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|ak 710 | Diskussion |Reihe: Funktioniert das?

Funktioniert das? CEOs killen

Von Nelli Tügel

Man sieht eine Malerei, auf der ein Mann einen anderen erschießt.
Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat? Neu ist diese Frage jedenfalls nicht. Bild: Wikimedia Commons/V. Ginés, CC BY-SA 3.0

Eigentlich sollte an dieser Stelle ein hübscher kleiner Text über Bossnapping stehen (keine Sorge, das wird nachgeholt), doch dann kam ein Ereignis dazwischen, das seit Tagen Millionen Menschen im Internet, in den USA und darüber hinaus beschäftigt: der Mord an Brian Thompson, CEO von United Healthcare, des größten Krankenversicherungskonzerns der Vereinigten Staaten. Thompson wurde am 4. Dezember mitten in New York von hinten erschossen. Mutmaßlich von dem 26-jährigen Luigi Mangione, der wiederum nach mehrtägiger Flucht in einem McDonalds in Pennsylvania verpfiffen und geschnappt wurde.

Allem Anschein nach hat Mangione aufgrund von durch persönliche Erfahrung geschürten Hass auf das menschenverachtende, ja: mörderische System der privaten Krankenversicherer gehandelt; abgesehen davon scheint er politisch in eher unsympathischen Gefilden unterwegs gewesen zu sein, das legen seine Internetprofile nahe. Darüber machte sich nach seiner Festnahme zwar etwas Enttäuschung in den Sozialen Medien breit (eine Nutzerin schrieb: »well, hopefully the next CEO assassin is somebody more likeably«). Aber, und das ist das Bemerkenswerte an dieser ganzen Geschichte: Seine Tat, der Mord an Brian Thompson, hat eine bis heute ungebrochene Welle der Sympathie und Freude ausgelöst. 

Auf die Todesnachricht, die United Healthcare auf der Firmen-Facebook-Seite veröffentlichte, reagierten Zehntausende mit fröhlichen Lachsmileys. Eine wahre Flut an Memes, die die Tat feiern, kursieren im Netz. Parallel dazu ist eine ernsthafte Debatte über die düsteren Abgründe des US-Krankenversicherungssystems entbrannt. Viele Menschen teilen derzeit ihre eigenen Geschichten von Ablehnungen notwendiger Behandlungen und horrenden Schulden. Selbst einige bürgerliche US-Kommentator*innen stellen nun nicht etwa den Mord an Thompson, sondern vielmehr das mörderische Treiben des von ihm geführten Konzerns in den Fokus der öffentlichen Diskussion. 

Mit Staunen und Faszination nimmt man das auch außerhalb der USA wahr: Die österreichische Tageszeitung Standard etwa fragte am 11. Dezember, zwei Tage nachdem Mangione verhaftet worden war: »CEO-Mord: Eskaliert der Klassenkampf in den USA?« Und auf dem Online-Portal Watson wird für deutschsprachige Leser*innen erklärt, warum in Amerika »der CEO-Mörder als Volksheld gefeiert« wird. Um nur zwei Beispiele für die hiesige mediale Rezeption zu nennen.

Dass Mangione als »Volksheld« gefeiert wird, ist einerseits in dieser Intensität überraschend, zugleich aber vollkommen plausibel. Vielleicht Millionen US-Amerikaner*innen haben selbst beziehungsweise vermittelt über Angehörige, Arbeitskolleg*innen oder Freund*innen die Erfahrung gemacht, dass Krankheit im Land der Freiheit jederzeit bedeuten kann, sich von einem Tag auf den anderen im fünf- bis sechsstelligen Bereich zu verschulden oder aber auch sterben zu müssen. Und das nur, weil Versicherungskonzerne wie eben United Healthcare die Übernahme von Kosten für notwendige Behandlungen oder Krankenhausaufenthalte nicht gewähren. 

Dass Mangione als »Volksheld« gefeiert wird, ist einerseits in dieser Intensität überraschend, zugleich aber vollkommen plausibel.

Unter dem Titel »Delay, Deny, Defend« (Verzögern, Ablehnen, Verteidigen), der das Ablehnungsvokabular der Versicherer aufgreift, schrieb darüber vor einigen Jahren der Buchautor Jay M. Feinman. Offenbar in Anlehnung daran sollen auf den Patronen, mit denen Luigi Mangione auf Thompson schoss, die Worte »delay, deny, depose« (verzögern, leugnen, ablehnen) eingraviert gewesen sein. Gerade in jüngster Zeit ist vielen Berichten zufolge die ohnehin schon gefährlich hohe Ablehnungsrate weiter in die Höhe geschnellt – Hintergrund ist wohl der Einsatz von KI, die trotz einer, den Manager*innen bekannten, Fehlerquote von 90 Prozent für Entscheidungen über Kostenübernahmen und damit auch über Leben und Tod eingesetzt wird. 

Vor diesem Hintergrund also ist die gegenwärtige Freude über den Mord an dem CEO zu verstehen. Die Idee ist indes überhaupt nicht neu. Schon als The Coup im Jahr 2001 »5 Million Ways to Kill a C.E.O.« rappten, war das Thema ein alter linker Hut. In Westdeutschland gab es natürlich u.a. die RAF, die etwa den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer tötete. Politische Attentate und die Diskussion darüber, ob es etwas bringt, einzelne Vertreter*innen des (kapitalistischen) Systems zur Strecke zu bringen, gehen jedoch bis ins 19. Jahrhundert zurück. 

Nun ist es so: Egal, ob eine*r Anhänger*in der »Propaganda der Tat« ist, es eher mit Leo Trotzki hält (der zwar Sympathie mit Attentäter*innen äußerte, aber die Überlegenheit kollektiver Massenaktionen wie Streiks dagegenstellte), ob eine*r aus moralischen Gründen Gewalt ablehnt oder was auch immer: Dass der Mord an Brian Thompson Wirkung gezeigt hat, lässt sich nicht leugnen. Für ein paar Tage scheint Luigi Mangione es mit seiner Tat geschafft zu haben, Klassenhass quer durch die politischen Lager der USA zu mobilisieren und dadurch auch die Themen der Rechten ein wenig zu verdrängen. Thompsons Tod hat zudem nicht nur eine breite und kritische Debatte über die US-Krankenversicherer ausgelöst, sondern auch schon konkrete Verbesserungen bewirkt: So hat der Versicherer Anthem Blue Cross Blue Shield eine geplante Deckelung der Übernahme von Anästhesiekosten im Bundesstaat Connecticut wieder zurückgenommen.

Und dann ist da noch etwas anderes: die Angst. Denn eine Auswirkung sowohl des Mordes als auch seiner positiven Rezeption dürfte sein, dass unter CEOs in den USA eine gewisse Unruhe Einzug gehalten hat. United Healthcare und CVS Health haben jedenfalls inzwischen die Fotos ihrer Führungskräfte von ihren Webseiten entfernt. Allein das ist unglaublich viel wert: dass, und sei es nur für einen Augenblick, die Angst nicht mehr allein in denen lauert, die sich davor fürchten müssen, krank zu werden, sondern auch in jene kriecht, die daran arbeiten, diese perfiden Geschäftspraktiken noch profitabler zu machen – und dafür über Leichen gehen. 

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.