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Gegen jede Doppelmoral

Die Linke muss in der Außenpolitik ihre Traditionen neu begründen – ein Plädoyer für einen zeitgemäßen linken Antiimperialismus

Von Janis Ehling

Wandmalerei einer weißen Taube auf blauem Hintergrund. Der Putz der Mauer bröckelt an einigen stellen.
Wohin fliegt die Friedenstaube? Foto: Marko Kafé / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Die Bewertung des Krieges in der Ukraine geht in der Linken weit auseinander. Die Frage ist zugespitzt: Bist du gegen die USA oder für die Ukraine? Was ist dir wichtiger: Geopolitik oder das Recht auf Selbstverteidigung? Hier wiederholt sich innerlinks der Kardinalfehler der gesellschaftlichen Debatten um die Ukraine: Konservative und so manche Linke sehen nichts als Geopolitik im Ukrainekonflikt – der Westen gegen Russland. Die Ukraine hat in diesem Bild keinen eigenen Platz. Dabei ist die Ukraine das zweitgrößte Flächenland Europas und hat 44 Millionen Einwohner*innen. Eine eigene Meinung und eigene Rolle wird ihnen kaum zugestanden. Spiegelverkehrt ist es mit vielen Liberalen und so manchem Linksliberalen. Hier wird der russische Angriff allein aus Sicht der Ukraine betrachtet. Sie blenden die Geopolitik und die Vorgeschichte des Krieges ebenso aus wie andere Konflikte und nutzen die Ukraine als Projektionsfläche für die »Verteidigung der Freiheit«. Es existiert quasi keine Welt jenseits dieses Konflikts.

Einig ist sich zumindest die Linke in der Kritik an den westlichen Doppelstandards. Die nationalistische Russophobie, die sich in Auftrittsverboten in Sport, Sprache und Kultur äußert, weisen alle Teile der Linken zurück. Ebenso scharf kritisiert ein Großteil der Linken die Doppelstandards der »wertebasierten« Außenpolitik der westlichen Liberalen. Während die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock den russischen Angriff scharf verurteilt, bleibt jedwede Kritik am zeitgleichen türkischen Agieren in Syrien aus. Menschenrechte und Werte sind für die Bundesregierung scheinbar nur so lange vorrangig, wie sie ihren politischen Interessen (und denen ihrer Bündnispartner*innen) entsprechen.

Soweit zu den Gemeinsamkeiten. Die Bewertung des Angriffskrieges ist heute oft eine Generationenfrage. Die Jüngeren halten es eher mit der Ukraine, die älteren Linken mit der Geopolitik. Vereinfacht werde ich ab hier von alter und neuer Linker sprechen – was nicht abwertend gemeint sein soll. Jugend ist kein Qualitätsmerkmal, und politisch zählt sich der Autor dieser Zeilen auch eher zur alten Linken.

Gegen die USA als einziges Ziel: Linke Außenpolitik des Kalten Kriegs

Außenpolitik war für die politisch aktive Generation der 1960er bis 1970er Jahre das bestimmende Feld. Noch heute ist für ältere studierte Linke in Ost und West die Außenpolitik das Thema schlechthin – im Gegensatz zur Gesamtgesellschaft und der jüngeren Linken. Die Eckpfeiler dieses Denkens sind durch den Kalten Krieg und die Konkurrenz mit den USA bestimmt. Kleinere Länder und ihre Interessen sind in diesem imperialistischen »Great Game« der Großmächte bloße Verfügungsmasse. Und ganz objektiv betrachtet war und ist die Kriegs- und Bündnispolitik der USA vor allem in der sogenannten Dritten Welt wenig fortschrittlich (auch wenn das viele Liberale anders sehen).

Die USA ersetzten als neue Weltmacht ab 1945 nach und nach den alten Kolonialismus Europas durch ein sehr ungleiches Welthandelsregime (mit militärischen Interessensphären). Ihr Gegenspieler war die nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zur Weltmacht aufgestiegene Sowjetunion. Die Drohung der atomaren Vernichtung der Menschheit hielt beide Großmächte von einer direkten Konfrontation ab. Im Ergebnis führte das zu einem jahrzehntelangen Stellvertreter*innenkrieg. Die USA unterstützten manchmal liberale, aber meist rechte, rechtsradikale und religiös-fundamentalistische Bewegungen oder Regime. Die US-Regierung nahm dabei Massaker mit Hunderttausenden bis Millionen Toten zumindest in Kauf, von Indonesien über Vietnam bis zum Irak-Krieg mit 500.000 Toten. Zweifellos ist die Bilanz der US-geführten Kriege desaströs.

