analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 701 | International

In der Kriegsblase

Das politische Klima in Israel könnte kaum nationalistischer sein – doch es gibt auch andere Stimmen

Von Gil Shohat

Eindeutig die Ausnahme in israelischen Medien: Berichte über die Kriegszerstörungen im Gazastreifen. Foto: Wikimedia Common/Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages , CC BY-SA 3.0 Deed

Am Freitagmittag, den 26. Januar, lief in vielen israelischen Haushalten der Fernseher oder das Radio mit einer Liveschalte aus Den Haag. Im öffentlich-rechtlichen Radiosender Kan Reshet Bet kommentierte beispielsweise die Moderatorin Liat Regev gemeinsam mit einem Rechtsexperten von der Universität Tel Aviv fortlaufend die Urteilsverkündung des dortigen Internationalen Gerichtshofs der UN. Südafrika hatte einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung gegen Israel gestellt wegen der Gefahr eines Völkermordes im aktuellen Krieg in Gaza. Es ging Regev dabei weniger um das, was gesagt wurde, sondern vielmehr darum, ob dies nun auf eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung (»Völkermord oder kein Völkermord?«) hinweise. 

Als eine Richterin des Gerichtshofs an einer Stelle minutiös die immense Zerstörung der Infrastruktur sowie die horrend hohen Todeszahlen im Gazastreifen infolge der israelischen Bombardierungen und der dortigen Bodenoffensive beschrieb, schreckte Regev auf, als ob dies per se ein Hinweis auf eine zu drohende Verurteilung Israels sei. Der Rechtsexperte an ihrer Seite beruhigte: Dies seien lediglich die Fakten, für die Hörer*innen bestehe also kein Grund zur Sorge – Sorge vor einem, wie es die meisten israelischen politischen Kommentatoren sahen, historischen Tiefpunkt für den Ruf des Landes auf internationalem Parkett. 

Nachdem das Urteil gefallen war und damit auch die Anerkennung der Möglichkeit eines Völkermords durch das Gericht, drehte sich der Großteil der Analysen in Israel darum, dass das Gericht Israel nicht zu einem Stopp des Militäreinsatzes aufrief. Dass diese Entscheidung des Gerichts jedoch eine weitere Wegmarke darstellt in der internationalen Isolation des Landes, vor allem im sogenannten Globalen Süden, aber auch bei den traditionellen Alliierten Israels – das wurde wenig thematisiert. Es schien, als habe die Erleichterung über das Ausbleiben der Forderung nach einem Stopp des Krieges die Feststellung überwogen, dass dieser Krieg eine genozidale Komponente haben könnte. Die Tatsache, dass sich die Klage Südafrikas in Den Haag auf das »Verbrechen der Verbrechen« konzentrierte, so auch der derzeit dominierende Diskurs in der internationalen Linken, und nicht auf niedrigschwellig beweisbare Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hat vielleicht ungewollt das Gefühl der Mehrheit der israelischen Bevölkerung verstärkt, vor Gericht »davongekommen« zu sein.

Keine Werbepause ohne Kriegsparole

Die Analysen und Kommentare dieses 26. Januar spiegeln die Isoliertheit der konservativen und liberalen politischen Diskurse in Israel von der aktuellen internationalen Debatte über den Krieg in Gaza wider. Seit dem 7. Oktober befindet sich Israel nach dem Massaker der Hamas im Modus der permanenten Kriegssondersendungen. Das blau-weiß gestreifte Banner mit dem Motto »yachad nenazeach« (»Gemeinsam werden wir gewinnen«) wird alle paar Minuten eingeblendet, keine Werbepause vergeht ohne einen Bezug zum Krieg sowie zum propagierten nationalen Zusammenhalt. 

