Hoffen auf Lula und das Lieferkettengesetz
Jair Bolsonaro hat in seiner Amtszeit Gewerkschaften diffamiert und geschwächt – in Brasiliens wichtigem Obstsektor formieren sie sich nun neu
Von Knut Henkel
Zwei verschiedene Sorten von Weintrauben baut Doña María im Tal des Sāo Francisco an. Die weitläufige Senke im Nordosten des Landes ist die Obstkammer Brasiliens, und Gewerkschaften sind auf den Plantagen längst nicht immer gern gesehen, erzählt Arbeitsrechtsexperte Carlos Eduardo Chaves Silva. Der 40-jährige Anwalt mit dem pechschwarzen Bart und dem lichten Haupthaar arbeitet für die Gewerkschaft der Landarbeiter*innen (Contar). Selten hat er das Vergnügen mit Kolleg*innen wie José Manoel dos Santos und María Samara de Souza eine Obstplantage in der rund 40.000 Hektar großen Region zu besuchen, wo mehr als 96 Prozent der Mangos und fast alle Weintrauben herkommen, die Brasilien exportiert.
»In aller Regel«, erklärt José Manoel dos Santos, »treffen wir die Arbeiter*innen morgens vor dem Werkstor und tauschen uns dann aus«, so der Mann von Mitte 30. Sein Dorf ist umgeben von Plantagen: großen mit mehr als 1.000 Mitarbeiter*innen und kleinen mit gerade 60. Nach zehn Monaten Reifezeit werden dort die Weintrauben von den Rebstöcken geschnitten, deren Zweige mit Schnüren an einer Holzkonstruktion fixiert sind, so dass sie einen grünen Blätterteppich in etwa 1,60 Meter Höhe bilden. »Das ist die traditionelle Anbaumethode«, so María Samara de Souza. Die 32-Jährige mit den langen, dunkelbraunen Haaren und der verspiegelten Sonnenbrille ist ein neues Gesicht in Brasiliens Landarbeiter*innen-Gewerkschaft Contar. Erst vor ein paar Wochen ist sie an die Spitze der Gewerkschaft im Bundesstaat Bahia gewählt worden. Dort, im Nordosten Brasiliens, ist die Arbeiter*innen-Vertretung gut aufgestellt. Rund fünfzig Prozent der Erntearbeiter*innen sind in dem Agrarstaat gewerkschaftlich organisiert, berichtet Carlos Eduardo Chaves Silva. Er freut sich, dass er mit María Samara de Souza erstmals eine Chefin hat. Sie kommt von unten, hat noch vor drei, vier Jahren selbst in den Rebstöcken gestanden, Triebe beschnitten und Trauben geerntet.
Fake News und Korruptionsvorwürfe
Geschickt lässt de Souza ein paar kleine Trauben, die in etwa zwei Monaten reif sein dürften, durch die Finger gleiten, klemmt zwei überflüssige Triebe ab, obwohl sie heute nur zu Besuch ist auf der 17 Hektar großen Farm von Doña María (Name von der Redaktion geändert). Das gute Verhältnis der Gewerkschaft zu der Unternehmerin ist dafür verantwortlich, dass der Spaziergang der Gewerkschaftsdelegation mit ihren Gästen über die Plantage möglich wurde. Ungewöhnlich in der Region, durch die sich ein tiefer Graben zieht. »Brasilien ist ein gespaltenes Land. Die einen mit Lula, die anderen mit Bolsonaro«, sagt María Samara de Souza und nickt Doña María anerkennend zu. Die Unternehmerin muss sich auf Kritik ihrer Brüder einstellen, die beide deutlich größere Weintrauben-Plantagen betreiben, falls die Gewerkschaftsvisite publik werden sollte. Die politischen Gräben ziehen sich durch die Familien.
