Gayrope und der georgische Albtraum
Bei den anhaltenden Massenprotesten in Georgien geht es um viel mehr als EU versus Russland
Von Giorgi Chubinidze und Katharina Tchelidze

Seit dem 28. November 2024 gibt es in Georgien landesweite und tägliche Proteste. In Tbilisi versammeln sich seitdem Tausende Menschen vor dem Parlament. Als Auslöser wird meist die Bekanntmachung des Premierministers Irakli Kobachidze genannt, die Gespräche mit der EU über einen möglichen Beitritt Georgiens bis Ende 2028 auszusetzen. Proteste gab es in Georgien jedoch schon davor. Die jetzigen Proteste knüpfen an jene an, die gegen das im vergangenen Jahr beschlossene »Gesetz über ausländische Agenten« stattfanden. (ak 705) Ein weiteres Gesetz »für die Werte der Familie und zum Schutze von Minderjährigen« trat am 2. Dezember 2024 in Kraft und sieht u.a. ein Verbot von »LGBT-Propaganda« vor. Durchgesetzt wurden die Gesetze von der jetzigen Regierungspartei Georgischer Traum (Georgian Dream – GD), die seit den Wahlen am 26. Oktober ohne Opposition im Parlament sitzt. Proteste gibt es ebenso in anderen Städten Georgiens wie Batumi, Ozurgeti, Kutaissi und Gori. Solidaritätsdemonstrationen fanden auch in europäischen Großstädten statt.
Neben den Protesten, an denen zeitweise bis zu 200.000 Tausend Menschen allein in Tbilissi teilnahmen, gibt es Streiks in verschiedenen Sektoren. So erwies sich beispielsweise bei den Streiks in der IT- und Tech-Branche, dass der Dienstleistungssektor in Georgien besonders groß ist. Verschiedene deutsche Unternehmen haben ihre Callcenter nach Georgien outgesourct. Einen Mindestlohn gibt es nicht. Als in Tkibuli 24 Minenarbeiter aufgrund von Teilnahmen an den Protesten entlassen wurden, solidarisierten sich mehrere Menschen mit ihnen und veranstalteten eine Demonstration vor Ort. Arbeiter*innen aus den Manganwerken in Chiatura und Dorfbewohner*innen campierten bis Oktober 2024 vor dem Parlament, fünf von ihnen im Hungerstreik.
Mit Tritten und Tränengas
Die Protestierenden bei den anhaltenden Demonstrationen werfen der Partei GD vor, durch mutmaßliche Karussellwahlmethoden die absolute Mehrheit beim Wahlausgang für sich beansprucht zu haben. Nach dieser Methode werden Personen in möglichst vielen Wahllokalen registriert und am Wahltag mit einem Bus von Wahllokal zu Wahllokal gefahren. Der GD dementiert diese Vorwürfe und zeigt sich nicht bereit, die Wahlen erneut durchzuführen oder den Wahlvorgang von unabhängigen Stellen überprüfen zu lassen.
Im Laufe der Proteste gab es laut Angaben des Innenministerium mehr als 500 Festnahmen. Von den Personen, die aus dem Sicherheitsgewahrsam entlassen wurden, wiesen Hunderte schwere Blutergüsse, Gehirnerschütterungen oder Kiefer- und Knochenbrüche auf. Bis heute gibt es mehr als 19 Personen, denen Ausübung von Gewalt als Gruppe, Beamtenbeleidigung oder Angriffe auf Beamte zur Last gelegt werden und die zu Haftstrafen von bis zu sieben Jahren verurteilt wurden bzw. denen solche Haftstrafen drohen. In einem Fall wurde der Dekan der Kunsthochschule in Batumi mit vier seiner Studierenden festgenommen. Sie wurden wegen der Ausübung von Gewalt als Gruppe zu zwei Jahren Haft verurteilt. Gleichzeitig hält Premierminister Kobachidze beinahe täglich Pressekonferenzen ab, bei denen er der Polizei für ihre Arbeit dankt. Durchhalteparolen für einen schrumpfenden Polizeiapparat, denn trotz Einschüchterungsversuchen von Polizeikollegen gibt es mittlerweile etliche Kündigungen bei der Polizei. Ein Leiter der Polizei für die Spezialeinheit schmiss bereits das Handtuch und floh in die USA.
Seit den frühen 2000er Jahren hat die Frage der Homosexualität in Georgien eine geopolitisch-zivilisatorische Dimension angenommen.
