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|ak 709 | Diskussion |Reihe: Funktioniert das?

Funktioniert das? Texte lesen

Von Nelli Tügel

Blick durch einen Gang voller Buchstapel und Bücherregale in einen anderen Raum, in dem weitere Bücherregale stehen
Muss man das wirklich alles lesen? Antwort: Ja. Foto: Public Domain

Eine unter vielen Linken verbreitete Überzeugung lautet: Bewegung schlägt Textstudium und Theorie um Längen. Schon Karl Marx schrieb 1875, dass »jeder Schritt wirklicher Bewegung (…) wichtiger als ein Dutzend Programme« sei. Dass Bewegungen dabei nicht nach Schema F verlaufen, wusste Rosa Luxemburg, die 1910 bei einer Rede vor organisierten Arbeiter*innen, in der sie über das Mittel des Massenstreiks und die Gewerkschaften sprach, sagte: »Die moderne proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach irgendeinem fertigen, in einem Buch, in einer Theorie niedergelegten Schema, der moderne Arbeiterkampf ist ein Stück in der Geschichte, ein Stück der Sozialentwicklung, und mitten in der Geschichte, mitten in der Entwicklung, mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen.«

Schöne Zitate. Woher ich sie kenne? Aus einem Lesekreis, in dem ich mit einer Handvoll alter Gefährten seit 15 Jahren marxistische Literatur wälze. Was uns dabei immer wieder auffällt, ist, wie viele Fragen und Debatten, die linke Menschen heute so umtreiben, schon gestellt und geführt wurden und wie viele von den Antworten, die andere vor uns bereits gefunden haben, wieder in Vergessenheit geraten sind. Es gehört ja zu den Eigentümlichkeiten des Marxismus, dass einige wenige Lehrsätze auch kennt, wer noch nie eine Zeile der Klassiker gelesen hat (»Der Hauptfeind steht im eigenen Land«, »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden«, »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« usw. usf.), die Entstehungszusammenhänge dieser »Weisheiten« aber oft unbekannt sind. Was damit zu tun hat, dass Revolutionär*innen manchmal zu Poster Boys und Girls werden (ich sag nur Che Guevara, doch Rosa Luxemburg gehört wohl auch dazu), und ihre Ideen und Taten dann hinter einer »Marke« verschwinden. Aber auch damit, dass der Stalinismus aus dem Marxismus als lebendiger Methode eine tote Buchreligion machen wollte – wie es sich für Religionen gehört mit der strengen Kontrolle über die heiligen Schriften, woraufhin viele der »unheiligen« Schriften und Autor*innen verdrängt wurden, verblassten, manche erst Jahrzehnte später wieder entdeckt wurden. 

Nein, eine Buchreligion ist der Marxismus nicht und insofern hatte Rosa Luxemburg 1910 natürlich Recht: Es gibt kein fertiges, aus (alten) Texten ableitbares Schema für die Praxis. Allein schon deshalb, weil sich die Welt und mit ihr die Bedingungen, unter denen Menschen für ihre Befreiung kämpfen, verändern. Einige Fragen, die uns heute beschäftigen, konnten vor 100 oder 150 Jahren noch gar nicht gestellt werden. Erstaunlich viele aber eben doch! Ehrlich gesagt ist es ziemlich erschreckend, wie oft soziale Bewegungen das Rad schon neu erfunden haben. Das wiederum liegt nicht nur daran, dass wir alle zu wenig lesen, sondern auch daran, dass es internationale Zusammenhänge – so wie früher die verschiedenen sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Internationalen – seit langer Zeit nicht mehr (wirklich) gibt, deren Funktion unter anderem die eines globalen und historischen Wissensspeichers ist. Was hat wo und warum funktioniert, was nicht, was können wir voneinander, aus anderen Teilen der Welt, von anderen Bewegungen als der, in der wir selbst aktiv sind, oder eben aus der Geschichte lernen? Darüber finden, davon bin ich zutiefst überzeugt, viel zu selten länder- und bewegungsübergreifende Gespräche statt. Viele Fehler werden deswegen erneut und erneut begangen. Und Wissen über das, was schon einmal funktioniert hat, verbreitet sich kaum oder geht verschütt. 

Gegen letzteres anzugehen, dazu soll diese Kolumne einen kleinen Beitrag leisten – eine linke »Best Practice«-Kolumne, in der unterschiedliche Autor*innen monatlich eine konkrete Aktion, Aktionsform oder Praxis vorstellen, die sich – gerade erst oder schon vor langer Zeit, um die Ecke oder Tausende Kilometer entfernt – bewährt hat und zur Nachahmung empfiehlt. 

Lektion Nummer eins. Lesen ist auch Praxis! Es lohnt sich! Gerade auch, aber natürlich nicht nur die Klassiker. Lesen hilft dabei, die Welt zu verstehen und schützt uns davor, wieder ganz von vorne beginnen zu müssen. Macht es am besten nicht allein, sondern mit ein paar Genoss*innen eures Vertrauens. Und: Lest gerne auch die nächste Ausgabe dieser Kolumne, wenn wir erneut fragen, was funktioniert. Stimmt schon: Echte Bewegung schlägt Textstudium. Noch besser aber ist es, wenn eine Bewegung vorbereitet ist, weil die sich Bewegenden schon ein paar Lehren aus Vergangenem ziehen konnten und entsprechend überlegt handeln. Und dabei wiederum helfen sie uns sehr, die Texte.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.