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|ak 567 | International

Fünf Fragen an die arabischen Revolutionen

Über die neue politische Kraft der Armen, die Unruhen am Mittelmeer und den Kosmopolitismus der Straße

Von Helmut Dietrich

Mit den Aufständen, die am 17. Dezember 2010 im entlegenen tunesischen Städtchen Sidi Bouzid begonnen haben, brechen die Armen in die Geschichte der arabischen Länder ein. Erklärtes Ziel: soziale Gerechtigkeit (»Würde« und der »Sturz des Systems«). Anders als bei dem antikolonialistischen Kampf vor einem halben Jahrhundert treten die Armen nicht als Fußvolk aufsteigender Eliten in den Kampf. Anders als beim algerischen Aufstand 1988 handelt es sich um eine transnationale Erhebung. Anders als bei den Brotrevolten der 1980er Jahre gibt es keine verhandelbare Einzelforderung, sondern eine allgemeine soziale Mobilisierung. Die erste Frage, die hier erörtert werden soll, lautet: Woher nehmen die Armen plötzlich diese Kraft?

Häufig wird die Bedeutung der neuen Medien – Facebook, Internet, Satellitensender – für die Ausbreitung der arabischen Aufstände hervorgehoben. Die transnationale Dimension erschließt sich aber vor allem, wenn man die gewachsene Mobilität der Menschen untersucht. Vor allem die jungen Menschen reisen und migrieren innerhalb des Maghreb und vom Maghreb in die Golfstaaten sowie von Ägypten nach Libyen in einem Ausmaß, dass eine regionale Integration von unten über die Landesgrenzen hinweg entsteht. Die jungen Unzufriedenen sammeln sich aber nicht unter den alten Bannern des Panarabismus und des Panislamismus. Wenn man die Migration Richtung Südeuropa hinzunimmt, ergibt sich ein zusammenhängender Unruhe-Teppich rund ums Mittelmeer, der bislang nur die Türkei und den Libanon ausspart.

In den offenen Kämpfen kommt es aber nicht zur Vermischung: Es gibt keine reisenden Revolutionsbrigaden und keinen »Revolutionsexport«. Eher könnte man von einer Ansteckung oder einer Gleichzeitigkeit sprechen. Nur am Rande sind in Rabat, Amman, Madrid oder Athen Pappschilder mit den transferierten Schlüsselworten »Dégage!«, »Place Tahrir« oder mit Fahnen Tunesiens und Ägyptens zu finden. An zweiter Stelle wird nach der Zirkulation der Erfahrungen zu fragen sein.

Bis März 2011 waren diese Aufstände außerordentlich erfolgreich. In Tunesien und Ägypten gelang es, die Autokraten in die Flucht zu schlagen und die herrschenden oligarchischen Institutionen in eine schwere Krise zu stürzen. Über Tausende Kilometer breitete sich ein ähnliches kollektives Handlungsmuster aus: Polizeistationen, Gerichte und Rathäuser wurden aus Straßenversammlungen heraus angezündet, wilde Streiks brachen aus, Zwangsräumungen wurden von spontanen Protestaufläufen gestoppt, der ungenehmigte ambulante Straßenhandel weitete sich in den Städten aus. Alle arabischen Regime erhöhten vorsorglich die Löhne loyalitätswichtiger Berufsgruppen und die Subventionen für Grundnahrungsmittel.

Ab März / April 2011 begann in Tunesien und Ägypten der sogenannte »geordnete Übergang«, in dem die Politik von der Straße wieder in die Paläste verlagert wurde. Die Oppositionsparteien wurden einbezogen und ihre Distanz zu den Armen ausgenutzt. Diese Phase geriet in Tunesien wie in Ägypten zu einer Zeit der brutalen Repression gegen die anhaltenden Aufstandsbewegungen. In Ägypten ist mit einer »zweiten Welle« des Protests seit dem 18. November die Legitimationskrise der Militärdiktatur sichtbar geworden. In Tunesien findet mit den Wahlen (23. Oktober 2011) zur verfassungsgebenden Versammlung der »geordnete Übergang« allmählich seinen Abschluss. Bei diesen Wahlen machten die NichtwählerInnen fast 50 Prozent aus; hinzuzurechnen sind die 15 Prozent derjenigen, die bewusst weiße Wahlscheine abgaben.

