Gefährliche Solidarität
In der Türkei eskaliert patriarchale Gewalt. Dagegen halten die feministische und kurdische Bewegung gemeinsam stand – und sind dem Staat ein Dorn im Auge
Von Hêlîn Dirik
Es ist nicht neu, dass Femizide nahezu täglich die Türkei erschüttern. Die Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız (Wir werden Femizide stoppen) trägt seit 2010 Daten zu Frauenmorden und verdächtigen Todesfällen zusammen. Doch noch nie zählte sie in einem Monat so viele Todesfälle wie im vergangenen Oktober: 48 Femizide und außerdem 23 Fälle, in denen Frauen unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden wurden. Ein besonders grausamer Fall löste Anfang Oktober eine (neue) Protestwelle aus: Ein Mann hatte in Istanbul innerhalb einer halben Stunde zwei Frauen, seine (Ex-)Partnerinnen İkbal Uzuner und Ayşenur Halil, getötet, ihre Körper zerstückelt und schließlich auf einem öffentlichen Platz Selbstmord begangen. In seiner Wohnung fand die Polizei Zeichnungen von abgetrennten Körperteilen der Opfer.
Während der Fokus in den Medien auf den psychischen Zustand des Täters gelenkt wird, weisen Aktivist*innen auf die Mitschuld des Staates hin. Bei den Protesten herrscht Einigkeit darüber, dass es sich bei diesem Doppelfemizid um ein Ergebnis frauenfeindlicher Politik und des patriarchalen Systems handelt. Die Redebeiträge und Slogans auf den Demonstrationen, die in der gesamten Türkei und in vielen Städten Europas stattfinden, thematisieren die Untätigkeit etwa der patriarchalen Justiz. »All diese Meldungen über Femizide sind kein Zufall, sie sind das Ergebnis der Politik der Straflosigkeit«, erklärte Wir werden Femizide stoppen auf X. Täter werden freigesprochen, Opfer beschuldigt. Die Regierung beteuert, Frauen zu schützen, während Polizei und Faschisten feministische Proteste angreifen. Täter werden durch die herrschende Straflosigkeit ermutigt, Betroffene und Aktivist*innen kriminalisiert.
Krieg gegen Frauen
Unter der AKP, die seit 22 Jahren das Land regiert (seit 2018 im Bündnis mit der extrem rechten MHP), werden die Selbstbestimmung und Rechte von Frauen und Queers angegriffen. Besonders die letzten Jahre waren eine Zeit eskalierender patriarchaler Gewalt und Repressionen gegen feministische Bewegungen, die neben der kurdischen Bewegung mit ihrer Fähigkeit, massenweise auf die Straße zu mobilisieren, zur wohl bedeutendsten oppositionellen Kraft gehört.
Der wohl offensichtlichste Ausdruck der zunehmend antifeministischen Politik war der Austritt der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, kurz Istanbul-Konvention, im Jahr 2021. Das Abkommen verpflichtet die unterzeichnenden Staaten zur Verfolgung von Straftätern, aber auch zur Entwicklung von Hilfsangeboten für Gewaltbetroffene und präventiven Maßnahmen. Den Rückzug hatte der türkische Präsident Erdoğan eigenständig per Dekret, also ohne eine Beteiligung des Parlaments, vollzogen, mit der Begründung, das Abkommen normalisiere Homosexualität und gefährde die »familiären und gesellschaftlichen Werte« der Türkei.
Seit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention ist ein deutlicher Anstieg von Femiziden und Fällen von patriarchaler Gewalt zu verzeichnen. Im Vergleich der Zahlen der Jahre 2020 und 2023 gab es einen Anstieg von Femiziden und verdächtigen Todesfällen um rund 20 Prozent. Besonders die Zahl der verzeichneten verdächtigen Todesfälle ist zwischen 2020 und 2023 um die Hälfte gestiegen – es liegt laut Aktivist*innen nahe, dass die Täter, oft (Ex-)Partner oder Ehemänner der Opfer, einen Mord immer öfter wie einen Unfall oder Suizid aussehen lassen. Immer weniger müssen sie dabei mit ernsthaften Ermittlungen und strafrechtlichen Konsequenzen rechnen.
