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Zwischen Moral und Positivismus

Unbestechliche Naivität war das Erfolgsrezept von Fridays for Future – und könnte Ausweg aus ihrer Krise sein

Von Nico Graack

Fridays for Future-Demo im September 2019 in Bonn Foto: Mike Baumeister / Unsplash

Vor knapp zwei Jahren ist Fridays for Future in die politische Landschaft eingeschlagen: Plötzlich konnte die Millionenmarke bei Demonstrationen wieder geknackt werden. Allerorts gab es Aktionen, Sympathiebekundungen und Notstandserklärungen von Politiker*innen. Unzweifelhaft hat eine Diskursverschiebung stattgefunden. Heute lässt sich nicht mehr über Wirtschaftspolitik reden, ohne über Umweltzerstörung zu reden. Diese Verschiebung des Diskurses wurde mit einem einfachen Hebel erreicht: kindlicher Naivität. Hier ist das, was die Wissenschaftler*innen sagen, hier sind die Verträge, die vonseiten der Politiker*innen unterzeichnet wurden, und hier ist unser alltäglicher Wahnsinn: Regenwaldabholzung und -brandrodung, neue Kohleminen in Bangladesch und Australien, Milliardeninvestitionen in Öl- und Gasförderungen und ein jährlich steigender Ressourcenverbrauch. Das passt nicht zusammen. So einfach ist das, lasst uns was tun!

Mit dieser nicht-revolutionären Logik hat Fridays for Future beachtliche symbolische Erfolge gefeiert. Wann wurden schon mal prominente Vertreter*innen einer politisierten Jugend nach nicht einmal zwei Jahren Protestbewegung ins Kanzleramt eingeladen? Über symbolische Erfolge hinaus hat es diese Logik jedoch noch nicht gebracht: Der Kohleausstieg wurde zwar beschlossen, hält in seiner konkreten Ausformulierung die Kohleförderung aber länger am Leben, als es die Marktmechanismen getan hätten. Und selbst dieser Ausstieg war eher ein Erfolg der militanter auftretenden Bewegung um Ende Gelände und den Hambi.

Diese Krise hat sich mittlerweile ins Bewusstsein der Bewegung durchgesetzt. Jakob Blasel, der zur nächsten Bundestagswahl für die Grünen kandidieren wird, drückt das in einem Zeit-Interview (24.8.2020) folgendermaßen aus: »Die Bewegung ist heute eine andere als vor anderthalb Jahren. Wir haben damals geglaubt: Wenn wir nur laut genug protestieren, wird sich sofort etwas verändern. Das war naiv.« (1) Die radikale Linke hat Erklärungen für diese Krise schnell bei der Hand: Die Fridays müssten endlich den Kapitalismus als Ursache der Klimazerstörung angreifen, statt nur über individuelle Lebensstile und Forderungen an die Parlamente zu reden. Richtig, aber abstrakt.

Affirmation des Bestehenden

Treten wir also einen Schritt zurück und fragen nach den inneren Gründen, die die Fridays zu ihrer bloß symbolischen Existenz verdammen. »Wir fordern von der Politik nicht mehr als die Berücksichtigung wissenschaftlicher Fakten«, ist auf der Homepage der deutschen Fridays zu lesen. Hierin liegt kondensiert der Positivismus, in den die produktive Naivität der Fridays zunächst unweigerlich führen muss. Ein Wissenschaftsverständnis, das auf erfrischende Art und Weise von 150 Jahren Ideologiekritik, Positivismusdebatte und Dekonstruktion keinerlei Notiz genommen zu haben scheint: »Die Wissenschaft« stellt Fakten fest, und damit gibt sie »der Politik« eigentlich auch schon alles vor – die Politik hat das nur noch umzusetzen oder, im Vertrauen auf die Weitsicht von Berufspolitiker*innen, zu »berücksichtigen«. Leider sind Emissionsmesswerte und Klimasimulationen – so wichtig sie für die Beurteilung der Situation auch sind – weit davon entfernt, uns irgendetwas über die gesellschaftlichen Ursachen für die Klimazerstörungen zu sagen oder uns gar Leitideen für ein neues Zusammenleben und Wirtschaften aufzuzeigen. Der für die Bewegung so zentrale Slogan »Unite behind the sciences« hat keinerlei politischen Gehalt.

Ein Verständnis für objektive Widersprüche und Konflikte, ein Begriff von System und Totalität, fehlt hier. Das ist mit »Positivismus« gemeint. Dieselbe Haltung führt auch zurück zum ersten Teil der zitierten Sentenz der Fridays: Affirmation des Bestehenden. Unsere bestehenden Institutionen des politischen Lebens werden hingenommen und zu »der Politik« substantialisiert, an die es nur die richtigen Forderungen mit genügend Druck zu vermitteln gilt – »nicht mehr«.

Flucht ins Moralische

Andernorts artikuliert sich die Frustration über politische Misserfolge in der Flucht von der politischen in die moralische Sphäre. Es seien die einzelnen Menschen, ihr Konsumwahn, ihre Rücksichtslosigkeit. Jede*r Einzelne sei nun gefragt, seinen kleinen Teil zur Rettung beizutragen: Lichtschalter aus, Fahrrad fahren, Biomarkt. Der konservative bis neu-rechts-dämliche Vorwurf, es handle sich um eine Bewegung der gelangweilten, privilegierten Mittelstands-Kids, die sich ein »nachhaltiges« Leben leisten können, ist nicht aus der Luft gegriffen. Aus der Bewegung selbst heraus hat diesen Vorwurf zuletzt Clemens Traub, Autor von »Future for Fridays? – Streitschrift eines jungen Fridays-for-Future-Kritikers«, polemisch und in sozialdemokratischem Pathos erhoben.