Damit zeigt sich, dass sich die alt-neuen Eliten in Ägypten und Tunesien nur auf einen begrenzten Konsens stützen können. Das Tor zu einer anhaltenden sozialen Unruhe ist aufgestoßen. Die Aufstände haben einen Kampfzyklus an der südeuropäischen Peripherie eröffnet und werden ein regionales Krisenregime provozieren. Die dritte Frage lautet: Worauf stützen sich die neuen Eliten?

In anderen Ländern, in denen die Aufständischen keinen schnellen Sieg erringen konnten, erprobten die USA, die EU und die Golfstaaten andere Wege: In Libyen, wo Gaddafi den Aufstand militarisierte, forcierte die NATO diese Entwicklung, indem sie unter amerikanisch-französisch-britischem Kommando und unter Beteiligung Katars in den libyschen Krieg eintrat. Der gesellschaftliche Aufbruch kam zum Erliegen. In Bahrain fielen saudische Truppen und Militäreinheiten der Vereinigten Arabischen Emirate ein und schlugen den Aufstand nieder. Im Jemen und in Syrien scheiterten alle Versuche einer revolutionären Erhebung. Seit über einem halben Jahr ist die Welt Zeuge, wie die untergehenden Regime Jemens und Syriens Scharfschützen und Panzer gegen DemonstrantInnen und pauschal gegen die Zivilbevölkerung einsetzen. Im Unterschied zu den 1970er Jahren – in Chile, Argentinien, Brasilien – blicken die meisten linksgerichteten Gruppen und Parteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen aus aller Welt stumm auf diese Massaker.

Mit den arabischen Revolten sind dem EU-Grenzregime seine Wachhunde abhanden gekommen, konstatierten im Frühjahr 2011 mit großer Freude flüchtlingssolidarische Gruppen. Seit 2003 waren die nordafrikanischen Regime dazu übergegangen, die ungenehmigte Ausreise polizeilich und strafrechtlich zu verfolgen. Sie protestierten nicht dagegen, dass die EU ihren BürgerInnen Visa-Hindernisse in den Weg legte und das Mittelmeer in ein Labor der Flüchtlingsabwehr verwandelte. An vierter Stelle ist nach den Zielen der südlichen EU-Politik zu fragen.

2011 stürzen nicht nur Ben Ali, Mubarak und Gaddafi, sondern auch Papandreou, Berlusconi und Zapatero, wenn auch in unterschiedlichen Kontexten. Die EU droht an ihrer Südgrenze zu scheitern: Jenseits der Grenze geht das Konzept des arabischen Hinterhofs nicht auf, diesseits der Grenze misslingt die Integration der europäischen Mittelmeerländer. Es zeichnet sich ein autoritär-rassistisches Kerneuropa ab, das sich mit einem südeuropäischen Protektoratsgürtel umgibt. Südeuropa wird verarmen; es soll zur Pufferzone angesichts der arabischen Welt im Umbruch werden. Oder aber, ganz anders: Getrieben von den Erhebungen im Süden, entsteht ein neues euromediterranes Projekt, das sich der Freizügigkeit und einer sozial gerechten Zukunft verschreibt. Fünftens ist zu fragen, ob die sozialen Unruhen rund ums Mittelmeer Gemeinsamkeiten aufweisen.

