Häuserkampf bei Lieferando
Fahrer*innen des Lieferdienstes streiken für einen Tarifvertrag – nun ist es an der Gewerkschaft, neue Wege zu gehen
Von Janis Ewen
Die Rider*innen von Lieferando sind im Arbeitskampf. Schon im März hatten sich rund 200 von ihnen zu einer Kundgebung vor der Firmenzentrale in Berlin versammelt. Im April kam es zu ersten Warnstreiks in Frankfurt am Main und Köln, Bestellungen über die Plattform waren in den Stadtzentren zeitweise nicht mehr möglich. Die Fahrer*innen streikten für einen Tarifvertrag, das erste Mal überhaupt bei einem Plattformunternehmen in Deutschland. Gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fordern sie für die mehr als 6.500 Beschäftigten unter anderem einen Mindestlohn von 15 Euro, Weihnachts- und Urlaubsgeld, sechs Wochen bezahlten Urlaub pro Jahr, Wochenendzuschläge sowie die volle Bezahlung der letzten Fahrt nach Hause. Die Plattform für Essenslieferungen ignoriert die Forderungen der Fahrer*innen bislang.
Maximal schlechte Ausgangslage
Vorausgegangen war der Aufforderung zu Tarifverhandlungen eine mehr als anderthalbjährige Vorbereitungszeit. Die hat ihre Gründe: Die plattformtypische Unternehmensstruktur und Arbeitsorganisation unterlaufen permanent die Organisierungsbemühungen. Die Belegschaft ist gleich mehrfach fragmentiert. Eine gemeinsame Betriebsstätte, an der die Rider*innen zusammenkommen, existiert nicht – nur gelegentlich treffen sie sich vor stark frequentierten Restaurants. Die Plattform koordiniert und kontrolliert den Arbeitsprozess über die App, in die sich alle Fahrer*innen einloggen müssen. Zudem erlaubt die Arbeitssteuerung über einen Algorithmus den Plattformen ein Beschäftigungssystem mit hoher Fluktuation, weil keine langen Anlernzeiten für die Tätigkeit nötig sind: die App auf dem Handy übernimmt es, den Fahrer*innen zu vermitteln, wann sie wo und in welcher Zeit sein müssen.
Viele üben den Job neben dem Studium aus, betrachten ihn als Nebenerwerb oder als kurzfristige Überbrückung und bleiben nur wenige Monate im Unternehmen. Der Aufbau einer betrieblichen Basis gleicht unter diesen Bedingungen einem Kampf gegen Windmühlen. Für jedes gewonnene Gewerkschaftsmitglied hat ein anderes das Unternehmen wieder verlassen. Vor diesem Hintergrund erwies sich auch das Konzept der »bedingungsgebundenen Tarifarbeit«, wonach sich die NGG erst in den Kampf um einen Tarifvertrag begibt, wenn eine relevante Anzahl an Gewerkschaftsmitgliedern und erkennbare Konfliktbereitschaft bestehen, als widersprüchlich. Denn gerade um die betriebliche Basis aufzubauen sind in der plattformvermittelten Arbeit die Ressourcen der Gewerkschaft gefragt. Im Fall von Lieferando entschied sich die NGG schließlich, die zahlenmäßigen Voraussetzungen zu reduzieren und direkt am Konflikt zu organisieren.
Dass die Kämpfe heute trotzdem an diesem Punkt angekommen sind, konnte vor wenigen Jahren kaum jemand ahnen. Klassische Gewerkschaften waren in dem Feld anfänglich nur schwach aufgestellt – und sind es vielerorts noch heute. Die Unternehmenskultur, die wechselhafte Belegschaft und früher auch noch Formen von Solo-Selbstständigkeit der Fahrer*innen erschwerten den Zugang für etablierte Interessenorganisation.
An ihrer Stelle agierten teilweise selbstorganisierte Rider*innen-Kollektive oder die Freie Arbeiter*innen Union (FAU), die ihre Strukturen den damals noch jungen Start-Ups besser anpassen konnten. Sie setzen nicht auf institutionalisierte Interessenpolitik, sondern versuchten durch direkte Aktionen und mediale Kampagnen kleine Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Neben diese basis- oder vorgewerkschaftlichen Strukturen sind in der letzten Zeit verstärkt etablierte Gewerkschaften getreten. Bei Lieferando konnten – oftmals mit Unterstützung der NGG – in zahlreichen Städten Betriebsräte gegründet und dem Plattformunternehmen so zunehmend formalisiertere Arbeitsbeziehungen aufgezwungen werden.
