Im Unruhestand
Im spanischen Staat mobilisiert eine breite Basisbewegung von Rentner*innen gegen den Rückbau des öffentlichen Altersversorgungssystems
Von Jan Tillmanns
Den Lebensabend im warmen Süden an der spanischen Costa del Sol zu verbringen, ist für viele Angehörige der Mittelklassen Mittel- und Nordeuropas mehr als eine schöne Idee. Ob eigene Finca oder Seniorenwohngemeinschaft: In einschlägigen Foren und auf den Seiten von Immobilienvermittlern präsentiert sich ein lebhafter Markt rund um die Altersruhe an Spaniens Gestaden.
Im spanischen Staat stehen dagegen immer mehr Menschen vor der tagtäglichen Herausforderung mit einer Rente am oder unter dem Existenzminimum über die Runden kommen zu müssen. Der wärmende Anorak sei bereits weit mehr als zehn Jahre alt, berichtet die Rentnerin Josefa Serrano aus Madrid im Gespräch mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst. Strümpfe und Unterwäsche kaufe sie bei »Fliegenden Händlern« auf dem Wühltisch. Sie beziehe eine Rente von 800 Euro. Damit läge sie noch deutlich über dem Durchschnitt. Doch zur Deckung ihres täglichen Lebensbedarfs, so Serrano, reiche dies schon lange nicht mehr.
Altersarmut ist bittere Realität
Altersarmut als Massenphänomen sei im spanischen Staat mittlerweile zur bitteren Realität geworden, berichtet Andrea Uña, eine der Sprecher*innen des Movimiento Pensionistas Bizkaia (MPB), am Rande einer Konferenz der Baskischen Rentner*innenbewegung im November 2021. Dabei trage diese eindeutig ein weibliches Gesicht. Laut Uña liege dies nicht daran, dass Frauen nicht gearbeitet hätten. Im Gegenteil, viele Frauen hätten hart gearbeitet. Oft in prekären und schlecht bezahlten Jobs, zu denen viele von ihnen noch zusätzlich häusliche Sorgearbeit wie Kindererziehung und Pflege von Angehörigen geleistet hätten. Sie hätten ihre Arbeit deshalb – oft unfreiwillig – teilweise oder dauerhaft aufgeben müssen, was für diese Frauen heute zu einer Kürzung ihrer Rentenbezüge führe, so die MPB-Sprecherin weiter. Daher sei eine ihrer zentralen Forderungen eine zum Leben ausreichende Mindestrente von 1.080 Euro.
Dies würde insbesondere eine erhebliche Verbesserung der »Witwenrenten« darstellen. Allein in der Baskischen Autonomen Gemeinschaft beziehen fast 100.000 verwitwete Frauen ein solches Renteneinkommen. Ein Viertel von ihnen erhält weniger als 700 Euro. Zudem fordert das MPB eine grundlegende Veränderung des Rentenberechnungssystems, bei der andere Faktoren, wie beispielsweise häusliche Sorgearbeit, anerkannt und mit in die Berechnung einbezogen würden.
Viele Aktivist*innen sehen das spanische Rentensystem kurz vor dem Kollaps.
Viele Aktivist*innen sehen das spanische Rentensystem kurz vor dem Kollaps. Zum einen hatten Regierungen verschiedener politischer Couleur im Zeitraum von mehreren Jahrzehnten über 500 Milliarden Euro aus der staatlichen Rentenkasse entnommen und »zweckentfremdet«. So wurde unter dem damaligen Ministerpräsidenten José María Aznar von der christdemokratischen Partido Popular im Jahr 2000 begonnen, mit Überschüssen aus der Sozialversicherung einen kapitalgedeckten Reservefonds aufzubauen. 2012 verabschiedete die Regierung von Mariano Rajoy (ebenfalls Partido Popular) ein Gesetz, das ihr erlaubte, den Fonds anzuzapfen. Zudem zeichnen sich auch in Spanien massive demographische Veränderung ab. Das Kippen der Bevölkerungspyramide und der bevorstehende Renteneintritt der sogenannten Baby-Boomer*innen-Generation belasten das Rentensystem. Hinzu kommt eine zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen in Folge der Arbeitsmarktreformen der konservativen Rajoy-Administration in den 2010er Jahren. Das Lohnniveau sank, und die nach Einkommen gestaffelten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung fielen entsprechend niedriger aus.
