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|ak 714 | International

Im Plenum für den Rechtsstaat

Die Protestbewegung in Serbien wächst weiter. Ihre Forderungen sind minimalistisch – ihre Organisationsform radikaldemokratisch

Von Lucia Steinwender

Zwei junge Frauen mit blau gefärbten Haaren inmitten einer Menschenmenge pusten in Trillerpfeifen
Die von Studierenden initierte Bewegung hat geschafft, was noch niemandem gelungen ist: Zuspruch aus allen Bevölkerungsgruppen mobilisiert und die Regierung Vučić ins Schwitzen gebracht. Foto: picture alliance / Reuters | Djordje Kojadinovic

Seit bald fünf Monaten toben in Serbien Proteste. Ausgelöst wurden sie vom tödlichen Einsturz eines Vordachs am Bahnhof von Novi Sad letzten November. (ak 712) Der Einsturz war mutmaßlich Folge der Korruption der Regierung bei der Auftragsvergabe während der Sanierung des Bahnhofs – und der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Denn nach 13 Jahren an der Macht hat Aleksandar Vučićs Fortschrittspartei (SNS) weite Teile des Staates unter ihre Kontrolle gebracht. Ob für eine ärztliche Behandlung oder einen Job: »Ohne Beziehungen zur Regierungspartei geht nichts«, sagt die 28-jährige Studentin Jovana Ilić von der Landwirtschaftlichen Fakultät der Uni Belgrad.

Immer wieder gab es dagegen in den letzten Jahren Proteste. Diese gingen jedoch selten über oppositionelle Hochburgen in Großstädten wie Belgrad oder Novi Sad hinaus. Die aktuelle Bewegung hingegen ist weit ins Hinterland vorgedrungen. In unzähligen Kleinstädten im ganzen Land werden Schulen bestreikt oder Kreuzungen blockiert.

Vučićs Imperium bröckelt

Dabei sitzt die Regierungspartei SNS hier traditionell besonders fest im Sattel. Fernab der Anonymität der Großstädte muss um seinen Job fürchten, wer sich kritisch äußert. Wer dagegen Loyalität zur Partei beweist, bekommt kleine Vorteile: eine Arztbehandlung, einen Job in der Gemeinde oder finanzielle Goodies. »Sendvičari« werden die SNS-Anhänger genannt, die – angeblich für den Lohn eines Sandwichs – in Bussen zu Vučićs Gegenprotesten gekarrt werden. Nicht umsonst hat die SNS sage und schreibe 700.000 Mitglieder. Das sind gut zehn Prozent der Bevölkerung.

Nun aber bröckelt ihr Imperium. »In meiner Kleinstadt war bis vor wenigen Wochen noch nichts von den Protesten zu spüren. Die Menschen hatten einfach zu große Angst. Aber die Bilder von den riesigen Demonstrationen in anderen Städten haben viele ermutigt, auch auf die Straße zu gehen«, sagt Jovana Ilić. Hunderttausende mobilisierten die Studierenden zu Großdemonstrationen in diversen Städten des Landes, wie Kragujevac oder Niš. Den Weg dahin legten viele Jüngere in mehrtägigen Fußmärschen zurück. Unter Jubel wurden sie dabei in Dörfern entlang der Route empfangen – und das, obwohl die mehrheitlich ältere Bevölkerung hier oft ausschließlich Zugang zu regierungsnahen Medien hat. Doch gegen die neue Studierendenbewegung scheint Vučićs übliche Propaganda nicht zu greifen. Im Gegensatz zu den etablierten Oppositionsparteien genießt sie in der Bevölkerung großes Vertrauen. Denn sie ist ein politisch unbeschriebenes Blatt – und bemüht sich, es zu bleiben. Erfolgreich grenzt sie sich von jeder Parteipolitik ab und erntet damit deutlich breiteren Zuspruch als viele Anti-Regierungsproteste der letzten Jahre.