Hohe Hürden, hohe Konfliktbereitschaft
Die gewerkschaftlich organisierten Rider*innen und die NGG haben auf diesen Erfahrungen aufgebaut und sind nun den nächsten Schritt gegangen, um die prekären Arbeitsbedingungen dauerhaft zu verbessern. Aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten für interessenpolitische Kämpfe in der Plattformarbeit sind auch die Hürden für einen wirkungsvollen Tarifkampf hoch. Es wird letztlich auf die Handlungs- und Konfliktbereitschaft der Fahrer*innen und Gewerkschaft ankommen, weil institutionelle Abkürzungen durch sozialpartnerschaftliche Gespräche nicht zu erwarten sind.
Es steht vielmehr ein »Häuserkampf« bevor, in dem die Gewerkschaft zunächst darum streiten muss, überhaupt als Verhandlungspartnerin angesehen zu werden. Dafür führt kein Weg an dem Aufbau von Organisationsmacht und einer effektiven Streikstrategie vorbei. Damit das gelingt müssen in einem mühevollen Prozess die sozialen Verbindungen unter den Beschäftigten – die sich in anderen Branchen von allein, aus der betrieblichen Organisation der Arbeit heraus, ergeben – hergestellt werden, um kollektive Interessen mobilisieren zu können.
Die ersten beiden Warnstreiks wurden von einem kleinen Kern an organisierten Rider*innen getragen.
Die ersten beiden Warnstreiks wurden noch von einem vergleichsweise kleinen Kern an organisierten Rider*innen getragen. Um Lieferando zu Verhandlungen zu bewegen wird eine Zuspitzung der Arbeitskämpfe notwendig sein. Dabei muss – und das scheint die NGG verstanden zu haben – das Arbeitswissen der Fahrer*innen als zentrale Ressource in die Konfliktstrategie einfließen. Nur sie kennen die Stoßzeiten, die gefragten Restaurants und vielbefahrenen Routen, die zum Ausgangspunkt von Organisierung, Protesten und Streiks werden können.
Anknüpfen kann die Gewerkschaft darüber hinaus an selbstorganisierte Strukturen, die Fahrer*innen in den letzten Jahren aufgebaut haben. So werden zum Beispiel in etlichen Chatgruppen Informationen rund um den Job ausgetauscht und Probleme im Arbeitsalltag diskutiert, was sie zum organisatorischen Multiplikator der Streikbewegung machen könnte. Nicht zuletzt dürfte es Einfluss auf den Erfolg der Tarifauseinandersetzung haben, ob es der NGG gelingt auf FAU und Rider*innen-Kollektive zuzugehen. Deren Beständigkeit und regionale Bedeutung fallen zwar sehr unterschiedlich aus, sie verfügen aber – insbesondere in Berlin – über relevanten Rückhalt unter den Lieferando-Beschäftigten. Das macht eine gewerkschaftliche Konfliktstrategie erforderlich, die eine aktive Beteiligung an Entscheidungsprozessen erlaubt und Tarifpolitik nicht allein als Verhandlungsfrage von Gewerkschaftsfunktionär*innen begreift. Die Eigensinnigkeit von selbstorganisierten Rider*innen würde so nicht als Bedrohung institutionalisierter Verfahren betrachtet, sondern als Erweiterung der gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit im Arbeitskampf.
Eskalation ist Trumpf
Sicher ist, dass die Streiks in Frankfurt am Main und Köln nicht die Letzten gewesen sind. Die Rider*innen und die NGG haben für die nächsten Wochen weitere Arbeitsniederlegungen angekündigt. Lieferando hat derweilen sein Bonussystem aufgestockt und verspricht den Vielfahrer*innen in Peak-Zeiten mehr Geld, wohl auch als Reaktion auf die Arbeitskämpfe. Weitere Streiks lassen sich so aber nicht abwenden. Doch um genügend Druck zu erzeugen und Lieferando zu Tarifverhandlungen zu drängen, werden sich die Arbeitskämpfe deutlich ausdehnen müssen. Denn auch das Plattformunternehmen weiß, dass sich die Belegschaftsstruktur – von einigen langjährigen Betriebsräten abgesehen – rasch verändert.
Unter diesen Bedingungen die interessenpolitische Mobilisierung im Zweifel über Jahre aufrecht zu erhalten, wird die größte Herausforderung sein. Diese spezifische Konstellation könnte auch bei der Gewerkschaft die Offenheit für konfliktorientierte Strategien steigern, um der hohen Fluktuation der Belegschaft mit einer schnellen Eskalation des Arbeitskampfs zu begegnen.