»Uns geht es nicht um Sündenböcke«
Drei Jahre nach dem Anschlag von Hanau sind noch viele Fragen unbeantwortet – einem Untersuchungsausschuss mangelt es an Aufklärungswillen
Von Cihan Balıkçı
Schon drei Jahre sind vergangen, seit ein Rassist und Verschwörungsideologe am 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven erschoss, bevor er seine Mutter und sich selbst tötete. Auch dieses Jahr wird es am 19. Februar in Hanau und bundesweit Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen geben, die an die Ermordeten erinnern und Aufklärung fordern, wie es zu dem Anschlag kommen konnte.
Jene Aufklärung soll ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag leisten, der seit mehr als einem Jahr öffentlich tagt. Nachdem der Ausschuss vor allem auf Initiative der Angehörigen der Ermordeten durchgesetzt wurde, erreichten diese – und dies war ein Novum in einem hessischen Untersuchungsausschuss zu rechtem Terror – dass Angehörige und Überlebende zuerst sprechen konnten. Erst dann begann der Ausschuss mit der Anhörung von Sachverständigen und der Befragung von Zeug*innen. Jedoch wird der Einsatz für Aufklärung von Angehörigen und Unterstützer*innen, die sich in der Initiative 19. Februar zusammenfinden, nicht von allen Behörden positiv aufgenommen.
Polizeipräsident: »Angehörige suchen Ersatz-Sündenbock«
Der Präsident des für Hanau zuständigen Polizeipräsidiums Südosthessen, Eberhard Möller, sagte in einem Interview 2021 mit der Offenbach-Post, für die Angehörigen, der in Hanau Ermordeten sei die Polizei der »Ersatz-Sündenbock«, weil sie ihre »Sühnegedanken« nicht mehr an den Täter loswerden können. Diesem Vorwurf widersprach Niculescu Păun in seiner Aussage vor dem Ausschuss ausdrücklich: Ihnen, den Eltern, Geschwistern und Partner*innen der Getöteten gehe es nicht um Sündenböcke, wie es ihnen von dem Polizeipräsidenten unterstellt werde. »Wir wollen Aufklärung zu den vielen, vielen Fehlern und offenen Fragen«, so Păun.
Auch wenn kein*e andere*r Politiker*in oder Behördenvertreter*in es wagt, dies so offen auszusprechen wie Möller, ist er nicht der einzige, der so denkt: In vielen Kommentarspalten zu Artikeln über den Untersuchungsausschuss wird ebenjener Vorwurf immer wieder laut und es entsteht der Eindruck, dass dieser Gedanke auch bei einigen Abgeordneten im Ausschuss unausgesprochen die Arbeit bestimmen könnte.
Dass eine Landesregierung in Untersuchungsausschüssen zuvorderst daran ein Interesse hat, die eigenen Behörden von Fehlern freizusprechen und diese entweder bei städtischen Behörden sieht oder gänzlich leugnet, ist gang und gäbe. Eine Besonderheit dieses Ausschusses ist, wie wenig die CDU, vertreten durch ihren Obmann Jörg Michael Müller, sich die Mühe macht, dies zu verschleiern. Müller liefert in seinen Fragen an die Zeug*innen die für sie genehme Antwort mitunter suggestiv auf dem Silbertablett, sodass diese seine Frage nur noch bejahen müssen.
Müller hat eine besondere Rolle im Ausschuss. Als Obmann der CDU-Fraktion hat er nicht nur das erste Fragerecht der Fraktionen, mit seiner cholerischen Art dominiert er den Ausschuss zu großen Teilen. Während er selbst in seinen Fragen mit Fakten nicht immer ganz genau ist und die Grenzen des jeweiligen Beweisthemas mitunter ausreizt, moniert er eben dies bei anderen Abgeordneten und unterbricht die öffentlichen Sitzungen regelmäßig für Beschwerden hierüber. Ebenso, wenn in den Befragungen zu sehr die Rolle des hessischen Innenministers Peter Beuth thematisiert wird. Wenn Zeug*innen oder Sachverständige nicht das sagen, was er hören möchte, zeigt er demonstrativ Ignoranz, verlässt den Saal, um sich einen Kaffee zu holen, führt mit Kolleg*innen laute Gespräche oder setzt sich in die letzte Reihe, um auf seinem Handy zu tippen.
