Ganz schön platt gemacht
Ohne, dass ihnen individuelle Straftaten nachgewiesen werden konnten, wurden zwei G20-Gegner*innen im Rondenbarg-Verfahren schuldig gesprochen
Von Gaston Kirsche
Drei Anläufe hat die Hamburger Justiz genommen, und nun im dritten Prozess gegen zwei Teilnehmer*innen einer der kleinsten Demonstrationen während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg einen Schuldspruch erwirkt. Die beiden Angeklagten hätten sich des Landfriedensbruchs und der Beihilfe zu gefährlicher Körperverletzung sowie zu Angriffen auf Polizeibeamte schuldig gemacht, so das Gericht. Eine individuelle Tatbeteiligung konnte ihnen nicht nachgewiesen werden. Dennoch wurden beide zu Geldstrafen verurteilt: Der Angeklagte Nils Jansen erhielt als Student eine Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen à 15 Euro. Die mitangeklagte Erzieherin Gabi Müller (Name geändert), die wie Jansen in Berlin lebt, muss 90 Tagessätze à 40 Euro zahlen. 40 Tagessätze gelten davon wegen überlanger Verfahrensdauer als bereits vollstreckt.
Die Falle vom Rondenbarg
Die Straße Rondenbarg liegt in einem Industriegebiet mit einem Recyclinghof und einem Bauwagenplatz. Hier waren nur wenig Unbeteiligte auf der Straße, als die berüchtigte Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaft (BFHu) Blumberg aus Brandenburg – eine Spezialeinheiten der Bundespolizei zur Terrorismusbekämpfung – am Morgen des 7. Juli 2017 den kleinen Aufzug von etwa 200 Leuten innerhalb einer Minute überrannte und auflöste.
In der Videoaufzeichnung des Leitfahrzeugs der BFHu ist ein Kommentar des für die Aufnahme zuständigen Beamten zu hören: »Die haben sie aber schön platt gemacht, alter Schwede«. Die Staatsanwaltschaft versuchte, mit umfangreicher Kriminalisierung den überdimensionierten Polizeieinsatz – 34.000 Beamte waren beim G20-Gipfel beteiligt – und die exzessive Polizeigewalt im Nachhinein zu legitimieren. Aber auch wenn alle von Demonstrierenden gegen Polizist*innen erstatteten Anzeigen folgenlos blieben – räumte die Richterin Sonja Boddin nun ein, dass es Polizeigewalt gegeben habe.
Das Urteil gegen die zwei G20-Gegner*innen fiel dennoch. Zwar blieb das Gericht unterhalb der Forderungen der Staatsanwaltschaft, die Verteidigung kritisierte das Urteil trotzdem scharf: »Das heutige Urteil stellt einen schweren Angriff auf das Demonstrationsrecht dar«, so Rechtsanwalt Adrian Wedel: »Der ›Schwarze Finger‹ war eine nach Artikel 8 des Grundgesetzes geschützte Versammlung, die brutal von der Polizei zerschlagen wurde. Während die Polizeigewalt am Rondenbarg bis heute nicht aufgeklärt ist, werden die Protestierenden nun für Straftaten verantwortlich gemacht, die sie nicht begangen haben.«
Die Verteidigung sieht in dem Urteil einen Rückfall hinter den sogenannten Brokdorf-Beschluss. »Im Brokdorf-Beschluss von 1985 hat das Bundesverfassungsgericht eine Grundsatzentscheidung zum Versammlungsrecht abgegeben«, erklärt Gabi Müller im Gespräch: »Hintergrund war eine Demonstration, die 1981 verboten wurde. Dagegen wurde erfolgreich geklagt. Der Beschluss macht klar, dass niemand in Mithaftung genommen werden kann, nur weil ein Teil auf einer Demo strafbare Handlungen begeht. Der Schutz der Versammlungsfreiheit bleibt also auch dann erhalten, wenn es bei einer Demonstration zu Ausschreitungen kommt. Ohne individuellen Tatnachweis darf man nicht in Haftung genommen werden.«
Der unbedingte Verfolgungswille
Die Zwischenbilanz nach 965 Verfahren gegen 1.288 Personen im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 zeigt: Ein glatter Durchmarsch sind die Prozesse für die Staatsanwaltschaft nicht. Die komplette Kriminalisierung des zivilen Ungehorsams und der Proteste läuft nicht rund, es gibt Widerspruch.