Israel ist ein Land, in dem Nachrichtensendungen, ähnlich wie in den USA, weniger der Information als der stundenlangen Unterhaltung dienen und in dem die Grenzen zwischen Nachricht, Analyse und Meinung regelmäßig verschwimmen. Die Folge: Fast den ganzen Tag sitzen sogenannte Expert*innen aus den TV-Sendern, aus Militär, Politik, Wissenschaft, aber auch Angehörige von israelischen Geiseln im Gazastreifen, in Fernsehstudios und diskutieren über die aktuelle Kriegssituation und das innenpolitische Chaos, in dem sich das Land gerade befindet. Und das fast ausschließlich aus jüdisch-israelischer Pro-Kriegs-Perspektive. Unterschiede gibt es lediglich in der Bewertung des Regierungshandelns und der – zweifellos elementaren – Frage, ob die Befreiung der israelischen Geiseln aus den Händen der Hamas oder die »totale Zerstörung« der Organisation das oberste Ziel von Regierung und Armee sein soll. So entsteht ein sich selbst reproduzierender, isolationistischer politischer Diskurs, der sich beinahe völlig von der Katastrophe abschottet, die sich gerade einmal 70 Kilometer südlich von Tel Aviv ereignet, den Nachrichtenangeboten in anderen Teilen der Welt teils diametral entgegensteht und aus dem die meisten (jüdischen) Israelis kaum noch herauskommen.

Auch auf der Seite der »Unterdrücker« braucht es Alliierte, die sich der in ihrem Namen verursachten Unterdrückung entgegenstellen.

Ganz selten bekommen die Zuschauer*innen dieser Dauersendungen Stimmen zu hören, die sich diesem Krieg und seinen unvorstellbaren Konsequenzen für die Palästinenser*innen im Gazastreifen entgegenstellen. Auch palästinensische Staatsbürger*innen Israels, die seit dem 7. Oktober mit erhöhter Repression und einer Einschüchterungskampagne konfrontiert sind, kommen fast nicht zu Wort. Hinzu kommt, dass linke palästinensische Knessetabgeordnete wie Ayman Odeh oder Ahmad Tibi aufgrund dieser Berichterstattung und des daraus resultierenden Klimas keine Einladungen in Fernsehstudios mehr annehmen. Wenn sich dann Kriegs- und Besatzungsgegner wie der Haaretz-Kolumnist Gideon Levy ins Studio wagen, dann bekommen sie in aller Regel weniger Redezeit als die anderen Gäste. Nicht selten greifen die Moderator*innen auch ein, wenn ihre Aussagen zu sehr an der Einigkeit der Kriegsbefürworter*innen kratzen. 

Einsamer Kampf der Linken für Gegenöffentlichkeit

Die parlamentarisch wie außerparlamentarisch ohnehin marginalisierte israelische Linke und das sich zu ihr zählende Antikriegs- und Friedenslager führen in diesen Wochen mehr denn je einen einsamen Kampf für eine progressive, auf Frieden und egalitärer Partnerschaft basierende Gegenöffentlichkeit. Sie sehen sich konfrontiert mit einer überwältigenden kriegsbefürwortenden öffentlichen Meinung, einem sich weiter entmenschlichenden öffentlichen Diskurs gegenüber Palästinenser*innen und Kriegsgegner*innen und verstärkter polizeilicher Repression und Schikanen gegen geplante Antikriegsdemonstrationen und Kundgebungen. Aktivist*innen, die sich gegen den aktuellen Krieg, für einen Waffenstillstand oder für eine jüdisch-palästinensische Partnerschaft auf Augenhöhe innerhalb Israels einsetzen, werden in den sozialen Medien massiv angefeindet und müssen sich genau überlegen, welche Statements sie abgeben und welche nicht. Sie agieren in dem nationalistischsten Klima und unter der rechtsradikalsten Regierung, die es jemals im Land gab. 