Der Staat schützt nicht nur Täter und erleichtert damit Gewalt in Partnerschaften und in der Familie. Auch er selbst übt diese Gewalt aus, zum Beispiel in Form von militärischen Angriffen auf die Frauenrevolution in Rojava/Nordsyrien oder Femiziden an Aktivistinnen der kurdischen Freiheitsbewegung durch Operationen des türkischen Geheimdienstes. Darüber hinaus agiert der Staat repressiv gegenüber feministischen Vereinen, Organisationen und Medien oder verbietet und attackiert Aktionen zum 8. März oder zum Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November. Nicht umsonst sprechen Aktivist*innen seit Jahren von einem regelrechten Krieg des türkischen Staates gegen Frauen und Queers.
In der feministischen Bewegung herrschen Wut und Widerstand wie lange nicht mehr – gegen die Zwangsverwaltungen, gegen Staat und Politik, die Femizide begünstigen, und gegen die Unterdrückung von queeren und feministischen Kämpfen.
Patriarchaler Putsch
Inmitten der neuen Protestwelle gegen patriarchale Gewalt und Femizide wurden am 4. November die gewählten kurdischen Ko-Bürgermeister*innen der Gemeinden Xalfetî, Êlih und Mêrdîn von der linken DEM-Partei (Nachfolgepartei der HDP) abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Dieser Angriff steht auf den ersten Blick nicht im Zusammenhang mit der patriarchalen Politik des Staates, doch er bringt besonders Frauen und feministische Bewegungen auf die Straße. Sie protestieren in kurdischen Städten jeden Tag zu Hunderten und stellen sich unter »Jin Jiyan Azadî«-Rufen der staatlichen Gewalt entgegen. Nicht nur, weil das paritätische Ko-Vorsitzenden-System in Kurdistan eine Errungenschaft der Frauen ist, sondern auch, weil der Aufbau von Strukturen zur Ermächtigung und Organisierung von Frauen zu den zentralen Anliegen der DEM gehört. »Die kurdischen Frauen ihrer Errungenschaften zu berauben, die sie mit großer Willenskraft erkämpft haben, ist antikurdisch und frauenfeindlich zugleich«, erklärte die kurdische Frauenbewegung Tevgera Jinen Azad (TJA) in Nordkurdistan anlässlich der Absetzungen der Bürgermeister*innen und spricht von einem Putsch des patriarchalen Systems. Aber auch außerhalb der kurdischen Bewegung solidarisieren sich feministische und queere Aktivist*innen mit den von der Zwangsverwaltung betroffenen Gemeinden und reisen nach Nordkurdistan, um sich den Aktionen vor Ort anzuschließen. »Die Zwangsverwaltung ist ein Putsch gegen die Frauen«, heißt es dort auf vielen Bannern.
In den feministischen und queeren Solidaritätserklärungen drückt sich die gemeinsame Betroffenheit von staatlicher Gewalt aus. Das Komitee der Istanbuler Trans Pride Week etwa erklärte: »Diese Praktiken der männlichen Regierung, die darauf abzielen, den Willen von Kurd*innen und von trans Menschen zu brechen, kennen wir sehr gut.« Kurz vor dem 25. November herrscht Wut und Widerstand wie lange nicht mehr – gegen die Zwangsverwaltungen, gegen Staat und Politik, die Femizide begünstigen, und gegen die Unterdrückung von queeren und feministischen Kämpfen. Inmitten dieser Geschehnisse kommt aber erneut auch eine Solidarität zwischen verschiedenen Bewegungen zustande, die für den Staat und die AKP-MHP-Regierung besonders gefährlich ist. Sie vereint eine gemeinsame Haltung gegen staatliche Gewalt, frauen- und queerfeindliche Politik, Krieg, Ausbeutung und reaktionäre Kräfte.