Immer noch ansteckend
Staatliche Corona-Maßnahmen verstärkten zwar vielfach die Repression, doch der Protestzyklus von 2019 ist nicht abgeschlossen
Von Nelli Tügel
Vor einem Jahr widmeten wir uns in ak ausführlich der globalen Revolte 2019. Seitdem ist einiges geschehen – eine Pandemie hat viele Protestbewegungen ausgebremst, allerdings nur vorübergehend, und zugleich zu neuen sozialen Verwerfungen geführt. Neue Aufstände haben sich zudem in den Reigen der Revolten eingereiht: die Black-Lives-Matter-Bewegung etwa, die im Sommer 2020 nicht nur die USA erfasste, sondern auch viele Länder Europas, die Demokratiebewegung in Belarus, die Massenstreiks in Indonesien oder die Jugendrevolte in Nigeria. (Mehr dazu auf den folgenden Seiten)
Es ist unmöglich zu sagen, womit genau der Protestzyklus 2019 begann, doch fest steht, dass es in einer ganzen Reihe von Ländern zu monatelangen, zum Teil aufstandsartigen Protesten kam – mit regionalen Häufungen im Nahen und Mittleren Osten und in Lateinamerika.
Im Dezember 2018 gab es erste Demonstrationen in mehreren Städten des Sudans. Auslöser waren steigende Lebenshaltungskosten, doch schnell wurde daraus eine Massenbewegung gegen den Langzeitherrscher Al-Baschir, der am 11. April 2019 schließlich abtreten musste. Die Proteste gingen danach weiter und richteten sich auch gegen den Militärrat, der von Al-Baschir die Macht übernommen hatte. Nach dem Khartoum-Massaker im Juni 2019, bei dem Sicherheitskräfte mehr als 100 Demonstrierende ermordeten, reagierte die Bewegung mit einem mehrtägigen Generalstreik.
Im Februar 2019 brachen die Proteste in Algerien aus, nachdem Präsident Bouteflika angekündigt hatte, eine weitere Amtszeit anzustreben. Sie gingen auch nach dem Rücktritt Bouteflikas weiter und hielten mit wöchentlichen Großdemos bis ins Frühjahr 2020 an.
Ab Frühjahr 2019 wuchs die Protestbewegung in Hongkong Woche für Woche an. Im Herbst kam es dann zu einer Häufung weiterer Aufstände: Im Oktober und November gab es massive Proteste unter anderem in Irak, Iran, Libanon, Guinea, Ecuador, Chile und Kolumbien. Auch Puerto Rico, Haiti und – mit Katalonien die einzige europäische Ausnahme – Frankreich erlebten 2019 aufstandsartige Massenproteste.
Zwar wurde vielfach die Spontaneität der Revolte hervorgehoben: Gar so überraschend kamen die Proteste allerdings fast nirgendwo, denn überall gibt es eine lange Vorgeschichte an Versuchen, Ungerechtigkeiten und Unterdrückung ein Ende zu bereiten. In Lateinamerika gehören dazu besonders die – gemischten – Erfahrungen mit den Links- und Mitte-Links-Regierungen der Nullerjahre; in Irak, Libanon und Algerien der sogenannte Arabische Frühling von 2010/2011, natürlich auch das Gesellschaftsprojekt in Rojava; in Iran die Grüne Revolution von 2009 und weitere Protestzyklen in den Folgejahren, in Frankreich unter anderem die gescheiterten gewerkschaftlichen Kämpfe der vergangenen Jahre.
Aus den Revolten hat man hierzulande quasi nichts gelernt. Vielmehr ist das Thema im Frühjahr fast völlig auch aus den linken Debatten verschwunden.
Und nicht zuletzt steht im Hintergrund die globale Erfahrung der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009, die eine ganze Generation junger Menschen geprägt hat, die die Folgen dieser Krise tragen müssen und zugleich von gesellschaftlicher Teilhabe oftmals ausgeschlossen sind. Daher war es kaum überraschend, dass nicht nur überaus viele junge Menschen auf die Straßen gingen, sondern auch so genannte soziale Fragen wie auch Demokratiefragen großes Gewicht hatten. Alle genannten Bewegungen entzündeten sich entweder an der einen oder anderen Frage und erweiterten sich dann rasch zu einer grundlegenden Infragestellung der jeweiligen politischen und auch wirtschaftlichen Ordnungen.
Dass oft Preiserhöhungen oder Steuern – etwa in Iran, Irak, Libanon, Chile oder Ecuador – Auslöser der Aufstände waren, bedeutete allerdings nicht, dass die Begehren und Forderungen etwa feministischer oder indigener Aktivist*innen sich diesen Themen unterordneten. In Ecuador etwa waren es gerade die indigenen Mobilisierungen, die die Kraftprobe mit der Regierung zugunsten der Bewegung entschieden.
Feministische und indigene Bewegungen
Im Oktober 2019, als in Chile und Ecuador die Proteste begannen, fand in Argentinien das 34. sogenannte Nationale Frauentreffen in La Plata statt, an dem 200.000 Personen teilnahmen, so viele wie noch nie zuvor. Am feministischen Kampftag, dem 8. März 2020 – viereinhalb Monate nach Beginn der Proteste und kurz vor dem Corona-Lockdown –, demonstrierten allein in Chile zwei Millionen Menschen, in Mexiko gab es am 9. März einen Frauengeneralstreik. Die chilenische Performance des Künstlerinnenkollektivs Las Tesis, die zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, am 25. November 2019, aufgeführt wurde und staatliche patriarchale Gewalt anprangerte, wurde in vielen Teilen der Welt nachgeahmt. Heute werden die Initiatorinnen in Chile juristisch verfolgt. Auch in der Türkei stehen Feministinnen, die die Performance aufführten, vor Gericht.