Titelseite des Sonderhefts. Titel: Ukraine-Krieg. Unterzeile: Russlands Invasion und die Debatte um Imperialismus und Internationalismus

Neu erschienen ak Sonderheft zum Ukraine-Krieg

Wie verändert Russlands Angriff auf die Ukraine die internationale Politik und das linke Verständnis von Imperialismus und Internationalismus?

Die Sowjetunion unterstützte dagegen eher linke oder nationalistische Aufstandsbewegungen in ihrer Unabhängigkeit gegenüber den alten Kolonialmächten und den USA. Die Regierungen waren meist eher nationalistisch-autoritär als links – aber zumindest die sozialen Rechte wurden in diesen Ländern höher gewichtet. Die alte West-Linke der 1960er bis 1980er Jahre unterstützte meist diese Befreiungsbewegungen. Einige davon stellten sich im Nachhinein als weit weniger fortschrittlich dar, als es schien, oder als das Gegenteil davon – wie etwa die monströsen Verbrechen der Khmer Rouge in Kambodscha zeigen. Zum Einmarsch der Sowjetunion in osteuropäische Länder und vor allem Afghanistan 1979 äußerte sich ein Teil der alten Linken nicht oder begrüßte diese Interventionen sogar. Dabei starben im Afghanistan-Krieg der Sowjetunion mehr als eine Million Menschen. Auch urlinke Werte wie Frieden, Gleichheit und Demokratie fanden hier ihr Ende nicht selten in reiner Machtpolitik und Bündnisinteressen.

Lenins widersprüchlicher Antiimperialismus und Wagenknechts Ukraine-Linie

Das Drama wiederholt sich nun in der alten Linken mit der Ukraine. Zwar ist die Sowjetunion untergegangen – doch blieb der alte Abwehr-Reflex gegen die USA bestehen. Statt wie sonst an der Seite der Angegriffenen zu stehen, ist die Ukraine eine Nebensache, wie etwa Sahra Wagenknecht in ihrer umstrittenen Bundestagsrede deutlich machte. Exemplarisch lässt sich das bei der bekannten Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen ablesen. Gegen die Türkei forderte sie zu Recht Sanktionen wegen Erdoğans rücksichtslosem Agieren im Inland und in Syrien. Beim russischen Angriffskrieg forderte sie nun wiederholt das Ende aller Sanktionen.

Diese linken Doppelstandards sind in der Geschichte linker und kommunistischer Parteien nicht neu. Sie sind eng verknüpft mit der Großmachtpolitik der Sowjetunion. Sie begann kurz nach 1919 mit der Gründung der Kommunistischen Internationale (Komintern). Spätestens unter Stalin vertrat die Komintern vor allem die außenpolitischen Interessen der Sowjetunion statt die lokalen oder nationalen Interessen der Mitgliedsparteien aus den jeweiligen Ländern. Hier sei nur die unselige Sozialfaschismustheorie des langjährigen Chefs der Komintern, Grigori Sinowjew, erwähnt, der Sozialdemokratie und Faschismus auf eine Stufe stellte und den gemeinsamen Kampf der Linken gegen die Nazis in Deutschland mit verhinderte.

In der Komintern galt zumindest offiziell die Antiimperialismus-Theorie Lenins, die die nationale Selbstbestimmung der Länder der Peripherie gegen die westlichen Großmächte verteidigt. Lenin selbst hatte das militärische Selbstverteidigungsrecht Belgiens in seinem Aufsatz »Krieg und Sozialismus« und anderswo immer begrüßt; nach der Oktoberrevolution galt das oftmals nicht mehr. Das Selbstverteidigungsrecht wurde dann vor allem unter Stalin faktisch übergangen von Georgien, über den Terror in der Ukraine Mitte der 1920er Jahre bis hin zur Russifizierung u.a. des Baltikums. Das Verhältnis zu nationalen Befreiungsbewegungen war nicht selten rein instrumentell.

