Funktioniert das? Texte lesen
Von Nelli Tügel
Eine unter vielen Linken verbreitete Überzeugung lautet: Bewegung schlägt Textstudium und Theorie um Längen. Schon Karl Marx schrieb 1875, dass »jeder Schritt wirklicher Bewegung (…) wichtiger als ein Dutzend Programme« sei. Dass Bewegungen dabei nicht nach Schema F verlaufen, wusste Rosa Luxemburg, die 1910 bei einer Rede vor organisierten Arbeiter*innen, in der sie über das Mittel des Massenstreiks und die Gewerkschaften sprach, sagte: »Die moderne proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach irgendeinem fertigen, in einem Buch, in einer Theorie niedergelegten Schema, der moderne Arbeiterkampf ist ein Stück in der Geschichte, ein Stück der Sozialentwicklung, und mitten in der Geschichte, mitten in der Entwicklung, mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen.«
Schöne Zitate. Woher ich sie kenne? Aus einem Lesekreis, in dem ich mit einer Handvoll alter Gefährten seit 15 Jahren marxistische Literatur wälze. Was uns dabei immer wieder auffällt, ist, wie viele Fragen und Debatten, die linke Menschen heute so umtreiben, schon gestellt und geführt wurden und wie viele von den Antworten, die andere vor uns bereits gefunden haben, wieder in Vergessenheit geraten sind. Es gehört ja zu den Eigentümlichkeiten des Marxismus, dass einige wenige Lehrsätze auch kennt, wer noch nie eine Zeile der Klassiker gelesen hat (»Der Hauptfeind steht im eigenen Land«, »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden«, »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« usw. usf.), die Entstehungszusammenhänge dieser »Weisheiten« aber oft unbekannt sind. Was damit zu tun hat, dass Revolutionär*innen manchmal zu Poster Boys und Girls werden (ich sag nur Che Guevara, doch Rosa Luxemburg gehört wohl auch dazu), und ihre Ideen und Taten dann hinter einer »Marke« verschwinden. Aber auch damit, dass der Stalinismus aus dem Marxismus als lebendiger Methode eine tote Buchreligion machen wollte – wie es sich für Religionen gehört mit der strengen Kontrolle über die heiligen Schriften, woraufhin viele der »unheiligen« Schriften und Autor*innen verdrängt wurden, verblassten, manche erst Jahrzehnte später wieder entdeckt wurden.
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