Hohe Müllberge, große Erwartungen
Auf lauwarmen Herbst folgt heißer Streikfrühling – doch zeigt der halbgare Abschluss bei der Post, dass es damit auch schnell wieder vorbei sein könnte
Von Nelli Tügel
Einige Tage Warnstreik bei der Berliner Stadtreinigung BSR reichten aus, um die rasch in die Höhe wachsenden Müllberge zu einem der wichtigsten Themen in der Hauptstadt werden zu lassen. Noch während die öffentliche Diskussion über das neue Müllproblem anlief, kündigte die Gewerkschaft ver.di weitere Warnstreiks der BSR an. Und parallel legten Kolleg*innen ein weiteres Mal selbstbewusst unter anderem an den Krankenhäusern die Arbeit nieder. Zeitgleich wärmten sich die bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG organisierten Bahn-Beschäftigten vor dem Berliner Hauptbahnhof mit ersten Aktionen schon einmal auf.
Diejenigen, die noch nicht auf dem Schirm hatten, dass nach Post und Öffentlichem Dienst auch bei der Deutschen Bahn eine Tarifauseinandersetzung stattfindet, die Ende März von ersten größeren (Warn)Streiks begleitet werden könnte, dürfte die Aktion vor dem Hauptbahnhof und die Nachricht vom 15. März, derzufolge die EVG ein Arbeitgeberangebot als inakzeptabel ablehnte, in Schrecken versetzt haben. Oder aber sie könnte für einen wohligen Schauer gesorgt haben, je nachdem wie man es hält mit dem Klassenkampf.
So oder so: Dass drei so große Auseinandersetzungen sich zeitlich überschneidend stattfinden und die Erwartungen der Beschäftigten, auch konfrontativ Lohnerhöhungen durchzusetzen, hoch sind, gab es lange nicht mehr – am ehesten vielleicht 2015, als unter anderem Sozial- und Erziehungsdienst, Post und Bahn sowie Charité in Berlin streikten. Und der Streikfrühling wird uns wohl noch ein paar Wochen beschäftigten. Angesichts der Rekord-Inflation sind die Lohnforderungen entsprechend hoch: 10,5 Prozent bzw. mindestens 500 oder 200 Euro (für Auszubildende) mehr im Monat für den Öffentlichen Dienst; zwölf Prozent bzw. mindestens 650 Euro mehr pro Monat bei der Bahn – stets eine Laufzeit von nur zwölf Monaten, um nicht in einem Jahr wieder mit Reallohnverlusten konfrontiert zu sein, sondern die Möglichkeit zu haben, die Tarife dann nochmals anheben und dafür auch streiken zu können. Außerhalb von Tarifrunden, während der sogenannten Friedenspflicht ist das nämlich nicht möglich, zumindest nicht legal.
Und die vergangenen Wochen zeigen deutlich: Es gibt eine hohe Streikbereitschaft unter den Beschäftigten und – vor allem in Bereichen des Öffentlichen Dienstes, die schon in den vergangenen Jahren kampfstark waren, etwa an den Krankenhäusern – einen spürbar offensiveren Umgang mit dem Mittel des Warnstreiks. Angesichts der vielen und langen Warnstreiks scheint einigen schon die Muffe zu gehen bei dem Gedanken, was erst los wäre, käme es zu einer Streik-Urabstimmung im Öffentlichen Dienst – was übrigens das allererste Mal seit Bestehen des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) wäre.
Kämpferisch ohne Kampf
Mit dem voraussichtlichen Abschluss der ersten der drei großen Tarifrunden – bei der Post – und der kurzfristigen Absage eines unbefristeten Erzwingungsstreiks durch ver.di wird jedoch ein leider nicht so gutes Zeichen gesetzt, dessen Folgen für die anderen Auseinandersetzungen noch nicht absehbar sind.
Bei der Post hatte die Gewerkschaft eine Tarifsteigerung von 15 Prozent für die Beschäftigten und ebenfalls eine Laufzeit des Tarifvertrags von zwölf Monaten gefordert. Nach gescheiterten Gesprächen führte ver.di dann Anfang März eine Urabstimmung durch, in der knapp 86 Prozent der Mitglieder das letzte Arbeitgeberangebot ablehnten und damit für unbefristeten Streik stimmten.
Sofort nach der Verkündung des Urabstimmungsergebnisses am 9. März reagierte das Post-Management und zeigte sich zu einer letzten Gesprächsrunde und neuen Kompromissen bereit, um den Streik doch noch abzuwenden. Nach betont langer Sitzung verkündeten beide Seiten dann am 11. März eine Einigung. Ver.di bezeichnete das Ergebnis als Erfolg der Streikandrohung und schlägt es den Mitgliedern nun in einer bis zum 30. März laufenden erneuten Urabstimmung zur Annahme vor. Diesmal müssen – wie üblich – nur 25 Prozent »Ja« sagen (während in der Urabstimmung für Streik 75 Prozent nötig sind).
Das neue Angebot beinhaltet im Wesentlichen eine durchschnittliche Lohnsteigerung von elf Prozent, allerdings bei einer Laufzeit von 24 statt 12 Monaten, was zu einem großen Problem werden könnte, gerade bei anhaltender Inflation. Schon jetzt ist klar, dass dies Reallohnverlust bedeutet, einer zusätzlichen gestückelten, steuerfreien und damit auch nicht tabellenwirksamen Einmalzahlung (Inflationsausgleichsprämie), die ebenfalls vereinbart wurde, zum Trotz.