Das alte Denken »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« wirkt heute beim rechtskonservativen Russland vollends absurd. Es diskreditiert linke Friedens- und Solidaritätsbewegungen.

Im Zweiten Weltkrieg errang die Sowjetunion als antifaschistische Kraft gegen Hitler ein ungeheures Prestige. Dieses sank dann nach und nach massiv durch die Einmärsche der Sowjetunion in Ungarn, Prag und Afghanistan – woraufhin sogar viele europäische kommunistische Parteien allmählich von der Moskauer Linie abrückten. Schon im Kalten Krieg war die Indifferenz gegenüber Interventionen und Angriffskriegen von der vermeintlich richtigen Seite verheerend. Mit dem Ende des Kalten Krieges und fast aller sozialistischen Staatsprojekte gibt es keinen vernünftigen Restgrund mehr, an diesem Denken des Marxismus-Leninismus festzuhalten. Das alte Denken »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« wirkt heute beim rechtskonservativen Russland vollends absurd. Es diskreditiert linke Friedens- und Solidaritätsbewegungen.

Das antiimperialistische Dilemma

Lenins Theorie führt für die westlichen Länder zu einem weiteren grundlegenden Dilemma, das sich auch heute bei einem Teil der alten Linken wieder zeigt. Eine antiimperialistische, linksnationale Strategie ist problemlos mehrheitsfähig für Länder der Peripherie – wie zum Beispiel der Tsipras-Regierung in Griechenland gegen die EU. Schwieriger wird es für die Linke in den Zentren. Hier profitiert zumindest ein Teil der arbeitenden Klassen von imperialen Handelsbeziehungen. Ein konsequenter Antiimperialismus ist im Westen daher meist nicht mehrheitsfähig. Konsequent wurde er im Westen meist nur von kleinen radikalen Teilen der Linken vertreten. In den Umfragen unter Wähler*innen, die sich grundsätzlich vorstellen können, Die Linke zu wählen, ist die Außenpolitik einer der zentralen Hinderungsgründe – ob unter SPD-, Grünen- oder Nichtwähler*innen. Das zeigen alle Befragungen zum Thema. Wichtig ist die Außenpolitik vor allem für ältere Studierte im Osten und deutlich weniger für das gleiche Milieu im Westen. Je niedriger das Einkommen und der Bildungsgrad, desto irrelevanter oder unpopulärer ist eine derartige Politik (und Außenpolitik insgesamt). Doch offenkundig ist Sahra Wagenknecht und anderen die Außenpolitik wichtiger als die Sozialpolitik. Die Argumente aus Sahra Wagenknechts Buch »Die Selbstgerechten« gegen die – von der sozialen Frage entrückten – akademischen Mittelschichten fallen hier auf sie selbst zurück. Gegen Prinzipienfestigkeit ist nichts einzuwenden, gegen Doppelstandards aber schon.

Man sieht mehrere Leute, die Fahnen der DKP halten sowie ein Banner, auf dem steht: Frieden mit Russland und China! Stoppt den Wirtschaftskrieg, Nordstream 2 und Druschba-Trasse in Betrieb! DKP
Bei einer Demonstration gegen die Teuerungen am 3. Oktober in Berlin. Foto: Erik Peter

Nimmt man Wagenknechts vielzitierte Rede im Bundestag zum Maßstab, als sie die Bundesregierung rügte, »gegen den wichtigsten deutschen Energielieferanten einen Wirtschaftskrieg vom Zaun zu brechen«, so müsste sie auch Bundeskanzler Scholz für seine Reise auf die arabische Halbinsel loben. Immerhin hat er es geschafft, hier »keinen Wirtschaftskrieg vom Zaun zu brechen« und die Scheichs auch nicht mit ihrem verbrecherischen Krieg im Jemen zu behelligen. Statt Sanktionen gegen Saudi-Arabien zu veranlassen – etwa im Rüstungsbereich –, liefert Deutschland weiter diese Güter. Das ist nun wirklich ganz im Sinne »der deutschen Industrie« (Wagenknecht). Nach der Infragestellung des Asylrechts, dem Angriff auf »skurrile Minderheiten und den Klimaschutz« und dem Versuch der Gewinnung eines rechten Wähler*innenklientels zielt Wagenknecht nun auf die »internationale Solidarität«. Das spaltet die gesellschaftliche Linke in einer Zeit, wo sie wirklich als soziale Kraft gebraucht wird, völlig unnötig.

