährliche eines begriffslosen Antimilitarismus oder Antibellizismus ist, dass es die Linke und die Gesellschaft abstumpft gegen Warnungen vor wirklich militaristischen und bellizistischen Strömungen. In einer Zeit neuer militärischer Bedrohungen für die EU-Staaten durch den russischen Expansionismus einerseits sowie der keinesfalls nur auf dessen Abwehr beschränkten Aufrüstung andererseits können solche Strömungen in der Tat einen Aufschwung erleben. So orientiert sich die geplante Aufrüstung der Nato nicht nur an der Abwehr einer von Russland ausgehenden Aggression, sondern auch an der Sicherung der globalen Vorherrschaft des US-Imperialismus. Umso wichtiger ist es, eine trennscharfe Vorstellung von den verschiedenen und widersprüchlichen Aspekten der Militärpolitik zu entwickeln. Deshalb sollte der substanzielle Unterschied zwischen »verteidigungsfähig« und »kriegstüchtig« von Linken begriffen werden. Im ersten Fall könnte die heute vergessene, alte sozialistische Forderung nach Volksbewaffnung das Ergebnis sein, aus dem zweiten ergibt sich die aktuelle Forderung von Pistorius und Kanzler Olaf Scholz nach der Stationierung von US-Erstschlagwaffen auf deutschem Boden.
Solche Unterschiede zu machen, ist umso wichtiger, als es neben dem westlichen Imperialismus weitere imperialistische Staaten gibt, die auf globaler oder regionaler Ebene die US-beherrschte unipolare Weltordnung durch eine noch reaktionärere ersetzen wollen. Die selektive Wahrnehmung der globalen Konflikte ausschließlich unter dem Aspekt des US-Imperialismus gelingt nur durch systematisches Ausblenden aller entgegenstehenden Evidenzen. Dieses während des Kalten Kriegs eingeübte Denken, in dem der eigene, westliche Block der schlimmste von allen ist, existiert nach dem Untergang des sowjetischen Blocks in modifizierter Weise fort. In der internationalen Linken wird dieses Blockdenken als Campismus diskutiert.
Gewerkschaftlicher Internationalismus ist möglich
Für emanzipatorische Linke, die das unsolidarische und gegen den Internationalismus gerichtete Spiel des Campismus innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaften nicht mitmachen wollen, aber auch nicht ins Gegenteil verfallen und sich zum Anhängsel der imperialistischen Politik der USA und ihrer Nato-Vasallen machen wollen, hilft ein Blick über den deutschen Tellerrand. Denn in vielen Ländern sind Gewerkschaften durchaus zu Internationalismus und Friedenspolitik in der Lage.
Die italienische CGIL etwa, die von Beginn an mit großen Demonstrationen für diplomatische Lösungen mobilisierte, hat ihren gewerkschaftlichen Internationalismus nicht aufgegeben. Für sie steht die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und insbesondere den Gewerkschaften an vorderster Stelle. In ihrer Erklärung vom 29. April 2024 heißt es: »Die CGIL hat die russische Invasion in der Ukraine scharf verurteilt und die europäische und internationale Diplomatie aufgefordert, sich für einen Waffenstillstand und eine politische Verhandlungslösung des bewaffneten Konflikts einzusetzen. Gemeinsam mit europäischen und internationalen Gewerkschaften, Verbänden und der Friedensbewegung beteiligte sich die CGIL an Mobilisierungen zur Ablehnung von Kriegen, zur Abrüstung, zum Verbot von Atomwaffen und zum gemeinsamen Aufbau eines Europas des Friedens, das auf dem Konzept der gemeinsamen und geteilten Sicherheit beruht.« Danach folgt die Darstellung ihres gewerkschaftlichen Internationalismus, den die campistische Gewerkschaftslinke in Deutschland nicht aufzuweisen hat, konkret: ihrer umfassenden humanitären Hilfe für Gewerkschaften und die Bevölkerung in der Ukraine.