Minimaler Inhalt, maximale Anschlussfähigkeit

Auch die alles andere als gewagten Forderungen machen die Studierendenbewegung anschlussfähig. Sie beschränken sich im Wesentlichen darauf, dass rechtsstaatliche Institutionen wie die Justiz oder die Medien ihrer Arbeit nachkommen sollen. Darin können sich Menschen quer durch alle Altersgruppen, Milieus und politischen Lager wiederfinden. Zum bisherigen Höhepunkt der Proteste am 15. März kamen mehrere Hunderttausend in die Hauptstadt Belgrad. Es war eine wilde Mischung: Studierende mit bunt gefärbten Haaren und Nasenpiercings sperrten die Straße für Biker in schwarzer Ledermontur ab. Bedrohlich ließen die ihre Motorräder durch die Belgrader Innenstadt heulen. Vor dem Parlament standen Militärveteranen Spalier (1), daneben Traktoren. Rechtsnationalist*innen, pro-westliche Liberale und Linke haben sich den Protesten ebenso angeschlossen wie Bauern und Bäuerinnen, die bisher nichts mit Politik am Hut hatten. Selbst unter Vučić-Anhänger*innen hat sich die Unterstützung für die Forderungen der Bewegung seit Dezember verdoppelt, zeigt eine Studie der NGO CRTA.

Aleksandar Vučić bringt das langsam gehörig ins Schwitzen. Bisher hat keine seiner Einschüchterungsstrategien gewirkt – weder Verhaftungen noch offene Gewalt. Immer wieder werden Demonstrierende von Anhängern der Regierungspartei angegriffen, mehrmals rasten Autos in Menschenmengen. Bei der Massendemonstration am 15. März wurde mit einer unbekannten Schallwaffe in die Menge gefeuert. Das Innenministerium dementierte zunächst, überhaupt im Besitz einer solchen Waffe zu sein. Dann räumte man ein, die Schallkanonen schon 2021 beschafft zu haben. Für die Organisation CRTA besteht kein Zweifel, dass der Staat die Waffe gegen die Demonstrierenden eingesetzt hat – »um Panik und Chaos auszulösen«.

Keiner dieser Angriffe konnte die Proteste bisher zum Verstummen bringen. Größer dürfte die Gefahr der Ermüdung sein. Wie lang können Massen mobilisiert werden, bis die Proteste – wie jene der letzten Jahre – abflachen? Noch macht Vučić keinerlei Anstalten, das Feld zu räumen. Die neue Regierung, die bis 18. April gebildet werden soll, werde wieder unter der autokratischen Kontrolle des Präsidenten stehen, kritisiert die Opposition.

Ein Bürger*innenrat im Belgrader Bezirk Palilula diskutiert, ob beim nächsten Protest Eier auf das Gemeindeamt geworfen werden sollen. Das Plädoyer einer älteren Dame dafür wird mit Mehrheit angenommen.

Auch geopolitisch ist Vučić bestens abgesichert: Er pflegt ebenso gute Beziehungen zur EU wie zu Russland und China. Auf internationale Unterstützung kann die junge Widerstandsbewegung also nicht zählen. Auch eine klare Strategie, wie man ihn vom Thron stoßen könnte, scheint sie bisher nicht zu haben. Zwar fordern einige besetzte Fakultäten eine unabhängige Übergangsregierung, die Bedingungen für freie Wahlen im Land schaffen soll. Eine Kraft, die Vučić bei diesen herausfordern könnte, zeichnet sich bisher aber nicht ab. Schließlich ist die Studierendenbewegung gerade deshalb so erfolgreich, weil sie nicht auf Parteipolitik setzt.

In Parteipolitik hat ein Großteil der Bevölkerung ohnehin das Vertrauen verloren. Unter der Regierung der Demokratischen Partei kam es in den 2000er Jahren zu einer rapiden Privatisierung, von der ausländisches Kapital profitierte. Die Bevölkerung hingegen verarmte. An das Wohlstandsversprechen des Westens glauben heute nicht mehr viele. »Wir brauchen tiefgreifende, systemische Veränderungen«, sagt der Landwirt Radovan Pivarski, der am 15. März mit seinem Traktor in die Hauptstadt Belgrad gekommen ist.