Kalter Krieg zwischen jungen und alten Linken?

Vielerorts wird die alte Linke für ihre Haltung zum Ukraine-Krieg von jungen Linken scharf kritisiert. Dabei beschäftigen sich die Jüngeren im Vergleich weit weniger mit Außenpolitik als die älteren Generationen vor 1990. Im Fokus stehen mehr innenpolitische Anliegen – von sozialer Gerechtigkeit, Ökologie bis hin zu gesellschaftlichen Konflikten um Rassismus und Geschlecht. Während bei Konservativen und so manchem Liberalen lang geschürte russophobe Stimmungen aktiviert werden, weisen viele links eingestellte Menschen diesen russischen Angriff aus Solidarität zurück: Sie finden den Angriffskrieg Russlands schlicht falsch. Plötzlich sind die Ukrainer*innen nicht mehr die billigsten Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt, sondern »welche von uns«. Diese selektive Empathie ist natürlich ungerecht gegenüber den Jemenit*innen und den Kurd*innen, die unter den Angriffskriegen westlicher Verbündeter leiden.

Zur Wahrheit gehört, dass westliche Medien deren Leid weit weniger zeigen, und die Jüngeren nehmen das teils unkritischer auf als die Älteren. Nur ändert dies nichts daran, dass die spontane Solidarität mit den Angegriffenen ein urlinker Impuls für die Schwächeren ist. Vor der Komintern und dem Staatssozialismus war diese Solidarität in der Linken mit vielen Bewegungen, ob antikolonial oder gegen die Großmächte, vom Osmanischen Reich bis Russland und Großbritannien, selbstverständlich.

Während die Alten die Ukraine vor lauter Geopolitik nicht mehr sehen, verschwindet bei den Jüngeren der Blick für geopolitische Zusammenhänge.

Die Vorkriegs-SPD unterstützte antikoloniale Bewegungen, weil sie jegliches imperialistische Großmachtstreben und die Unterdrückung von Menschen zurückwies. Statt einen überkommenen Lenin’schen Machtzynismus hochzuhalten, müsste die Linke wieder an diese urlinken Impulse der alten Sozialdemokratie eines Marx, Engels oder Bebels anknüpfen. Die Parole vom Hauptfeind im eigenen Land ergibt nur Sinn, wenn das eigene Land militärische*r Aggressor*in ist. Die Unterscheidung zwischen Angriff und Verteidigung ist für die Bewertung entscheidend. So stand Die Linke geeint gegen die Kriege der Nato gegen Irak und Afghanistan und so sollte sie es auch mit dem Angriff Russlands halten.

Keine Verantwortung des Westens?

Die Mitverantwortung des Westens und Deutschlands am Ukraine-Konflikt darf darüber allerdings nicht ausgeblendet werden. Während die Alten die Ukraine vor lauter Geopolitik nicht mehr sehen, verschwindet bei den Jüngeren der Blick für geopolitische Zusammenhänge. Die Ukraine gehörte zur Sowjetunion und der traditionellen imperialistischen Interessensphäre Russlands. Schon das russische Zarenreich eroberte eher im Nahraum andere Länder und besetzte keine fernen Länder. Dieser russische Imperialismus war schon immer genauso falsch wie der westliche Kolonialismus – nur muss eine Linke in der Analyse imperialer Mächte Ideal und Wirklichkeit auseinanderhalten können. Der Westen hat seit 1990 Russlands Einflussgebiet kontinuierlich zurückgedrängt. Er verfügt im Gegensatz zu Russland über eine viel stärkere wirtschaftliche Soft Power. So hat Russland über seine militärische Macht hinaus kaum etwas zu bieten außer seine großen Ressourcenvorkommen. Die osteuropäischen Länder haben sich auch daher eher am Westen orientiert.