Jair Bolsonaro hat keine Chance ausgelassen, um von den Arbeiter*innen erkämpfte Rechte zu beschneiden. Das hat die rund 15.000 Gewerkschaften Brasiliens, die in zwölf Dachverbänden organisiert sind, in die Defensive gedrängt. Permanent im Verteidigungsmodus habe sich auch die mit 24 Millionen Mitgliedern größte gewerkschaftliche Dachorganisation, die CUT, befunden, so Anwalt Carlos Eduardo Chaves Silva. Er hat in den letzten sechs Jahren immer wieder mit Klagen und Streitigkeiten zu tun gehabt, auch rund um die Finanzierung der Gewerkschaft Contar. Die erhielt dank eines korporatistischen Verfassungspassus automatisch von den Arbeiter*innen ihren Obolus vom Lohn – so wie alle anderen Gewerkschaften auch. Geschichte, denn die Regelung wurde bereits 2017 im Rahmen einer neoliberalen Arbeitsrechtsreform unter der Regie des korrupten Ex-Präsidenten Michel Temer gestrichen. Für viele Gewerkschaften ein massiver finanzieller Nackenschlag, aber etliche begrüßen die Entscheidung, weil sie davon überzeugt sind, dass Beiträge auf Freiwilligkeit beruhen sollten. So auch José Manoel dos Santos, der 2008 in die Gewerkschaft eintrat und seit 2009 Funktionen in der Landarbeiter*innen-Gewerkschaft Contar bekleidet. »Wir müssen uns neu aufstellen, transparenter mit den Beiträgen unserer Mitglieder umgehen und brauchen mehr Frauen in der ersten Reihe«, so der mittelgroße Mann, der eine Baseballkappe mit dem Logo der CUT trägt.
Glaubwürdigkeit muss nicht nur die Arbeiterpartei (PT) von Präsident Lula da Silva zurückerlangen, sondern auch die Gewerkschaften, die über Jahre mit Fake News und Diffamierungen in die Ecke der Korruption gestellt wurde. Partiell zu Recht, meist jedoch zu Unrecht, und die Verbreitung von Unwahrheiten gehörte unter der Regie von Jair Bolsonaro zur Politikstrategie. Dazu gehörten auch die Angriffe auf die Gewerkschaften: Im brasilianischen Nationalkongress wurde bereits eine Verfassungsänderung debattiert, die die Koalitionsfreiheit, also die Freiheit zur Gründung von Gewerkschaften, ersatzlos hätte kippen sollen. Der gewerkschaftliche Supergau blieb allerdings aus, und das begrüßen auch progressive Unternehmer*innen wie Doña María. Sie ist froh, ein verlässliches Gegenüber in den Tarifverhandlungen zu haben, auch wenn sie heute schlicht nicht weiß, wie sie die Lohnerhöhung von 1302 Reais, umgerechnet 235 Euro, auf 1420 Reais (256 Euro) im Monat finanzieren soll, die bei den laufenden Tarifverhandlungen von der Contar anvisiert werden. »Dann muss ich schließen«, warnt sie lapidar. Ähnlich argumentieren viele Unternehmer*innen in Brasilien, wo sich das Gros der Anbauflächen, aber auch der Bankeinlagen und Immobilien in der Hand einer relativ dünnen Schicht befindet.
Über eine Millionen Jobs im Obstexport
Brasilien weist die höchste Land- und Einkommenskonzentration in ganz Lateinamerika auf, und diese Konzentration hat sich unter der Regierung von Jair Bolsonaro weiter verschärft, argumentieren Nichtregierungsorganisation wie Réporter. Die NGO arbeitet zu sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen in Brasilien, die systematische Verletzung grundlegender Arbeits-, aber auch indigener Rechte. Polarisierende Themen im Brasilien von 2023, so Réporter-Geschäftsfüher Leo Sakamoto, der auf den Anstieg der Arbeitsrechtsverletzungen in den letzten vier Jahren hinweist. Ein Beispiel sei die faktische Versklavung von Arbeiter*innen im Kaffeesektor von Minas Gerais, wofür das Arbeitsministerium etliche Beweise vorgelegt habe. Einer der Gründe dafür, so Studien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), sei die Tatsache, dass unter der Bolsonaro-Regierung die Zahl der Inspektionen durch das Arbeitsministerium stark rückläufig gewesen sei. Die Etats für Inspektionen seien radikal zusammengestrichen worden. »Nun müssen erst neue Inspektionsteams aufgebaut werden, landesweit werde händeringend nach neuen Inspektoren gesucht«, so Sakamoto.
