Gerechtigkeit ist nicht genug
Warum der Klimagerechtigkeitsdiskurs wichtig ist, uns aber nicht vor der Klimakatastrophe retten wird
Von Nico Graack
Der aktuelle Diskurs über den Umgang mit der Klimakatastrophe ist von aktivistischer Seite her vor allem durch ein Schlagwort geprägt: »Klimagerechtigkeit«. Mit diesem versucht die Klimabewegung, insbesondere die globalen Zusammenhänge der Zerstörung – Weltmarkt, ökonomische Abhängigkeiten, Machtverhältnisse – in den Blick zu nehmen. Dies tut sie mit Begriffen der Gerechtigkeit und der moralischen Verantwortung. Das ist für sich genommen zwar richtig, aber abstrakt und verkürzt, mitunter sogar ein strategischer Fallstrick.
Zunächst geht es im Klimagerechtigkeitsdiskurs um die Gerechtigkeit für den Globalen Süden. Die Auswirkungen sind in diesem Teil des Planeten am heftigsten: Überschwemmungen, Dürren und andere Naturkatastrophen machen das Leben immer unerträglicher. Eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie der Universität Hamburg sprach bereits im Jahr 2007 von mehr als 20 Millionen Menschen, die aufgrund der Klimaveränderungen auf der Flucht sind; bis 2050 wird diese Zahl dramatisch wachsen. Ein Bericht der Weltbank geht von über 140 Millionen Klimaflüchtenden aus.
Kapitalistischer Wachstumszwang und Rassismus der europäischen Gesellschaftsformationen schufen Kolonien als Rohstofflieferant*innen und Absatzmärkte und etwas später auch als billige Produktionsstätten. Ein aktuelles, x-beliebiges Beispiel unter vielen: Ausgerechnet in Bangladesch – einem Land, das enorm vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht ist – soll unter Beteiligung deutscher Unternehmen wie Fichtner mitten im größten Mangrovenwald der Erde ein neues Kohlekraftwerk gebaut werden. Damit können weiter jene Fabriken betrieben werden, in denen Menschen unter unwürdigen Bedingungen unseren Textilschrott produzieren müssen.
Der Diskurs der Klimagerechtigkeit sagt nun: Wir sind dafür verantwortlich, wir müssen die nötigen Veränderungen stemmen – in Solidarität mit jenen, die das im Globalen Süden schon lange versuchen. Daneben geht es auch um Gerechtigkeit für die zukünftigen Generationen. Die Argumentation verläuft entlang der gleichen Linie: Wir zerstören hier und jetzt die Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Enkel, die ungleich stärker darunter leiden werden als wir. Das ist ungerecht. Also müssen wir als Verantwortliche jetzt den Wandel einleiten.
Moral und eigenverantwortliche Subjekte
Viel seltener geht es im Klimagerechtigkeitsdiskurs jedoch um Gerechtigkeit gegenüber den Beschäftigten in den zerstörerischen Wirtschaftszweigen. Das mag daran liegen, dass die moralischen Kategorien hier schwieriger anzuwenden sind. Moral setzt immer autonome, eigenverantwortliche Subjekte voraus. Durch die moralische Brille gesehen muss man zum Beispiel den Beschäftigten in den Kohleminen der RWE zumindest eine Mitschuld an den Klima- und Umweltauswirkungen der Braunkohleverstromung geben. Schließlich hat sie formal niemand gezwungen, ausgerechnet in dieser Branche zu arbeiten.
Das wiederum ist durch die politische Brille gesehen absurd. Im Kapitalismus ist der allergrößte Teil der Menschheit gezwungen, die eigene Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. Den Menschen daher moralische Verantwortung dafür unterzuschieben, wo genau sie sich ausbeuten lassen, ist kurzsichtig, im schlimmsten Fall zynisch. Dieses Problem sieht auch ein Teil der Akteur*innen im Klimagerechtigkeitsdiskurs und verlangt Gerechtigkeit gegenüber den Beschäftigten: Wenn Menschen für den Profit der Eigentümer*innen ausgebeutet werden und dabei gezwungen sind, den Planeten zu zerstören, dann müssen die Eigentümer*innen als die eigentlich Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Daraus lassen sich zum Beispiel Forderungen nach Lohnfortzahlungen, bezahlten Umschulungen und dergleichen mehr ableiten.
Mit welchen Mitteln und unter welchen strukturellen Zwängen werden unsere Lebensgrundlagen zerstört?
Ähnlich lässt sich auch für Gerechtigkeit den Verbraucher*innen gegenüber argumentieren. Wenn diejenigen verantwortlich sind, die an der Zerstörung verdienen, warum sollten die Kosten für die Bewältigung der Folgen dieser Zerstörung dann – wenn auch nur mittelbar – die Verbraucher*innen auf dem Markt tragen? Genau das ist aber der Fall, wenn versucht wird, Marktmechanismen für den Klimaschutz einzuspannen – CO2-Preis und Co.: Umverteilung der Kosten von oben nach unten. Auf dem Markt wird die Bewältigung der Klimakatastrophe plötzlich eine Sache der gehobenen Mittelschicht aufwärts. Eine Sache, die man sich leisten können muss.