Trotzdem machte Gabi Müller eine ähnlich surreale Erfahrung, wie schon Angeklagte in anderen Verfahren: »Beim Plädoyer der Staatsanwaltschaft bekommt man den Eindruck, dass sie 22 Prozesstage lang geschlafen hat. Sie wiederholte in vielen Punkten einfach den Stand der Anklage von Beginn des Prozesses. Sie ging auch so gut wie gar nicht auf Widersprüche oder Gegenargumente ein. Beispielsweise hält sie weiterhin an der Behauptung fest, ein Auto der Polizeieinheit aus Eutin sei auf der Schnackenburgallee mit Steinen beworfen worden – obwohl selbst der Fahrer des besagen Autos ausgesagt hat, er habe davon nichts gesehen.«
Die 12. Strafkammer bestand auf einer Verurteilung, obwohl die ausführliche Beweisführung die Darstellung der Staatsanwaltschaft ad absurdum geführt habe: »Wesentlich ist auch, dass selbst die Beweismittel und Argumente, die die Staatsanwaltschaft anführt, nicht zu halten sind«, so Gabi Müller: »Beispielsweise gibt es keine zerstörte Bushaltestelle, kein Marschieren im geschlossenen Block, keine Uniformierung, die Steinwürfe in der Schnackenburgallee konnten nicht belegt werden, wurden eher widerlegt und auch die Herkunft der vor Ort gefundenen Gegenstände ist völlig unklar.« Die Polizei hatte Werkzeuge als Beweismittel vorgelegt. Diese hätten genauso gut vom unmittelbar angrenzenden Bauwagenplatz stammen können. Im Polizeivideo ist zu hören, wie ein Polizist sagt »sammelt alles ein, was ihr findet, das brauchen wir zur Rechtfertigung der Maßnahme«. Das Fazit von Gabi Müller: »Die Anklage ist in sich zusammengebrochen.«
Es braucht eben auch Leute, die entschlossen, einheitlich und gut organisiert auf die Straße gehen.
Während zwei der ursprünglich sechs Angeklagten einen Deal mit der Staatsanwaltschaft akzeptierten – Einstellung des Verfahrens gegen Geldstrafe und Distanzierung von Gewalt bei Protesten – und zwei andere Angeklagte vom Prozess abgetrennt wurden, entschieden sich Gabi Müller und Nils Jansen, den Prozess durchzustehen: »Wir hätten kaum eins unserer heutigen demokratischen Rechte, wenn sich nicht Menschen organisiert, einheitlich und oft gegen den Widerstand von Regierung und Polizei dafür eingesetzt hätten«, so Nils Jansen: »Es braucht eben auch Leute, die entschlossen, einheitlich und gut organisiert auf die Straße gehen.«
Ob ihr Prozess wohl eine Art Muster für die weiteren geplanten Prozesse gegen am Rondenbarg Demonstrierende war? »Ein Stück weit ja«, meint Gabi Müller: »Aber wir wissen nicht, was genau die Staatsanwaltschaft plant oder was sich wie geändert hat. Beispielsweise werden in letzter Zeit vermehrt Einstellungsangebote verschickt – und zwar gegen Geld. Die Forderung nach Distanzierung von Gewalt ist also mittlerweile weggefallen. Die Staatsanwaltschaft hat aber auch gesagt, dass sie nicht allen einen Deal anbieten will. Deshalb ist es wichtig, zusammen zu stehen, damit nicht am Ende einige Angeklagte allein sind und eingemacht werden können. Was auch eine Rolle spielt, ist die Verjährungsfrist. Da der Vorwurf der Bildung bewaffneter Gruppen sowie des Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall sich nicht halten ließ, kommt die Staatsanwaltschaft so langsam in Zeitdruck.«
Der jetzt beendete Rondenbarg-Prozess ist Teil eines größeren Verfahrens mit insgesamt 86 Beschuldigten. »Nun werden die nächsten Prozesse eröffnet«, erklärten Nils und Gabi in ihrem Abschlussstatement im Prozessaal: »An die anderen Angeklagten: Wir hoffen sehr, dass die Staatsanwaltschaft nicht plant, dasselbe Theater noch mit den 80 weiteren durchzuziehen, aber wenn doch, dann stehen wir zusammen.« Zwei weitere Rondenbarg-Verfahren gegen insgesamt 17 Beschuldigte wurden bereits vor Kurzem neu eröffnet. Ab Januar ist mit weiteren Verhandlungen zu rechnen.
Nils Jansen
ist einer der Angeklagten. Als Student wurde er nun zu 90 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt. Foto: Gaston Kirsche