Unvergessen ist in vielen osteuropäischen Ländern die Russifizierungspolitik Stalins ebenso wie die militärische Kontrolle seitens der Sowjetunion über den Ostblock. Schon der überaus kluge marxistische Denker August Thalheimer wies nach 1945 darauf hin, dass der Realsozialismus in Osteuropa die Hypothek mitbringt, durch Gewalt von außen eingeführt worden zu sein. Der Kollaps der realsozialistischen Staaten und das fast völlige Verschwinden von Marxismus und sozialistischen Ideen in Osteuropa sind eine späte Bestätigung seiner Vorhersagen. Neben dieser Geschichte ließ der soziale Zusammenbruch durch die Schocktherapie der Märkte den nie ganz verschwundenen Nationalismus neu erblühen.

Für Die Linke bleibt es richtig, auf diplomatische Zusagen und Verträge zu pochen, wenn sie den Frieden sichern. Im Rahmen der 2+2+4-Verhandlungen um die mögliche Zukunft eines geeinten Deutschlands sicherten die USA mündlich zu, sich aus Osteuropa militärisch herauszuhalten. Darauf kann Die Linke auch heute verweisen. Nur sollte sie darüber die Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland zum Abzug der Nuklearraketen aus der Ukraine nicht vergessen. Auch Russland gab der Ukraine 1994/95 Sicherheitsgarantien.

Neuer Nationalismus

Gerade absteigende Weltmächte können politisch besonders erratisch und nationalistisch agieren. Eine kluge und weitsichtige Politik und Diplomatie muss das in Rechnung stellen. Darin haben die westlichen Regierungen in den letzten 20 Jahren kolossal versagt. Statt Russland in den Nuller-Jahren wirtschaftlich zu integrieren und den Kalten Krieg endgültig zu überwinden, betrieb auch der Westen eine beständige imperialistische Interessenpolitik in Osteuropa. So unterstützten Russland und der Westen wechselseitig unterschiedliche ukrainische Regierungen und nahmen über verschiedene Kanäle großen Einfluss auf ukrainische Oligarchen und Parteien. Selbst nach dem Krieg von 2014 setzte sich der Westen kaum für die Einhaltung des Abkommens von Minsk II und der zahlreichen Waffenstillstände ein. Mit dem Maidan und dem Wahlsieg Poroschenkos 2014 setzten sich die prowestlichen, ukrainisch-nationalistischen Kräfte endgültig durch. Der Einfluss des Westens in der Ukraine ist seitdem stark gestiegen, aber der Westen hat ihn nicht für eine friedliche Lösung genutzt.

Der grassierende ukrainische Nationalismus wird von den Medien hierzulande mit dem Verweis auf die schlechten Wahlergebnisse der rechtsradikalen Parteien heruntergespielt. Doch herrscht seit 2014 ein neuer und so nie dagewesener nationalistischer Konsens in der Ukraine. Viele linke Parteien, wie die alte, sehr traditionelle kommunistische Partei, wurden verboten. Viele von ihnen waren russlandnah. Linke haben es seitdem generell schwer in der Ukraine und stehen wie alles Linke unter Generalverdacht. Sie sind Angriffen ausgesetzt und können fast nur noch in gesellschaftlichen Nischen agieren. Gerade nutzt die Selenskyj-Regierung den Krieg, um die gewerkschaftliche Betätigung in Betrieben unter 250 Beschäftigten zu verbieten – ein fundamentaler Angriff auf die Demokratie.

Sollte die Ukraine diesen Krieg überstehen, und danach sieht es aus, wird sie noch nationalistischer sein. Die sprachlichen Minderheiten und die Linke im Land werden es noch schwerer haben. Die absurden Umbenennungen von Straßen und Plätzen sind da nur ein Anfang. Nur geht diese Politik mitnichten allein auf den Einfluss des Westens zurück. Der ukrainische Nationalismus konnte sich vor allem durch den Angriff Putins 2014 gesellschaftlich durchsetzen. Der Westen und seine Einflussakteur*innen vor Ort mussten da nicht mehr viel machen.