1 Woher nehmen die Armen in den arabischen Ländern plötzlich diese Kraft?

Nach dem Sturz Ben Alis kam es zu einem raschen Bedeutungswandel zahlreicher Begriffe, die sich auf die arabische und muslimische Welt beziehen. Die »arabische Straße« galt zuvor als Inbegriff der Trägheit, Schicksalsgläubigkeit und populären Dummheit. Jetzt sieht man hier das Handlungszentrum im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit.

Man sollte diesen neuen Begriff der »arabischen Straße« abgrenzen von dem im Westen geläufigen Modell der Sozialbewegung. In den Metropolen galt es als ausgemacht, dass eine Gruppenbildung über außeralltägliche Treffen erfolgt, die dann eine wachsende soziale Resonanz finden. Aus festen Versammlungsterminen entstünden Delegiertensysteme und Suppenküchen, gewerkschaftliche Kerne und Diskussionsgruppen etc. In den arabischen Ländern waren Initiativen dieser Art verboten und wurden schon im Ansatz verhindert. Der gewendete Begriff der »arabischen Straße« erlaubt hingegen, den Ursprung der Aufstände direkt in die Alltagspraktiken zu verlegen.

Der Soziologe Asef Bayat, der über ein Jahrzehnt in Kairo gelebt hat, nennt das Muster, das aus dem Alltag der Armen herrührt, »quiet Encroachment« (stilles Vordringen): Erst zapfen nur wenige die Stromleitungen an, ein erster ungenehmigter Straßenmarkt wird jeden Morgen im Viertel aufgebaut, die ersten leerstehenden Wohnungen werden besetzt. Sickern die Armen in den öffentlichen Raum ein; sie unterminieren die öffentliche Ordnung durch ihre massive Präsenz auf den innerstädtischen Plätzen, vor den Werkstoren und Einkaufszentren – bis der Punkt erreicht ist, dass die staatlichen Repressionskräfte zurückschlagen. In dem Moment formiert sich das »Non-Movement« zur kollektiven Aktion; der Aufstand beginnt. (1)

In Tunesien waren es die jungen Leute aus dem seit jeher vernachlässigten Landesinneren, die die Aufstandsbewegung mehrmals nach Tunis trugen. Sie fuhren einfach los und wurden, als sie in der Altstadt von Tunis ankamen, von den AnwohnerInnen mit Essen, Decken und allem Nötigen über Tage und Wochen versorgt. Diese Mobilisierung erhielt den Namen Kasbah-I. Als sie, zusammen mit den Armen der Hauptstadt, zum Sturz der Übergangskabinette aufriefen, kamen Hunderttausende, und die Regierungen fielen. Kasbah-II und Kasbah-III – so wurden die folgenden Belagerungen genannt – wurden ab Frühjahr 2011 zerschlagen. (siehe ak 561 und 564) Gleichzeitig begann die Polizei, den informellen Handel aus den Straßen der Innenstadt Tunis zurückzudrängen. Ab Sommer 2011 ist die Innenstadt für ambulante Straßenhändler und herumziehende arme Jugendliche gefährlich geworden: Grundlos verhaftet, droht ihnen Folter und der zwangsweise Einzug direkt zum Militär. JournalistInnen werden bis ins Innere der Redaktionsstuben verfolgt. Internationale Menschenrechtsorganisationen nehmen seit Sommer 2011 scharf gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Tunesien Stellung. Die Straßen- und Werksblockaden, Streiks und Straßenversammlungen gehen allerdings im ganzen Lande weiter.

2 Gibt es eine Zirkulation der Erfahrungen?

JournalistInnen waren sich schnell einig: Eine Facebook-Revolution sei im Gange. Nur mit Hilfe der IT- und Telefon-gestützten Kommunikationsmittel hätten sich die arabischen Revolten so schnell ausbreiten können. In der Tat spricht viel für die wachsende Bedeutung der neuen Technologien. Als die Polizei Sidi Bouzid angriff, wo der Aufstand entstanden war, erfuhren das die Leute in den Nachbarstädten Thala und Kasserine und stürmten ihrerseits Polizeiwachen und Rathäuser. Als sich daraufhin die Polizeitruppen nach Thala und Kasserine wandten, begehrte Sidi Bouzid erneut auf.