Die Gleichzeitigkeit der feministischen Mobilisierungen und der Sozialproteste war kein Zufall, sondern Ausdruck manifester Verbindungen: Sie gehörten zusammen, so wie sich auch im Alltag soziale Ungerechtigkeit, Armut, patriarchale Gewalt, koloniale Kontinuitäten, Umweltzerstörung und Rassismus verbinden und nicht als voneinander getrennte Problematiken erfahren werden. Darin steckt auch eine Lehre für die deutsche linke Debatte, die seit Jahren kaum darüber hinaus kommt, über Priorisierungen von Themen zu streiten. Das Protestjahr 2019 hat solche Überlegungen als sinnlos entlarvt. Mario Neumann hatte vor einem Jahr in ak kritisiert, dass einem großen Teil der deutschen Linken das theoretische Werkzeug fehle, diese Phänomene zu erfassen und damit den oft aufstandsförmigen Ausdruck der genannten Massenbewegungen zu begreifen. Mir erschien die Kritik seinerzeit als pessimistisch – heute erweist sie sich, leider, als zutreffend. Aus dem Protestjahr 2019 hat man hierzulande quasi nichts gelernt, vielmehr ist das Thema bereits im Frühjahr, mit Beginn der Corona-Pandemie fast völlig auch aus den linken Debatten verschwunden.
Nicht verschwunden sind indes die Bewegungen. Allerdings haben Regierungen die Corona-Pandemie vielerorts genutzt, um die Menschen, die monatelanges Durchhaltevermögen und enormen Mut bewiesen hatten, endlich von den Straßen zu bekommen. Aber diese Abbrüche erweisen sich als nicht endgültig, sondern flüchtig, wie sich gerade in den vergangenen Wochen zeigte.
Was passierte in Sudan? Am 17. August 2019 hatte die sudanische Opposition mit dem Militärrat ein Abkommen unterzeichnet, eine Einigung auf eine gemeinsame Regierung und einen Reformprozess. 2020 gab es tatsächlich Reformen, unter anderem im Justizbereich, aber vielen aus der Bewegung gehen sie nicht weit genug und zu langsam. Daher gab es am 17. August 2020 – zum Jahrestag des Abkommens – erneut Proteste für eine Beschleunigung des Reformprozesses. Am 21. Oktober protestierten und streikten erneut Tausende in Sudan.
In Chile fand, ebenfalls Ende Oktober, das von der Protestbewegung unter anderem geforderte und mehrfach verschobene Verfassungsreferendum statt. Mit einer Mehrheit von fast 80 Prozent stimmten die Menschen für ein Ende der alten Verfassung. Ein Sieg ist das noch nicht, doch es macht deutlich: Die Protestbewegung in Chile lebt weiter, ihre Forderungen haben sich noch lange nicht erledigt. (Mehr auf Seite 20)
Eine bittere und bizarre Wende nahmen die Ereignisse im Libanon: Dort wurde, auch Ende Oktober, kein geringerer als Saad Al-Hariri wieder zum Ministerpräsidenten gemacht – also jener Politiker, den die Protestbewegung dort vor einem Jahr aus dem Amt vertrieben hatte.
Kehrseite der Stärke
Ein Merkmal, das in vielen Ländern die Revolten prägte, war, dass keine großen Gewerkschaften, Parteien oder Verbände im Zentrum dieser Bewegungen standen. Es gab und gibt natürlich Organisierungen, sowohl von den sozialen Bewegungen, die Teil der Aufstände waren, als auch solche, die sich in den Protesten erst bildeten, wie etwa Nachbarschaftskomitees. Und es existieren durchaus Unterschiede: In Sudan, Ecuador oder Hongkong etwa spielten die Organisationen der Opposition eine größere Rolle als im Irak oder in Frankreich, wo sie zum Teil offen abgelehnt, angefeindet und als Teil des Problems betrachtet wurden. Doch nirgendwo hatten wir es mit der klassischen Repräsentationspolitik früherer Zeiten zu tun.
Diese Stärke, die Heterogenität ermöglichte (und zugleich durch sie hervorgebracht wurde) und den Mächtigen eine Heidenangst einjagte, die oftmals nicht wussten, mit wem sie überhaupt verhandeln oder wen sie zwecks Einhegung umarmen sollten, hat auch eine Kehrseite. Die libanesische Aktivistin Lara Bitar sagte kürzlich im Interview mit medico international, die dortige Bewegung sei inzwischen »fragmentiert und desorganisiert«. Die Bewegung habe es nicht geschafft, »eine politische Front zu organisieren, die in der Lage wäre, der fortgesetzten, extrem gewaltsamen Reaktion des Staates zu begegnen und einen politischen Plan zu entwickeln.«
Das, was also die Bewegung so stark und einzigartig gemacht hat, führt nun auch dazu, dass sie nicht weiterkommt – eine Widersprüchlichkeit, die nicht allein den Libanon betrifft. Bewegungen leben von Erfolgen. Kurzfristig konnten die Aufstände viel erreichen: Regierungschefs mussten den Hut nehmen, Maßnahmen wurden zurückgezogen. Langfristige und tiefgreifende Veränderungen sind schwieriger zu erkämpfen. Die Anliegen aber sind nicht vergessen, es ist gut möglich, sogar wahrscheinlich, dass in den Ländern der Revolte im kommenden Jahr wieder auf sie und mit neuem Nachdruck auf die Straßen zurückgekommen werden wird – anderswo wie in Belarus, Indonesien oder Nigeria haben sich bereits neue Bewegungen den Begehren der Revolte angenommen.