Niederträchtige »Witze«
Diese kindischen Auftritte sind aber leider nicht die einzigen Entgleisungen, die im Ausschuss passieren: Als die Angehörigen der Ermordeten in den ersten Sitzungen von ihren traumatischen Erlebnissen sprachen, schenkten Abgeordnete von CDU und FDP lieber ihrer Zeitung ihre Aufmerksamkeit oder schauten den Livestream zur CDU-Vorsitzendenwahl. Als vergangenen November der Landtag wegen eines Fehlalarms verlassen werden musste, machte ein Vertreter des hessischen Innenministeriums mit Sitz im Ausschuss vor der Tür einen »Witz« über einen verschlossenen Notausgang und dass dieser nicht auf Anweisung seiner Behörde verschlossen war. Abgeordnete der CDU lachten hierüber. So berichtete es die Sprecherin der Initiative 19. Februar Newroz Duman, die nur wenige Meter entfernt stand und dies mithörte. Die CDU leugnete den Vorfall später und verhinderte dessen Thematisierung in einer öffentlichen Sitzung.
Kindischen Auftritte sind leider nicht die einzigen Entgleisungen, die im Ausschuss passieren.
Jener »Witz« ist deswegen so perfide, weil am zweiten Tatort des Anschlags, der Arena-Bar in Hanau Kesselstadt, ein verschlossener Notausgang dazu führte, dass die in der Bar Anwesenden nicht dorthin flüchten konnten. Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi starben in diesen Momenten. Ein von Forensic Architecture erstelltes Gutachten kam zu dem Schluss, dass beide hätten überleben können, wären sie zum Notausgang geflüchtet. Ehemalige Gäste und Mitarbeiter*innen der Bar berichteten, der Betreiber hätte den Notausgang auf Anweisung der Polizei verschlossen, damit bei Razzien zum Beispiel wegen des Jugendschutzgesetzes Gäste nicht mehr durch diesen flüchten konnten. Ob dem so war und wer diesen Auftrag erteilt hat, konnte der Ausschuss nicht abschließend aufklären. Bei der Polizei will man hiervon nichts wissen. Diese und das Ordnungsamt schieben sich außerdem gegenseitig die Schuld zu, warum dem Barbetreiber nicht vorher schon wegen des verschlossenen Notausgangs die Lizenz entzogen wurde. Der Barbetreiber selbst will ebenfalls von allem nichts gewusst haben, machte in seiner ganzen Aussage aber vor allem unglaubwürdige Angaben.
Es sind solche Unfassbarkeiten wie der »Witz« des Ministeriumsvertreters, die sowohl an einem Mindestmaß an menschlichem Mitgefühl als auch an dem Aufklärungswillen bei den lachenden Abgeordneten zweifeln lassen. Dabei wäre ein ernst gemeinter Aufklärungswille bitter nötig, denn auch nach über einem Jahr öffentlicher Sitzungen sind nur wenige der Fragen, wie es zu diesem Anschlag kommen konnte, geklärt.
Wenig Klarheit
Es stellt sich beispielsweise noch immer die Frage, wie der Täter von Hanau legal Waffen besitzen konnte, obwohl er mehrfach durch Straftaten oder wegen psychischen Wahnvorstellungen auffiel. Zuletzt stellte er im November 2019, drei Monate vor der Tat, Anzeigen bei der Bundesanwaltschaft und Staatsanwaltschaft Hanau, die voller paranoider Verschwörungsideologien waren. Gerade Schreiben an Behörden können ein Warnsignal für eine bevorstehende Gewalttat sein, berichtete eine Sachverständige im Ausschuss. Wie genau die Waffenerlaubnis des Täters zustande kam, ist jedoch nicht geklärt: Alle Mitarbeiter der Behörde verweigerten im Ausschuss die Aussage wegen eines laufenden Disziplinarverfahrens. Und die Staatsanwälte, die die Klagen von November 2019 bearbeiteten, wurden nicht einmal als Zeug*innen geladen.