Ein anderes Beispiel: Als die tunesische Polizei den Ring um den Aufstand im Landesinneren schloss, machte sich ungefähr ein Dutzend junger BloggerInnen aus Tunis dorthin auf, sammelte Fotos und Kurzfilme, schmuggelte sie aus der Umzingelung hinaus und stellte sie ins Internet. Der Satellitensender Al-Jazeera übernahm zeitweise die Funktion eines Offenen Kanals für Tunesien und Ägypten, während die dortigen TV-Sender bis heute in der Hand der Oligarchien sind.

Auch die Rolle der arbeitslosen HochschulabsolventInnen wurde mit der »Facebook-Revolution« in Verbindung gebracht: Sie sind es, die kreativ mit den neuen Technologien umgehen und sich am besten in den transnationalen Netzen bewegen können. Doch sind gegenüber den technikfixierten Verallgemeinerungen Zweifel angebracht. Auch in früheren Umbruchsituationen waren technische Mittel wichtig, ob Tonkassetten, Fotokopien oder Zeitungen. Aber entscheidend sind die direkten zwischenmenschlichen Kontakte. Damit gelangt man wieder zur »arabischen Straße« und deren dichten persönlichen Begegnungsnetzen. Wenn man den wichtigsten Erfahrungsaustausch da verortet, wird man den Ausbruch von Demonstrationen und Aufständen über Tausende Kilometer hinweg kaum als Ergebnis der Absichten von AktivistInnen erklären können.

3 Worauf stützen sich die neuen Eliten?

Die Armen Tunesiens haben sich keine Repräsentanz im neuen politischen System aufgebaut. Es gab keine Partei, die mit einem stichhaltigen Sozialprogramm aufgewartet hätte – außer der populistischen, operettenhaften El Aridha el Shaabia (Volksbegehren für Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung) des Exiltunesiers Hechmi Hamdi, die im rebellischen Landesinneren zur stärksten Partei wurde.

Auch die Reichen und Mächtigen verfügen, das zeigt das Wahlergebnis des 23. Oktober, über keine eigenen mächtigen Parteien. Ennahdah, Kongress für die Republik und Ettakatol, die drei Parteien, die in der verfassunggebenden Versammlung die Regierungskoalition bilden, sind jeweils Sammelbecken für unterschiedliche soziale und ideologische Strömungen. Ihr wichtigstes Merkmal ist nicht, wie von Europa aus betont, ob sie islamistisch oder laizistisch orientiert sind, sondern dass sie allesamt unter Ben Ali auf das Schärfste verfolgt wurden und nun politisch liberale mit wirtschaftsliberalen Konzepten zu verbinden suchen. Seit Sommer 2011 treten sie gegenüber den offenen Konflikten im Lande als Ordnungsparteien auf, allerdings in klarer Abgrenzung zum Innenministerium, der politischen Polizei und den polizeilichen Folterzentren. »Von der Straße nach Hause!« oder »An die Arbeit!« – das sind ihre Refrains. Sie signalisieren den Resten des Ancien Regimes: Wenn jene sich ruhig verhalten, werden die Verantwortlichen für Folter und Repression nicht zur Rechenschaft gezogen und die Eigentumsverhältnisse nicht angetastet (abgesehen von dem beschlagnahmten Vermögen der Autokraten).