Die Ausübung von Gewalt als Gruppe, für die es bereits Verurteilungen von Protestierenden gab, werfen diese wiederum der Polizei vor. Videoaufnahmen von Anfang Dezember zeigen, wie einzelne Personen aus einer Demonstration vor dem Parlament in eine Ansammlung von schätzungsweise 50 Polizisten und dann weiter zu einer Polizeiabsperrung gezerrt werden. Viele werden dabei von verschiedenen Polizisten auf den Kopf oder die Brust geschlagen – mitunter auch getreten. Eine Aufnahme, die lange Zeit in georgischen Medien kursierte, zeigte einen Polizisten, der Zviad Masiashvili, einer 23-jährigen Person, die auf dem Boden liegt, zwei Mal ins Gesicht tritt.
Für die Demonstrierenden ist es schwer, die Polizisten und die Spezialeinheiten auseinanderzuhalten: Die meisten sind vermummt. Die Bekleidungen variieren zwischen militarisierten Robo-Cop-Ausrüstungen und mit der Aufschrift Polizei versehenen Caps in Kombination mit schwarzer Kleidung und schwarzen Schuhen; Dienstnummern- oder Namensschilder gibt es nicht. Die Polizeimaßnahmen beschränken sich dabei nicht nur auf die Proteste: Hausdurchsuchungen und Festnahmen auf offener Straße stehen ebenfalls auf dem Programm. Der neue Präsident Mikheil Kavelashvili hat noch am Tag seines Amtsantritts am 29. Dezember 2024 ein Gesetzespaket unterschrieben, das weitere Einschränkungen für Demonstrierende vorsieht, unter anderem ein Verbot von Gasmasken – ein Problem, denn zuvor wurde bereits Tränengas in Wasserwerfer gemischt, weshalb der Platz vor dem Parlament zeitweise ohne Atemschutzmasken kaum zu betreten war.
Wahlkampf mit Krieg und Frieden
2012 sah die Situation noch anders aus. Der GD gewann damals die Wahlen unter anderem auch, weil Videos aus georgischen Gefängnissen an die Öffentlichkeit gelangt waren, in denen sexuelle Übergriffe und Folter von Seiten der Polizei dokumentiert sind. Auch tauchten Aufnahmen auf, die vermuten ließen, dass die damalige Regierungspartei Vereinte Nationale Bewegung (United National Movement, kurz: UNM) von diesen Zuständen wusste, sie gar als politisches Mittel einsetzte. Viele Politiker*innen der jetzigen Opposition waren oder sind Teil dieser Partei. Anfangs als ein Gegenentwurf zu dieser Partei angetreten, verfolgte der GD seit dem Wahlsieg 2012 einen pro-europäischen Kurs. Im Verlauf des Ukrainekrieges zeigte sich die Partei allerdings zunehmend distanzierter der Ukraine gegenüber. Parteiangehörige von GD sprachen von einer »Globalen Kriegspartei«, die es sich zum Ziel gesetzt habe, Georgien mit in den Ukrainekrieg zu ziehen.
Entsprechend eindimensional wurde der Wahlkampf von der Partei als Entscheidung zwischen Krieg und Frieden gerahmt. Eine Garantie für den Frieden könne dabei nur der GD geben. Schwer zu erkennen ist indes, von welchem Frieden die Rede sein soll, angesichts der Tatsache, dass nur 100 Kilometer von der Hauptstadt Georgiens entfernt die erste Grenze zum russisch besetzten Gebiet in Südossetien liegt. Während den Demonstrierenden nicht selten der Vorwurf gemacht wird, angetrieben zu sein von der EU als Projektionsfläche für Wohlstandsversprechen, ist eine EU-Flagge auf Demonstrationen zu schwenken auch deshalb etwas anderes, als dies auf einer Demonstration in West- oder Nordeuropa zu tun: Es geht unter anderem um die Frage, wie die schleichende Vereinnahmung durch Russland gestoppt werden kann, wie sie an der Grenze zu sehen ist, die ab und an auch Mal um einen Kilometer verschoben wird.
Im Zusammenhang mit dem umstrittenen Verhältnis zur EU ist der Begriff Gayrope interessant. Es handelt sich dabei um einen Kampfbegriff, der ausdrücken soll, dass Queerness als eine westliche, kulturelle, hegemoniale Strategie genutzt werde, um Einfluss zu nehmen. Während Russland die Grenzen faktisch verschiebt, würde der sogenannte Westen dies durch kulturelle Einflussnahme tun. Besonders in den vergangenen zwei russischen Wahlkämpfen wurde dieser Begriff verwendet.