Druck auf das Rentensystem
Nun steht die amtierende linke Minderheitsregierung aus der sozialdemokratischen PSOE und der linken ehemaligen Protestpartei Podemos unter Ministerpräsident Sanchez (PSOE) seit Beginn ihrer Legislatur vor der Aufgabe, eine erneute Reform des Rentensystems durchzuführen. Dabei setzt der zuständige parteilose Minister José Luis Escrivá auf eine Erhöhung des Renteneintrittsalters, eine nochmalige Verringerung der Rentenbezüge und die Teilprivatisierung der Altersvorsorge. Bei ihren Reformbemühungen steht die amtierende Regierung unter massivem Druck von zwei Seiten. Der kommt einerseits vom internationalen Finanzkapital und ist mit der Erfüllung der Auflagen verbunden, die an die Genehmigung der Gelder aus dem Wiederaufbaufonds der EU infolge der Corona-Pandemie geknüpft waren. Und andererseits kommt Druck von der Bewegung der Rentner*innen.
Was 2018 als lokaler politischer Protest in Form wöchentlicher Montagsdemonstrationen vor dem Rathaus der baskischen Stadt Bilbao begann, hat sich mittlerweile zu einer Basisbewegung über den gesamten Staat ausgebreitet. Die lokalen Gruppen haben sich im Laufe der Zeit in einem Dachverband, dem Coordinadora Estatal por la Defensa del Sistema Público de Pensiones (COESPE), das Landesweite Koordinierungsbündnis zum Schutz des öffentlichen Rentensystems, zusammengeschlossen.
Das Bündnis fordert die Verteidigung des öffentlichen Sicherungssystems gegen die zunehmende Privatisierung sowie ebenfalls eine zum Leben ausreichende Mindestrente von 1.080 Euro und die Überwindung geschlechtsspezifischer Unterschiede sowohl bei den Renten als auch bei den Gehältern.
Seit ihrem Bestehen hat die Bewegung eine Vielzahl von lokalen und überregionalen Kampagnen organisiert. So mobilisierte COESPE Mitte November vergangenen Jahres in unzähligen Städten und Regionen des Landes mehrere zehntausend Menschen zum Protest gegen die Rentenpläne der Sanchez-Administration. Unterstützt wird die Bewegung durch eine große Breite von Arbeiter*innenorganisationen, von der linkssozialistischen baskischen Gewerkschaft LAB (Langile Abertzaleen Batzordeak) über die ehemals kommunistisch geprägten CCOO (Comisiones Obreras) bis hin zur sozialdemokratischen UGT (Unión General de Trabajadores). Im Baskenland ist die Rentner*innenbewegung fester Bestandteil der linken Unabhängigkeitsbewegung. Deren Organisationen bezogen die politischen Forderungen der »Pensionistas« in ihre Mobilisierung zu einem eintägigen Generalstreik der baskischen Gewerkschaften LAB und ELA im Januar 2020 mit ein, sowie bei der Massendemonstration »Lortu Arte«, »Bis es erreicht ist – Für ein Baskenland der Freien und Gleichen«, im November 2021.