Bislang ist nicht klar, wie die staatstragende Gewerkschaft der Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) in das Regierungssystem eingebunden werden soll. Im tunesischen Landesinneren waren es Einzelne aus der UGTT-Basis, vor allem GrundschullehrerInnen, die die Armen im Aufstand unterstützten und die Nachricht nach Tunis weitergaben. Die lokalen UGTT-Leitungen hatten hingegen den Kurs des Outsourcings aus den Staatsbetrieben unter Ben Ali unterstützt und kräftig davon profitiert. Die UGTT-Gewerkschaftsleitung in Tunis stärkte Ben Ali den Rücken und versuchte, die aufmüpfigen Basisgruppen zu disziplinieren. Bis heute hat es die Gewerkschaftsbasis nicht geschafft, ihre kompromittierte Leitung zu stürzen.

Die ideologische Klammer der älteren UGTT-Generationen bildet ein Konglomerat aus einem sich links-antiimperialistisch verstehenden Panarabismus, einem tunesischen fortschrittsgläubigen Nationalismus und einem Säkularismus, wie ihn die französischen SozialistInnen und KommunistInnen vertreten. Auch wenn einzelne Basis-GewerkschafterInnen vor Ort Beträchtliches an Unterstützung geleistet haben, sollte man sich vor Augen halten, dass die rebellierenden Jugendlichen mit diesen Institutionen nichts zu tun haben. UGTT-Ideologie und -Organisation sagen ihnen nichts.

4 Wie reagiert die EU auf die arabischen Aufstände?

Erst als Ben Ali und Mubarak gestürzt waren, konnten sich die EU-Länder zu Begrüßungsgesten gegenüber den neuen Übergangsregierungen durchringen. Schließlich war es die EU gewesen, die mit ihrer Sicherheitsdoktrin und ihrer südlichen Nachbarschaftspolitik seit 2003 den »Ring von Freunden« (so der offizielle Begriff aus Brüssel) an der EU-Südgrenze massiv und systematisch gestützt hatte.

Mit dem Zusammenbruch der nordafrikanischen Regime sind der EU ihre Partner Tunesien und Libyen abhanden gekommen, die sie mit viel Geld und Know-How gefördert hatte. Seit 2003 ist dokumentiert, dass zwischen 20.000 und 70.000 Menschen jährlich aus Libyen Richtung Süden deportiert wurden. Viele kamen in der Wüste um. Noch im Oktober 2010 schloss die EU mit Präsident Gaddafi eine »Vereinbarung über technische Hilfe und Kooperation« ab und sagte 50 Millionen Euro für libysche Fahndung nach Boat-People zu. Kurz danach bestellte die libysche Regierung Fahndungstechnologie im Wert von 20 Millionen Euro in Europa. Weder die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström noch der für Europäische Nachbarschaftspolitik zuständige Kommissar Stefan Füle, die diese Vereinbarung in Tripolis abgeschlossen hatten, gerieten nach dem Sturz Gaddafis in die Kritik.

Nach Beginn der arabischen Revolten nahmen sich die tunesischen Jugendlichen vor allem in den südlichen Hafenstädten und im Landesinneren das Recht der Ausreise. Im Rückblick fällt auf, dass im gesamten Nordafrika in den letzten zwei Jahren das Thema der »Harraga« (Bootsflüchtlinge) allmählich aus der öffentlichen Tabuzone herausgerückt ist. Es gibt mehr Lieder, Filme und Bücher dazu. In Tunesien, Algerien und Marokko kommt es zu Demonstrationen von Angehörigen verschwundener Boat-People.

Und die Aufbrechenden probieren neue Techniken aus. Wenn sie mit einem Dutzend Booten gleichzeitig starten, ist es wahrscheinlich, dass vielleicht die Hälfte der Boote einer küstenpolizeilichen Entdeckung entkommt. In Nordafrika und in Italien entstehen karitative Nothilfe-Stellen, die Satellitentelefon-Rettungsrufe von Schiffsbrüchigen annehmen und an staatliche Stellen weiterleiten, damit gezielte Hilfsaktionen möglich werden. Angehörige in Europa übernehmen die Arbeit der rechtsanwaltlichen Absicherung noch während der Rettung. Abschiebeknastaufstände von Lampedusa bis Turin erschütterten das ganze Jahr 2011 die Festungsarchitektur Italiens. In Paris besetzten tunesische Lampedusa-Flüchtlinge ein Anwesen (in der Rue Botzaris 36), das sich im Eigentum der tunesischen Botschaft befand, und entdeckten dort das bislang größte tunesische Partei-, Polizei- und Geheimdienst- Auslandsarchiv.