Seit der Präsentation dieses Ergebnisses wird die (zumindest öffentlich so wahrgenommene) Kehrtwende der ver.di-Verhandler*innen auch in gewerkschaftlichen Kreisen äußerst kontrovers diskutiert, vor allem ist das Unverständnis darüber groß, warum ver.di ein Angebot, das sich in der breiten Einschätzung nur unwesentlich von dem jetzigen unterschied, als inakzeptabel abgelehnt und die Urabstimmung über Streik eingeleitet hatte, um dann nur leichte Verbesserungen als Erfolg zu bezeichnen und zur Annahme zu empfehlen. »Unterm Strich ist das Angebot nicht wesentlich besser als das erste, wird aber umso besser verkauft«, heißt es in einer ersten Auswertung von der Kampagne »Genug ist Genug«, die die Tarifauseinandersetzung bei der Post schon sehr früh begleitet hatte. »Die öffentliche Kommunikation von ver.di ist komplett gegensätzlich zu vor einer Woche und ähnelt jetzt der ursprünglichen Arbeitgeber-Kommunikation.« Die Stimmung unter den Kolleg*innen sei mies, eine Veränderungsbewegung innerhalb von ver.di nötig.
»Es rumort auch ganz schön in den Chats aus dem Betrieb. Die Mitglieder sind jetzt enttäuscht, es wird nicht leicht sein, das einzufangen.«
Ein*e Kolleg*in von der Post
Ein*e Kolleg*in von der Post, die*der anonym bleiben möchte, schildert gegenüber ak Ähnliches: »Es rumort auch ganz schön in den Chats aus dem Betrieb, vor allem die Tatsache, dass die Inflationsprämie auf Teilzeit umgerechnet werden muss, stößt auf. Die Mitglieder sind jetzt enttäuscht, es wird nicht leicht sein, das einzufangen, aber ich denke auch nicht, dass mehr als 75 Prozent das Angebot ablehnen werden. Eines gibt mir zu denken: Ich hatte schon letzte Woche gehört, dass die Post ein weiteres Angebot in der Tasche hat… öffentlich hat ver.di allerdings so getan, als wären sie überrascht gewesen und als hätte die Urabstimmung die Post unter Druck gesetzt. Ich denke, das stimmt nicht, und ich denke, man hat sich da ganz gut mit der Post verabredet, damit die Gewerkschaft Gesicht wahren kann.« Der*die Kolleg*in äußert zudem die Vermutung, dass die zu Beginn der ersten Urabstimmung platzierte Drohung des Post-Managements, aus dem Briefgeschäft auszusteigen, bei den ver.di-Verhandler*innen gewirkt habe. »Gesichtswahrend wurde daraufhin Streikbereitschaft simuliert«, sagt sie*er. Aber das sei möglicherweise nie ernst gemeint gewesen.
So oder so: Bei vielen Kolleg*innen hatte die Urabstimmung über den Streik sicherlich echte Erwartungen geschürt. Im Zuge der Auseinandersetzungen bei Post und Öffentlichem Dienst waren in den vergangenen Wochen auch 45.000 Mitglieder bei ver.di eingetreten, bestimmt nicht wegen der Lohnsteuerberatung. Auf der anderen Seite war ver.di, so hört man, trotz des Urabstimmungsergebnisses unsicher, was die Streikbereitschaft für eine harte Auseinandersetzung betraf.
Es gebe »heftige Diskussionen« über das Ergebnis, schrieb auf Twitter die Post-Arbeiterin und Gewerkschafterin Isa Senff. Die Frage, wie sie selbst abstimmen werde und welches Ergebnis sie erwarte, ließ sie dort bewusst unbeantwortet.
Es gibt zweifelsohne bei der Post Unmut gegenüber der eigenen Gewerkschaft. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis angenommen wird, ist dennoch recht hoch, allein schon, weil es dafür nur 25 Prozent Zustimmung braucht. Allerdings: Eine zwar formal ausreichende, aber niedrige Zustimmung zu dem Ergebnis wäre für ver.di ein Problem. Ende März soll das Ergebnis feststehen.
Verkehrsstreik Ende März?
Was bei der Post geschehen ist, wird natürlich auch von jenen Kolleg*innen aufmerksam verfolgt, die sich gerade im Öffentlichen Dienst oder bei der Bahn warmlaufen. Eine große Frage ist: Wird es abfärben auf die, wie gesagt, sehr entschlossen und konfliktorientiert gestarteten anderen Tarifrunden?
Bisher lassen sich die dort Verantwortlichen und auch die Kolleg*innen nichts anmerken. Für mediale Schockwellen sorgte Mitte März die Nachricht, dass ver.di und EVG Ende des Monats gemeinsame Verkehrsstreiks planten (in ak war das bereits Mitte Februar zu lesen, die entsprechenden Pläne gibt es schon lange). Als dann noch ein erneuter Warnstreik des Sicherheitspersonals an den Flughäfen für weitreichende Flugausfälle sorgte, brannte bei einigen die Sicherung durch. Flüge UND Bahn bestreiken, das gehe »zu weit«, empörte sich etwa die Ex-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner von der CDU.
Andere waren nicht ganz so giftig, aber dafür mit höherem cringe Faktor unterwegs: »Bock auf Arbeit« ist eine neue Parole, die die Bundesagentur für Arbeit und der Arbeitgeberlobbyverein BDA offenbar gemeinsam groß machen wollen. So groß ist die Verzweiflung über fehlende Fachkräfte mit Bereitschaft, sich zu miesen Konditionen ausbeuten zu lassen, schon. Dies übrigens, also der Fachkräftemangel, ist eine nicht zu unterschätzende Machtressource der Beschäftigten in den aktuellen Auseinandersetzungen, gerade im Öffentlichen Dienst. Über »Bock auf Arbeit« können hier viele nur müde lächeln. Bock auf Streik ist gerade schon eher angesagt. Hoffentlich bleibt es noch ein bisschen so – auch bei der ver.di-Führung.