Radikale Demokratie, wiederbelebte Räte

Wie eine solche systemische Veränderung aussehen könnte, machen die Studierenden vor. Während sich ihre Forderungen auf die Einhaltung des Rechtsstaats beschränken, sind ihre Organisationsformen alles andere als konservativ. Radikaldemokratisch werden Entscheidungen in großen Plena in den besetzten Universitäten getroffen. Führungspersonen oder Sprecher*innen gibt es keine – koordiniert wird durch wechselnde Delegierte. »So könnten wir die ganze Gesellschaft organisieren«, meint Student Filip von der Fakultät der Darstellenden Künste der Uni Belgrad in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: »Stellt euch mal vor, die Bauern einer Region treffen sich alle zusammen im Plenum und bestimmen einen Kandidaten zur Wahl als Landwirtschaftsminister.«

Tatsächlich breitet sich das basisdemokratische Versammlungsmodell von den Universitäten in andere Teile der Gesellschaft aus. Seit einigen Wochen entstehen quer durch das Land Bürger*innenräte. Die sogenannten »zborovi« sind ein Erbe des sozialistischen Jugoslawiens. Als Instrument der lokalen Selbstverwaltung sind sie in Serbien bis heute gesetzlich verankert, wurden in den letzten Jahrzehnten jedoch kaum praktiziert. Bis die Studierenden im März ein Handbuch zur Organisierung solcher Räte herausgaben – und zahlreiche Gemeinden ihrer Aufforderung nachkamen. Im Belgrader Bezirk Palilula sind zum ersten »zbor« am 23. März etwa 350 Menschen gekommen. Durch ein Megafon erklären die Moderator*innen Gesprächsregeln und Handzeichen. Diskutiert wird unter anderem, ob beim nächsten Protest Eier auf das Gemeindeamt geworfen werden sollen. Das Plädoyer einer älteren Dame sorgt für zustimmendes Wedeln: Der Eierwurf wird mehrheitlich angenommen.

Statt auf Machtübernahme von oben setzt die neue Bewegung in Serbien also auf Selbstorganisierung von unten. Könnten daraus nachhaltige Strukturen entstehen? Zumindest an Universitäten und Schulen zeichnet sich das ab. In Solidarität mit den Studierendenprotesten legten seit Mitte Januar Tausende Lehrer*innen ihre Arbeit nieder. Weil die repräsentativen Gewerkschaften ihren Kampf nicht unterstützten, gründeten die Pädagog*innen nun ihre eigenen landesweiten Streikverbände.

Auch einige Bündnisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen entstehen aus dem Aufstand gegen die autokratische Regierung: In Belgrad werden Proteste von Busfahrer*innen gegen die Privatisierung des Öffentlichen Verkehrs von der Studierendenbewegung unterstützt. Auch mit den großen Gewerkschaften arbeitet sie neuerdings zusammen. Gemeinsam will man eine Änderung des Streikrechts durchsetzen. Dies ist einer der (bislang) noch seltenen gezielten Versuche, das aktuelle politische Momentum zu nutzen, um dem unter Druck geratenen Regime Zugeständnisse abzuringen und nachhaltig zu verfestigen. Entstehen über solche Kämpfe langfristige Bündnisse und Organisierung in Universitäten, Nachbarschaften und am Arbeitsplatz, könnte die Bewegung gegen Vučić an Ausdauer gewinnen. Die wird sie brauchen.

Welche politischen Visionen sich dabei für eine mögliche postautokratische Zukunft durchsetzen, ist in der heterogenen Bewegung noch stark umkämpft. Vučić selbst warnt, mit den Plena der Studierenden werde auch der »Bolschewismus« im Land Einzug erhalten. Zu Aufnahmen von händewedelnden Bürger*innen in Versammlungen wird in Fernsehtalkshows diskutiert, ob die wiederbelebten Räte (»zborovi«) Serbien in die Anarchie führen könnten. Die Studierenden äußern sich dazu nicht. Zumindest offiziell beharrt die führende Kraft der Protestbewegung auf ihrer Minimalforderung: der Einhaltung des Rechtsstaats.

Lucia Steinwender

ist freie Journalistin in Belgrad.

Anmerkung:

1) Auch die 63. Fallschirmbrigade ist auf den Demonstrationen vertreten. Sie war laut dem Internationalen Tribunal in Den Haag bei Kriegsverbrechen im Kosovo anwesend.

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