Natürlich half der Westen den neuen Maidan-Kräften und verklärte sie teils als große Demokrat*innen. Die Geschicke eines so großen Landes wie der Ukraine lassen sich jedoch nicht einfach von außen steuern. Diese Idee entspringt dem imperialistischen Denken des Kalten Krieges. Wer die Verhältnisse vor Ort nicht ernst nimmt, scheitert. Kluge russische und ukrainische marxistische Analyst*innen, etwa Wolodymyr Ischtschenko oder Ilya Matveev, liefern dazu hervorragende Einschätzungen. Sie werden hier aber zu wenig beachtet.

Was tun?

Statt sich komplett zu zerstreiten, sollte die Linke lieber die Widersprüche der imperialistischen Politik zur Kenntnis nehmen und einen Umgang damit finden. Die Solidarität mit von Imperialismus bedrohten Staaten sollte eine Selbstverständlichkeit des Antiimperialismus sein. Darüber, welche Sanktionen gegen Russland kurz- und langfristig richtig sind, kann man streiten. Hier hat Die Linke Nachholbedarf – übrigens auch der Autor dieser Zeilen. Auch die Unterstützung der Ukraine darf kein Tabuthema sein, weil das Scheitern imperialistischer Angriffskriege immer noch eine der besten Präventionen für künftige Kriege ist. Dass konservative und liberale Falken im Westen die ukrainische Bevölkerung unter hohem Blutzoll als Stellvertreterin benutzen, um Russland zu schwächen, ist durchsichtig. Die Entscheidung, ob sie kämpfen wollen, trifft aber nicht der Westen, sondern treffen die Ukrainer*innen.

Die Linke muss hier als antimilitaristische Kraft klug agieren. Der bloße Ruf nach Verhandlungen – flankiert von der Forderung nach dem Ende aller Sanktionen – ist jedenfalls weder Antiimperialismus noch eine wirkliche Antwort. Andersrum ist auch die grüne und konservative Forderung nach einem Siegfrieden unter Einschluss der Krim illusorisch und gefährlich. Die Teilmobilmachung in Russland zeigt genauso wie der mutmaßliche Kriegseintritt von Belarus, dass Russland auch jenseits der nuklearen Drohungen militärisch bei weitem nicht am Ende ist.

Ganz nüchtern und jenseits jeder Moral betrachtet wird am Ende eine Verhandlungslösung stehen. Verhandelt werden wird wahrscheinlich über die Anerkennung von Annexionen Russlands, die mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine und deren Integration in den Westen verrechnet werden. Das ist das zynische Spiel der Außenpolitik – in dem vieles denkbar ist. Für die Ukraine geht es um ihre Existenz, für die russische Führung um ihren Machterhalt und die Legitimation eines Krieges, in dem Russland schon fast so viele Soldaten verloren hat wie die USA im gesamten Vietnamkrieg.

Ob und wann Selenskyj und die ukrainische Bevölkerung sowie die russische Führung um Putin dazu bereit sind, wird sich zeigen. In beiden Ländern gibt es unterschiedliche politische Fraktionen mit eigenen Interessen. Eine Verhandlungslösung wird es nur mit Druck auf beide (!) Seiten geben – dazu müssten die EU und allen voran Deutschland und Frankreich China und Indien gewinnen. Die USA werden dazu angesichts der Konfliktkonstellation mit China nicht bereit sein. Europa hat jedoch ein viel größeres Interesse an einem schnellen Frieden. Ohne den politischen und wirtschaftlichen Druck Chinas und Indiens wird Russland nicht zu Verhandlungen bereit sein. Zu stark laufen die Anstrengungen, die russische Wirtschaft stärker auf China und Indien auszurichten, um vom Westen wirtschaftlich unabhängiger zu werden. Auch darüber muss Die Linke offener und ehrlicher diskutieren. Auch die geopolitischen Auswirkungen des Krieges auf den globalen Süden gehören zu dieser Diskussion selbstverständlich dazu.

Zwischen den imperialen Ambitionen der Eliten im Westen und im Osten muss Die Linke besser navigieren lernen – an der Seite der betroffenen Bevölkerungen, für Frieden und künftige Prävention von Kriegen. Und nicht an der Seite von einem der großen imperialistischen Machtblöcke.

Janis Ehling

ist Parteienforscher und Mitglied im Parteivorstand der Linkspartei.

Dieser Text erschien zuerst bei Links Bewegt.

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