Für Linke, die das gegen den Internationalismus gerichtete Spiel des Campismus nicht mitmachen wollen, hilft ein Blick über den deutschen Tellerrand. Denn in vielen Ländern sind Gewerkschaften durchaus zu Internationalismus und Friedenspolitik in der Lage.
Noch interessanter ist, dass deutsche Linke die ansonsten wegen ihrer kämpferischen Positionen geradezu angehimmelten linken französischen Gewerkschaften in Sachen Ukraine völlig ignorieren. Obwohl auch die französischen Gewerkschaften diplomatische Lösungen unterstützen, solidarisieren sie sich seit dem 24. Februar 2022 nicht nur mit der ukrainischen Bevölkerung, vor allem den Werktätigen und Gewerkschaften, sondern fordern den Abzug der russischen Truppen und unterstützen das Recht auf Widerstand gegen die russische Aggression. Unabhängig von ihren sonstigen Differenzen bildeten sie – mit Ausnahme der anarchosyndikalistischen CNT – einen übergewerkschaftlichen Zusammenschluss, der von der CFDT bis zu CGT und den basisgewerkschaftlichen Solidaires reicht, und schufen einen gemeinsamen Solidaritätsfonds für humanitäre Hilfe, die sie in Abstimmung mit den ukrainischen Gewerkschaften organisierten.
In einer gemeinsamen Erklärung zum zweiten Jahrestag der russischen Invasion betonten sie außerdem ihre Unterstützung des Kampfes der ukrainischen Gewerkschaften gegen das vom Staat beschlossene neoliberale Arbeitsgesetz. Noch einmal benannten sie aber auch ihre Grundsatzforderungen zum Krieg in der Ukraine: »Die Anerkennung der Legitimität des ukrainischen Volkes, sich gegen diese Aggression zu verteidigen; die Forderung nach einem gerechten und dauerhaften Frieden, dessen Voraussetzung der Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine sein muss; konkrete Solidarität mit den ukrainischen Werktätigen und ihren Gewerkschaftsorganisationen sowohl in ihrem Kampf gegen die Reformen, die die sozialen und gewerkschaftlichen Rechte in der Ukraine untergraben, als auch in ihrem Kampf gegen den russischen Imperialismus; aktive Unterstützung der Freiheitsrechte und derjenigen, die in Russland und Belarus für den Frieden und ihre Rechte kämpfen.«
Wie die französischen Gewerkschaften, so hat auch der britische Gewerkschaftsdachverband TUC auf seinem Kongress am 12. September 2023 nach ausgiebiger Diskussion über campistische Positionen mit großer Mehrheit die Solidarität mit dem ukrainischen Volk und seinem Widerstand gegen die russische Aggression bekräftigt. In dem Beschluss heißt es: »Als Gewerkschafter sind wir von Natur aus antiimperialistisch, und es ist unsere Aufgabe, Imperialismus und Tyrannei bei jeder Gelegenheit zu bekämpfen. Wir erkennen, dass ein Sieg Putins in der Ukraine ein Erfolg für reaktionäre, autoritäre Politik in der ganzen Welt sein wird.«
Der Blick über den deutschen Tellerrand zeigt, dass die im Hanauer Tagungsband kritisierte ver.di nicht allein steht. Am Beispiel der französischen oder britischen Gewerkschaften wird deutlich, dass die Unterstützung des ukrainischen Widerstands ein Ausdruck von internationalistischer gewerkschaftlicher Solidarität ist und nichts mit Aufrüstungs- oder Sparpolitik zu tun hat. Auch in Deutschland zeigt die Debatte etwa in der GEW Berlin oder in der sozialistischen Betriebs- und Gewerkschaftszeitung express, dass es einen linken, emanzipatorischen Diskurs jenseits der campistischen Linken und des liberalen Mainstreams gibt. Er basiert auf der eingangs benannten Erkenntnis, die deutschen campistischen »Friedensfreund*innen« völlig fehlt.
Eine längere Version des Textes erscheint im September auf geschichtevonuntenostwest.org.