Die EU reagiert mit Härte. Seit dem 20. Februar 2011 läuft im süditalienischen Meer die Überwachungs- und Fahndungsaktion »Hermes« der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Seit dem 19. März 2011 blockiert die Nato vor der libyschen Küste lückenlos den Schiffsverkehr. Die großen Schiffskatastrophen, die im Laufe des Jahres in der Meerenge zwischen Italien, Malta, Tunesien und Libyen passieren, ereignen sich unter den Augen der Militärs. Es gilt inzwischen als gesichert, dass seit mindestens 2008 Kriegs- und Frontexschiffe sowie -hubschrauber schiffbrüchige Boat-People bis in ihren Tod fahndungstechnisch begleitet haben, ohne lebensrettende Hilfe zu leisten.

Insgesamt starben im Laufe des Jahres 2011 laut UN-Angaben in dieser überschaubaren Meeresregion 2.000 Personen, zur Hälfte afrikanische Bürgerkriegsflüchtlinge aus Libyen, zur Hälfte tunesische Harraga. 3.380 TunesierInnen wurden laut tunesischem Konsulat in Palermo zwischen dem 28. April und 14. November aus Italien nach Tunesien abgeschoben, 13.000 legalisiert, und 7.000 sind registriert, aber ohne Papiere untergetaucht.

5 Haben die Unruhen rund ums Mittelmeer Gemeinsamkeiten?

Eine Antwort auf diese Frage kann allenfalls angerissen werden; eine Diskussion über die Verhältnisse, die offenbar »reif« waren für massenhafte subjektive Umbrüche, steht noch aus. Fest steht: Es gibt keine übergreifenden Parteien oder Organisationen und auch keine migratorische Schmelztiegel rund ums Mittelmeer. Manche Ähnlichkeiten, wie das Primat der mündlichen Kultur, sind eher historisch als durch eine organisierte Gemeinsamkeit sozialer Institutionen zu erklären. Nationalistische Aufhetzungen gegeneinander wurden öfter eingeübt; 2009 provozierten die Regierungen fast einen »Fußballkrieg« zwischen Algerien und Ägypten.

Aber es gibt eine Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren, vis-à-vis, über alle religiösen, stadtteil-, alters- und gendertypischen Trennlinien hinweg. Diese Kommunikation ist keine planerische. Man verabredet sich nicht zu Terminen in ferner Zukunft, sondern lotet die Gemeinsamkeiten im Augenblick aus. Das ist der Sinn des Herumstehens und des Herumsitzens, des Besuchs des Souks und des Kaffeehauses oder der Nachbarschaft.

Das Zeit haben zählt. Asef Bayat nennt das den »Kosmopolitismus« der Straße. Angesichts der wochen- und monatelangen Versammlungen in den großstädtischen Mittelpunkten, von den Plätzen Tahrir, Puerta del Sol bis Syntagma, wirkt diese wiedererfundene Fähigkeit wie der Schlüssel zu einer globalen Kritik: Global nicht als geographische Vernetzung von AktivistInnen, sondern als umfassender Neubeginn.

Helmut Dietrich

Helmut Dietrich ist Sozialwissenschaftler und Germanist. 2006-2010 Dozent an den Universitäten La Manouba (Tunis) und Oran (Algerien); Mitbegründer der Berliner Forschungsgesellschaft Flucht und Migration.

Anmerkung:
1) Asef Bayat: Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East, Stanford 2009. Das Buch wird im Frühjahr 2012 unter dem Titel »Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern« im Verlag Assoziation A erscheinen.