Seit den frühen 2000er Jahren hat die Frage der Homosexualität auch in Georgien eine geopolitisch-zivilisatorische Dimension angenommen. Die Ablehnung eines »Pride March« durch bestimmte politische und orthodox-christliche Kräfte wird als Schutz der nationalen und christlichen Identität dargestellt. Das Gesetz »für den Wert der Familie und Schutz für Minderjährige« enthält schließlich ein Verbot von »LGBT-Propaganda«. Was »LGBT-Propaganda« sein kann oder von wem sie ausgeht, wird darin nicht beschrieben. Die bei einem Verstoß drohenden Strafen variieren zwischen umgerechnet 300 Euro bis zu drei Jahren Gefängnis. Verboten sind nun ebenfalls operative Maßnahmen zur Geschlechtsanpassung und Namenänderungen im Pass. Die Auswirkungen des Gesetzes sind schon jetzt sehr real. Einen Tag, nachdem das Gesetz im georgischen Parlament beschlossen wurde, wurde Kesaria Abramidze – eine der wenigen trans Personen in Georgien mit einer größeren Reichweite auf Social Media – umgebracht. Den Femizid beging ihr Ex-Freund.
In jüngster Zeit verfolgte der GD einerseits bis 2024 aktiv den EU-Integrationsprozess Georgiens, während er parallel dazu eine Anti-LGBT-Rechtsagenda vorantrieb. Diese wurde ideologisch als Treue zu den »authentischen« europäischen, christlichen Werten gerahmt. Diese spezifische, ideologische Kontextualisierung wurde notwendig, als die Partei ihrer konservativen Wähler*innenbasis den scheinbaren Widerspruch ihrer Politik erklären musste. Denn diese Basis ist zwar vom wirtschaftlichen und kulturellen Kapital der EU angezogen, nimmt die EU aber gleichzeitig als eine Bedrohung ihrer national-orthodoxen Werte wahr. Die Rahmung der Anti-LGBT-Politik als Verteidigung »echter« europäischer Werte diente somit dem GD als Rechtfertigung, warum er trotz seiner konservativen Haltung die EU-Integration anstrebte.
Ein entscheidender Moment
In Georgien herrscht eine weitverbreitete Ernüchterung gegenüber traditioneller Parteipolitik. Wähler*innen stimmen zunehmend gegen Parteien ab, anstatt bestimmte politische Visionen zu unterstützen. Das spiegelt die weltweite Erosion des Vertrauens in liberal-demokratische Institutionen wider. Entscheidende innenpolitische Debatten über soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit wurden durch geopolitische Belange verdrängt. Währenddessen bleibt Georgiens politische Elite in einem jahrzehntealten Muster gefangen, in dem gegnerische Fraktionen einen Nullsummen-Wettbewerb betreiben und jeweils danach streben, den anderen zu eliminieren, anstatt einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Die gegenwärtige Krise stellt mehr als nur ein weiteres Kapitel in Georgiens komplexer Geschichte dar – sie ist ein entscheidender Moment, in dem innenpolitische Dysfunktion auf umfassende geopolitische Transformationen trifft und möglicherweise Georgiens Platz in der internationalen Ordnung für kommende Generationen neu definiert.
Die Mischung aus einem sich intensivierenden Autoritarismus mit Polizeigewalt und einer homofeindlichen Grundhaltung lässt sich zurzeit an vielen Orten erkennen und ist keine neue Entwicklung. Dass die Antworten darauf so umfänglich sind und von unterschiedlichsten Seiten kommen, ist aber durchaus neu. Dass das auch die Regierenden Georgiens so sehen, zeigt die eskalierende Polizeigewalt. Der Oligarch Bidzina Ivanishvili, der kein politisches Amt innehat, aber als Ehrenvorsitzender der GD bei allen Veranstaltungen der Regierung prominent anwesend ist, rechnet damit, dass den Demonstrierenden ihre Energie spätestens bis zum Frühjahr ausgehen wird und sich die Demonstrationen mit der Zeit legen. Durch die neuen und umfangreichen Beschränkungen des Demonstrationsrechts scheint es so, als solle dieser Prognose ein wenig nachgeholfen werden.