Die Gewerkschaft der Landarbeiter*innen hofft auf Unterstützung von großen Importeuren wie Deutschland, wo das Lieferkettengesetz seit dem 1. Januar in Kraft ist.
Fakten, die auch von den Verantwortlichen im Arbeitsministerium von Salvador de la Bahia, der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia, bestätigt werden. Zu Bahia gehört auch das Tal des Sāo Francisco mit dem gleichnamigen Fluss. Der liefert der semiariden Region die nötige Feuchtigkeit, um sowohl Mangos als auch Weintrauben en gros zu produzieren. Mehr als 43 Millionen Tonnen Mangos und Weintrauben werden im Schnitt pro Jahr in Brasiliens Obstkammer geerntet. 250.000 direkte und rund 900.000 indirekte Jobs hängen am Obstexport, der zumindest teilweise unter prekären Arbeitsbedingungen stattfindet. Nicht so auf der Traubenplantage von Doña María, wo der offizielle Mindestlohn von 1302 Reais gezahlt und nicht unterlaufen wird. Letzteres kommt allerdings durchaus vor, so die drei Contar-Spezialisten unisono. Sie hoffen auf Unterstützung von großen Importeuren wie Deutschland, wo das Lieferkettengesetz seit dem 1. Januar in Kraft ist und die Rechte der Landarbeiter*innen besser schützen könnte. Wie das in der Realität aussehen könnte, darüber wird sich Arbeitsrechtsspezialist Carlos Eduardo Chaves Silva Ende Februar nicht nur in Deutschland ein Bild machen. »Wir haben eine gewisse Erwartungshaltung«, meint er und hofft, dass auch das europäische Lieferkettengesetz in diesem Jahr kommen wird und einen weiteren positiven Schub bringen könne. »Internationaler Druck für den Schutz der Arbeitsrechte in Brasilien ist ausdrücklich erwünscht«, so Silva.
Pestizide: Bolsonaros Erbe
Positiv könnte sich dabei auch die Durchführung von Tests auswirken, um Pestizidrückstände in Lebensmittel zu vermeiden. Bei Kaffee ist es bereits zur Rücksendung von gelieferter Bioqualität gekommen, weil sie Rückstände von Pestiziden enthielten. Das könnte auch bei Weintrauben und Mangos passieren, wo laut Gewerkschaftsangaben bis zu 36 verschiedene Pestizide zum Einsatz kommen. Die werden meist von Traktoren aus per Sprühvorrichtung ausgebracht und das in steigender Menge, so Contar-Gewerkschaftlerin María Samara de Souza. »In Brasilien sind Pestizide legal im Einsatz, die in Europa verbannt sind. Das könnte für den Export der saftigen Ware durchaus zum Problem werden,«, meint die Gewerkschaftlerin. Dass ganze Container mit Mango und Trauben aufgrund von Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln zurückgesandt werden, hält die 32-Jährige für realistisch. Für die Fruchtunternehmen wäre das ein Desaster und eine direkte Folge von vier Jahren Jair Bolsonaro. Dessen Regierung hat mehrere Dutzend neuer Schädlingsbekämpfungsmittel frei gegeben, und das könnte zum Bumerang werden.
Für die neue Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva könnte das Rückenwind bringen beim Rückbau jener Maßnahmen, die Jair Bolsonaro angeordnet hat und die zumindest einem Teil von dessen Wähler*innen nun massive Schwierigkeiten machen könnten. Unstrittig ist jedoch, dass es mehr als eine Legislaturperiode dauern wird, um all das zu korrigieren und zu reparieren, was Jair Bolsonaro verbrochen und beschädigt hat. Die Spuren, die er hinterlasssen hat, sind tief.