Nichtsdestotrotz gibt es auch und gerade in diesen düsteren Zeiten Solidaritätsinitiativen und Bündnisse, die zeigen, dass noch genügend Akteur*innen an eine gemeinsame, sozial gerechte und egalitäre Zukunft für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan glauben. So gibt es seit einigen Wochenenden wieder jeden Samstagabend in den Großstädten Jerusalem, Tel Aviv und Haifa Demonstrationen gegen den andauernden Kriegseinsatz Israels in Gaza, die Eskalation der Siedlergewalt im Westjordanland, für eine sofortige Freilassung der israelischen Geiseln (auch durch einen Gefangenenaustausch) und für eine politische Lösung des Konflikts mit den Palästinenser*innen. Diese Demonstrationen werden von Bündnissen aus der israelischen Zivilgesellschaft getragen, die kürzlich auch ein Statement mit der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand veröffentlichten. (1) Anfang Februar fand zudem in Haifa eine Konferenz der jüdisch-palästinensischen Graswurzelbewegung »Standing Together« statt, auf der mehr als 1.000 Menschen ins Kongresszentrum kamen, um gemeinsam Strategien für den Aufbau einer jüdisch-palästinensischen Massenbewegung in Israel zu diskutieren, die auf den Prinzipien der sozialen und Klimagerechtigkeit basiert.

Seit einigen Wochenenden finden Demonstrationen gegen den andauernden Kriegseinsatz Israels in Gaza statt.

Diese Initiativen, deren Ursprung bereits auf die Zeit vor dem 7. Oktober zurückgeht, könnten in Kürze auch auf der praktischen, tagespolitischen Ebene Wirkung zeigen. So bieten die wegen des Krieges mehrfach verschobenen Kommunalwahlen am 27. Februar eine Plattform für jüdisch-palästinensische Wahllisten, die sich aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien zusammensetzen. In Tel Aviv-Jaffa tritt etwa mit Amir Badran erstmals ein palästinensischer Staatsbürger Israels für das Amt des Oberbürgermeisters an – als Teil einer linken Wahlliste, bestehend aus der linkssozialistischen Chadasch und der auf soziale Gerechtigkeit und jüdisch-palästinensischen Partnerschaft begründeten Initiative »Ir Sgula« (Lila Stadt) sowie der dortigen Grünen Liste.

Organisierung und Solidarität

Trotz der immensen Bedeutung der lokalen Organisierung und Vergrößerung der unterschiedlichen Bewegungen vor Ort ist die israelische politische und zivilgesellschaftliche Linke fundamental auf politische Unterstützung und praktische Solidarität aus der internationalen Linken angewiesen – vorausgesetzt, diese erkennt die internen Herausforderungen dieser Akteur*innen an und sucht aktiv die Zusammenarbeit mit denjenigen, die die dramatische Lage im Land von innen heraus verändern wollen. 

Es ist verständlich, dass angesichts der andauernden israelischen Angriffe auf die Palästinenser*innen in Gaza (und im Westjordanland) der Fokus der internationalen linken Proteste auf der Mobilisierung gegen dieses andauernde Unrecht liegt. Gleichzeitig ist es gerade auch in diesem asymmetrischen Konflikt wichtig, Alliierte auf israelischer Seite zu unterstützen, die sich der in ihrem Namen verursachten Unterdrückung entgegenstellen. Dass dieser Widerstand innerhalb Israels aus politischen und strategischen Gründen anders aussehen muss als international, darf dabei kein Grund sein, diese so wichtige wie prekäre innere Opposition pauschal als nicht radikal genug und deshalb nicht unterstützenswert abzutun. Dies würde jedoch den Willen voraussetzen, neben all der Kritik an der historischen und gegenwärtigen israelischen Unterdrückung der Palästinenser*innen auch die komplexen Realitäten innerhalb Israels anzuerkennen und in dieser spezifischen Frage über das binäre Schema von Kolonisierenden und Kolonisierten hinauszudenken. Denn für jede Lösung, die das gleichberechtigte Zusammenleben aller Menschen in Israel und Palästina zur Prämisse hat und sich der ewigen Logik des Militarismus und Nihilismus widersetzt, braucht es eben auch die Solidarität mit Akteur*innen innerhalb Israels, die diese Vision gegen alle Widerstände artikulieren und politisch umsetzen wollen. 

Gil Shohat

ist als Sohn israelischer Eltern in Bonn aufgewachsen. Er ist Historiker und leitet derzeit das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Anmerkung:

1) Israel-Based Civil Society and Human Rights Organizations Call for a Ceasefire (7.2.2024), online unter: www.yesh-din.org.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Du kannst ak mit einem Förderabo untersützen. Probeabo gibt es natürlich auch.