Herrschaft und Eigentum
Vor der Folie eines Gerechtigkeitsdiskurses geraten sozioökonomische und politische Kategorien sowie soziale Unterschiede also schnell in den Hintergrund. Das gilt auch auf einer tieferen Ebene. Gerechtigkeitsdiskurse bleiben zumeist auf der Ebene der Verteilung oder – schärfer gesagt – der bloßen Verwaltung der bestehenden Verhältnisse. Da geht es dann darum, auf welche Schultern und in welchen Proportionen wir die Kosten für den Kampf gegen die Klimakatastrophe verteilen. Die tiefer liegenden Fragen werden aber gar nicht erst gestellt: Wie ist eine solche Zerstörung überhaupt möglich und welche ökonomischen Mechanismen ermöglichen sie? Wie sind Macht und Eigentum verteilt?
Die Kategorien der Gerechtigkeit und Moral müssen schon extrem gedehnt werden, um solche Fragen auch nur sichtbar zu machen. Diese Fragen sind aber essenziell, wenn wir die Klimakatastrophe überleben wollen. Wir müssen schauen, wer aus welchen Gründen, mit welchen Mitteln und unter welchen strukturellen Zwängen unsere Lebensgrundlagen zerstört. Dann sehen wir, dass wir tatsächlich die Kontrolle über den Produktionsprozess brauchen, dass die unmittelbar Betroffenen Entscheidungen treffen können müssen. Wären beispielsweise Betriebe in Kolumbien im Besitz der dort lebenden Menschen, würden diese von ihnen verwaltet und müssten keinen Mehrwert auf dem globalen Markt erwirtschaften, wäre der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch den Steinkohleabbau sicher schnell ein Ende gesetzt. Natürlich gibt es keine fertigen Antworten auf die Fragen nach Herrschaft, Macht, Produktion und Eigentum, keine fertigen Wege zu einer Bedarfswirtschaft oder auch nur fertige Visionen, wie eine solche aussehen könnte. Aber der Gerechtigkeitsdiskurs alleine bringt uns nicht einmal in die Lage, diese Fragen zu stellen.
Radikale Klimatheorie
Wir brauchen also – da sind sich auch viele Akteur*innen des Klimagerechtigkeitsdiskurses einig – radikale politische Veränderungen. Man täte gut daran, das Wort »radikal« dabei in der Art zu verstehen, wie Marx es insbesondere in seiner Frühphilosophie entwickelt hat.
»Radikal« heißt bei Marx so viel wie »den Menschen als solchen betreffend«, und das ist weit entfernt vom Anklang an große Ideale, Utopien, abstrakte Solidarität und Gerechtigkeit. In radikaler Politik geht es um die konkreten Bedürfnisse der Menschen, um ihr alltägliches Leiden, um ihre ganz eigennützigen Antriebe. Radikale Theorie wiederum ist solches Denken, das in der Gesellschaftsstruktur diejenigen Elemente auszumachen vermag, die »unmöglich« sind – deren Bedürfnisse unerfüllbar sind und die so schlicht kraft ihres Eigeninteresses über die bestehende Gesellschaftsformation hinausweisen. Das ist der anti-romantische Sinn des Wortes »radikal« bei Marx, dessen Nüchternheit für junge Revoluzzer*innen und gar manche selbst ernannte Marxist*in so schwer zu schlucken ist: Revolutionen werden nicht für Ideale, aus Solidarität, Verantwortung oder gar intellektueller Einsicht gemacht – sondern weil es den Menschen scheiße geht.
Radikale Klimatheorie sollte sich also vor Verantwortungs- und Gerechtigkeitsdiskursen, moralischen Appellen oder gar dem Respekt vor Mutter Erde hüten. Das heißt nicht, dass sie keine Rolle spielen können und sollen. Aber stehen sie für sich, können sie sogar ein Hindernis sein, wenn sie den Blick auf ökonomisch-politische Strukturen verstellen und falsche Hoffnungen auf das Verantwortungsbewusstsein und moralische Gewissen setzen.
Wir können aber natürlich auch nicht darauf warten, dass es genügend Menschen dank der Klimakatastrophe so scheiße geht, dass sie zum Handeln gezwungen werden – dann ist es höchstwahrscheinlich zu spät. Insofern weisen die globalen Zusammenhänge, die im Begriff der Klimagerechtigkeit gedacht werden, in die richtige Richtung: Die konkreten Schauplätze sind bereits da, konkrete Bedürfnisse nach einem lebenswerten Planeten auf einem intakten Planeten sind im Kapitalismus unerfüllbar, und wir müssen zusammen mit den Menschen vor Ort kämpfen. Allerdings nicht nur aus abstrakter Solidarität, sondern weil wir bald ebenso dran sein könnten. »Fight for climate justice!« oder »Fight for 1,5°!« werden uns noch die Drei-Grad-Marke verfehlen lassen. Es muss heißen: »Fight for Mendoza«, wo Argentinier*innen gegen die Zerstörung ihres Grundwassers durch die Frackingindustrie kämpfen, »Fight for the Mangroves«, wo sich Menschen in Bangladesch für den Erhalt der Mangrovenwälder einsetzen, »Fight for Mui Basin«, wo sich Kenianer*innen gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch den Kohleabbau zusammenschließen und »Fight for Keyenberg!«, wo sich Menschen in Nordrhein-Westfalen gegen die Vertreibung aus ihrem Dorf durch den Braunkohleabbau wehren.