Doch die moralische Perspektive ist per se apolitisch. Sie muss die spezifischen Lebens- und Produktionsbedingungen der Menschen ausklammern und kämpft so im Zweifelsfall wider Willen gegen die Menschen, die unter der Last einer spezifischen Gesellschaftsformation, spezifischer ökonomischer Verwicklungen leiden und deren Handlungsspielräume strukturell begrenzt sind. Im schlimmsten Fall führt sie zur moralischen Denunziation derer, die kaum eine Wahl haben.

Folgen wir Traub weiter, so werden wir von der Moral zurück in den Positivismus geschleudert. Im Interview mit der Berliner Zeitung (24.9.2020) drischt er die Phrasen von Innovation und grüner Technologie: »Klimaauflagen gehen auf Kosten der Wirtschaft. Die Produktion wird teurer, plötzlich muss man Stellen abbauen. Fridays for Future muss das bedenken und mit der Wirtschaft ins Gespräch kommen.« Unkritisch affirmiert er die bestehende Wirtschaftsordnung, in der Maßnahmen gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen mit dem Profitzwang kollidieren und sich in Kosten für Produzent*innen niederschlagen, die wiederum auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden. Technologischer Fortschritt und Produktivitätssteigerungen befeuern innerhalb der Marktwirtschaft diese Ausbeutung von Lohnabhängigen und Natur noch.

Marktwirtschaft und Umweltzerstörung

In der abgedroschenen Sprache eines jeden Marx-Crashkurses klingt diese Einsicht so: »Es sind gerade die ungeheuren Produktivitätssteigerungen, die zur Eskalation der ökologischen Krise maßgeblich beitragen. … Im Rahmen der Kapitalverwertung sind alle ökologischen Ressourcen und Rohstoffe nur als Träger von Wert – also abstrakter menschlicher Arbeit – von Belang. Je höher aber die Produktivität, desto weniger abstrakte Arbeit ist in einem gegebenen Quantum Ware verdinglicht. Um den Verwertungsprozess des Kapitals aufrechtzuerhalten, müssen daher bei steigender Produktivität entsprechend mehr Waren produziert und abgesetzt werden.« (Tomasz Konicz in ak 642)

Die Fridays stecken also in einer Sinnkrise: Sie müssen sich ihren Weg ins Politische bahnen, oder sie werden scheitern. Politisch denken aber heißt, die Strukturen unseres Zusammenlebens in den Blick zu nehmen – nicht bloß die Einzelentscheidungen, die innerhalb dieser Strukturen stattfinden können, oder aber die technologischen Fortschritte, die diese Strukturen hervorbringen.

Die treibende Naivität der Fridays-for-Future-Bewegung ist aber nicht nur der Grund ihrer Krise, sondern könnte zugleich auch der Ausweg sein. Der basale Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und Umweltzerstörung ist simpel und ganz unmittelbar, ohne ideologische Deduktionen aus marxistischen Dogmen zu begreifen. Einige Stimmen bei den Fridays sehen die Siemens-Kampagne als Niederlage an: »Man hat nun einmal keine demokratische Kontrolle über ein Unternehmen. Wir müssen uns an die Regierungen wenden!«

Ja, aber brauchen wir dann nicht demokratische Kontrolle über die Wirtschaft?

Doch es bedarf lediglich derselben Naivität, die das Erfolgsrezept der Fridays darstellt, um den nächsten Schritt zu machen: »Ja, aber brauchen wir dann nicht demokratische Kontrolle über die Wirtschaft?« Das ist das Paradox dieser Bewegung, das viele klassische linksradikale Kräfte nicht anzunehmen imstande sind: Es könnte der Auftakt einer Bewegung sein, die im Angesicht der existentieller werdenden Klimakatastrophe den Kapitalismus tatsächlich in die Mangel nimmt – allerdings ohne jemals theoretisch aufgeklärt über ihn zu sprechen, geschweige denn in Marxschem Vokabular. Diese Möglichkeit auch Wirklichkeit werden zu lassen, ist die aktuelle Aufgabe. Man wird sich ihrer aber nicht annehmen können, wenn man mit typischen linken Phrasen den – selbstredend in der Tat problematischen – privilegierten Mittelstandsgeist der Bewegung selbstgenügsam denunziert. Er gerade ist es, der die produktive Naivität produziert. Und genau damit müssen wir auf unsere Lebens- und Produktionsweise schauen: Hier die »Steigerung des Lebensstandards«, die massive Überproduktion schillernder Waren und Abfallstoffe, die Ausbeutung von Menschen überall im globalen Markt, dort die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen – ein und derselbe Prozess. So einfach ist das, lasst uns dagegen kämpfen!

Nico Graack

ist freier Autor und Philosoph. Er arbeitet am Institut für Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften in Berlin und engagiert sich in verschiedenen Klimakontexten.

Anmerkung:
1) Aus seiner Frustration, dass der das Parlament adressierende Schwung der Fridays all zu schnell vereinnahmt wurde, schließt Blasel, dass man dann eben selbst in die Parlamente müsse. Seine Antwort bleibt damit dem positivistischen Geist der Bewegung verhaftet.