Der Ausschuss konnte bisher nur sehr wenige Glieder der »Kette des Versagens« vor, während und nach der Tat, wie die Initiative 19. Februar es nannte, wirklich aufklären. Und dort, wo er eventuell Klarheit schaffte, vermisst man weiterhin das Eingeständnis von Fehlern seitens der Behörden.
Ein Beispiel hierfür ist die Aussage von Jürgen Fehler, dem Leiter der Polizeidirektion Main-Kinzig. Dieser wurde danach befragt, wie es sein konnte, dass Piter Minnemann, der den Anschlag gerade traumatisiert überlebt hatte, von der Polizei alleine durch die Nacht zur nächsten Polizeistation auf der anderen Seite der Stadt geschickt wurde, anstatt ihn zu versorgen und zur Wache zu fahren. Hierauf antwortete Fehler, dass er es für möglich halte, seine Kolleg*innen hätten Piter Minnemann erkannt und sich aufgrund von »persönlichen Befindlichkeiten« gedacht: »Du kannst mal schön laufen!« Ein Vertreter der Polizei gibt also ohne ein Wort des Bedauerns im Ausschuss offen zu, dass er es für möglich hält, dass seine Kolleg*innen einen schwer traumatisierten Jugendlichen nicht angemessen versorgten, weil sie gegen ihn eine persönliche Abneigung hegten.
Eingeschränkter Polizeinotruf
Dass der Ausschuss alle offenen Fragen klären wird, ist sehr unwahrscheinlich. Wegen der hessischen Landtagswahl im Herbst muss der Ausschuss einige Wochen vorher seinen Abschlussbericht veröffentlichen. Bis Juli sind nur noch bis zu fünf öffentliche Sitzungen mit Zeug*innenanhörungen geplant. Aller Voraussicht nach wird es dabei bleiben, dass im Ausschuss zwar alle relevanten Themen angeschnitten werden, die staatliche Aufklärung, wie der Anschlag generell und in dieser Form geschehen konnte, aber nur an der Oberfläche kratzt.
Denn eine umfassende Aufklärung einzelner Fragenkomplexe würde neben einer besseren und tiefer bohrenden Befragung durch die Abgeordneten ein bedeutend höheres Maß an Zeug*innenladungen und somit eine höhere Dichte an Sitzungen bedeuten, die zuletzt nur einmal im Monat stattfanden.
Ein Beispiel ist das Thema Polizeinotruf: Dieser funktionierte in Hanau und Umgebung fast 20 Jahre nur eingeschränkt. Die zwei Notrufleitungen in der Wache Hanau 1 waren nicht durchgehend besetzt, eine Weiterleitung nicht angenommener Notrufe auf andere Wachen bestand nicht. Villi Viorel Păun versuchte in der Tatnacht mehrfach erfolglos den Notruf zu erreichen, um über die Position des Täters zu informieren, bevor er schließlich von diesem erschossen wurde. Als Grund für die fehlende Zentralisierung des Notrufs, die in anderen Teilen des Landes bereits abgeschlossen war, nannten Behördenvertreter*innen im Ausschuss die Verzögerung beim Neubau des Polizeipräsidiums. Doch wer genau im Innenministerium entschied, dass eine mit Mehrkosten verbundene Interimslösung, die dazu hätte führen können, dass Villi Viorel Păun den Notruf erreichte, sich nicht lohne angesichts des anstehenden Neubaus, hat der Ausschuss nicht aufgeklärt. Um der Antwort überhaupt nahezukommen, hätten wohl eine Reihe weiterer Zeug*innen von dem Ausschuss befragt werden müssen statt den Verantwortlichen, die allesamt behaupteten, nichts von dem fehlerhaften Notruf gewusst zu haben.
Es bleibt also wohl oder übel weiterhin die Aufgabe von Aktivist*innen, allen voran der Initiative 19. Februar selbst, sich mit dem zu erwartenden Schlussstrich der staatlichen Aufklärung des Anschlags in Hanau nicht abspeisen zu lassen. Stattdessen müssen die weiterhin bestehenden offenen Fragen in der Öffentlichkeit gehalten werden und wie mit den Gutachten von Forensic Architecture die Aufklärung selbst in die Hand genommen werden.