Protest in Brüssel
Mittlerweile hat die Bewegung ihre politischen Forderungen um weitere Aspekte der sozialen Daseinsvorsorge ergänzt. So riefen die baskischen Sektionen am 22. Januar mit vielen anderen Organisationen zu Demonstrationen gegen den drohenden Zusammenbruch des baskischen Gesundheitsdienstes Osakidetza auf und unterstützen die Mobilisierungen gegen die geplante Arbeitsmarktreform der PSOE-Podemos-Regierung. Im ländlichen Raum wurde gegen den Rückbau der sozialen Infrastruktur, wie etwa die Schließung von Bankfilialen und Lebensmittelmärkten, mobil gemacht.
Eine Lösung der Rentenfrage, so die Überzeugung vieler Bewegungsaktivist*innen, könne nur auf europäischer Ebene Erfolg haben. Deshalb rief das Bündnis im Herbst letzten Jahres – unter Pandemiebedingungen – auf, nach Brüssel zu kommen, um sich dort einerseits Gehör bei politischen Entscheidungsträger*innen zu verschaffen und andererseits eine internationale Vernetzung von Rentner*innen zu initiieren. »Es ist ein symbolischer Akt, zum Europäischen Parlament zu gehen, um zu zeigen, dass wir die Gesetzgebung der Europäischen Kommission zu den paneuropäischen Pensionsplänen ablehnen. Diese zielen darauf ab, öffentliche Pensionen in private umzuwandeln und somit europäische Banken zu begünstigen, ohne die öffentlichen Pensionen zu garantieren«, sagte Ramón Franquesa, Sprecher von COESPE in Katalonien und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Barcelona in den Sozialen Medien.
Nach fünf Jahren ihres Bestehens hat die Bewegung der Rentner*innen erreicht, dass eine Debatte über die Verteidigung des öffentlichen Rentensystems aus dem politischen und medialen Alltagsdiskurs nicht mehr wegzudenken ist. Sie konnte die Politik dazu bringen die unzulässige Verwendung von Geldern aus dem Pensionsfonds öffentlich einzugestehen und sich symbolisch zu verpflichten, derlei Veruntreuung in Zukunft zu verhindern. Schließlich konnte die Bewegung den Druck so weit erhöhen, dass die spanische Regierung gesetzliche Regelungen, wie zum Beispiel bestimmte Faktoren bei der Rentenberechnung, zurückzunehmen bzw. erst gar nicht in Erwägung zu ziehen.
Zudem ist eine breite Bewegung entstanden, die sich als Teil eines emanzipatorischen, solidarischen und generationenübergreifenden Projekts begreift. Eine Bewegung von deren Perspektiven die Linke im deutschsprachigen Raum lernen kann, denn der Umbau des Rentensystems ist auch hier im Gange (Stichwort: Aktienrente).
Nicht nur im spanischen Staat
In der Bundesrepublik verfolgten unterschiedliche Regierungen die letzten Jahrzehnte ähnliche Pläne wie die spanischen Regierungen. Aus Geldern der öffentlichen Rentenkasse wurden Gelder unter anderem zur Finanzierung der sogenannten »deutschen Wiedervereinigung« entnommen, die Lebensarbeitszeit wurde angehoben und die Privatsierung des Rentensystems spätestens seit der Ära Schröder vorangetrieben. Eine Abkehr von diesem Paradigma wird es auch unter der Ampelkoalition nicht geben.
So wissen immer mehr Rentner*innen auch in der BRD nicht mehr, wie sie von ihren Altersbezügen die explodierenden Wohn- und Energiekosten finanzieren sollen. Im ländlichen Raum ist der Rückbau der (sozialen) Infrastruktur in vollem Gange. Durch die Schließung von immer mehr Ärzt*innenpraxen werden die Wege nicht nur, aber vor allem für ältere Menschen immer weiter und beschwerlicher.
Ein Diskurs über die öffentliche Altersvorsorge scheint in der BRD ausschließlich in den Strukturen von Sozialverbänden und Gewerkschaften sowie in der Partei »Die Linke« eine größere Rolle zu spielen. In den sozialen Bewegungen kommt dieses Thema derzeit jedoch kaum vor. Ein Blick nach Spanien würde lohnen.