Frankreich: Profitiert nun die Rechte?
Die Rentenreform ist verabschiedet, die Gewerkschaften sind im Rückzug, lokale Proteste dauern an
Von Bernard Schmid
Zumindest offiziell ist sie durch, verabschiedet, angenommen, vom Verfassungsgericht abgesegnet, seit dem 15. April dieses Jahres im Journal officiel veröffentlicht: die sogenannte Rentenreform in Frankreich. Das bedeutet allerdings nicht, dass Ruhe darum eingekehrt wäre. Ein Großteil der öffentlichen Meinung beharrt auf ihrer Ablehnung, regelmäßig tun dies zwischen 60 und 70 Prozent der an Umfragen teilnehmenden Bevölkerung. Bei abhängig Beschäftigten steigt die Abneigung auf Werte um die 90 Prozent. Und seitdem Staatspräsident Emmanuel Macron am Abend des 17. April eine TV-Ansprache an das Staatsvolk hielt, in der er seinen Willen bekundete, nunmehr »das Blatt zu wenden«, ein neues innenpolitisches Kapitel aufzuschlagen und die Debatte um diese »Reform« bitte schön als erledigt zu betrachten, flammten sogleich neue Proteste auf.
Diese haben indes ihren Charakter geändert. Standen im Januar und Februar noch eher durch die Gewerkschaftsverbände zentral aufgerufene Demonstrationen mit Massenbeteiligung im Vordergrund und im März zeitweilige Streiks in einigen Sektoren (Eisenbahn, Raffinerien), so prägen nun eher spontane, lokale Proteste das Bild. Es begann am selben Tag, an dem Macron auf den Fernsehbildschirmen sprach: Tausende von Menschen strömten zur selben Zeit auf Straßen und Plätze, um auf Kochtöpfe und Pfannen zu schlagen und Lärm zu machen, anstatt auf die Bildschirme zu starren. Die Ansage lautete: Wir hören dir nicht zu, wir erfahren ohnehin nichts Interessantes dabei.
Seitdem ist jeder angekündigte Präsidenten- oder Minister*innenbesuch von Lärm und Tumult geprägt. Macron verließ etwa die Stadt Vendôme westlich von Paris in der dritten Aprilwoche fluchtartig im Helikopter, statt wie geplant ein Bad in der Menge zu nehmen. Am 8. Mai provozierte sein Besuch in Lyon – offiziell für eine Gedenkfeier zum Kriegsende 1945 – eine Demonstration von knapp 5.000 Menschen. Unterdessen stufte die Ratingagentur Fitch in den letzten Apriltagen die Note des französischen Staates auf AA minus und damit seine sogenannten Kritikwürdigkeit herunter: Dort rechnet man mit länger anhaltenden, womöglich ausufernden Protesten und einer verstärkten Verbreitung von Ideen, die man für antikapitalistische »Ressentiments« hält.
Und die Linke? Man könnte erwarten, dass diese von den sozialen Konflikten der letzten Monate innenpolitisch profitiert. Doch trifft das, jedenfalls für die parteiförmige Linke, nicht oder in geringem Ausmaß zu, insbesondere gilt dies für die von linkssozialdemokratisch über ökologisch bis linksnationalistisch von mehreren Zuflüssen gespeiste Wahlplattform La France insoumise, LFI (Das unbeugsame Frankreich).
Geschwächt wurde die Position von LFI, die aus ihrer parlamentarischen Tribüne in Kombination mit einer Präsenz auf den Straßen eine starke Oppositionsdynamik entwickeln können, durch intern wie extern laut werdende Fragen. Dazu zählen die Widersprüche zwischen radikal-demokratischen Forderungen und Diskurs einerseits sowie realer innerparteilicher Autokratie andererseits. Hinzu kommt aber auch das zunehmend offenliegende Konkurrenzverhältnis zu den Gewerkschaften. So versuchte LFI, sich phasenweise an die Spitze der Proteste zu stellen und meldete eigene Demonstrationstermine an. Die Gewerkschaftsspitze betrachtet dies jedoch eher mit Argwohn und als Konkurrenztermine zu ihren »Aktionstagen« und Streikterminen. Der bis im März amtierende CGT-Generalsekretär Philippe Martinez übte daran auch öffentlich Kritik.
Der seinerseits um Profilierung durch soziale Demagogie bemühte rechtsextreme Rassemblement National versuchte, an Lautstärke LFI den Rang abzulaufen und die Linksopposition im Parlament und den Medien zu übertönen. Dort verfügt die neofaschistische Rechte mit ihren 88 Abgeordneten über eine Tribüne, auch wenn sie auf den Streiks und Demonstrationen weitestgehend abwesend war. Ihre soziale Demagogie wird durch Teile der Öffentlichkeit honoriert, derzeit würde laut Umfragen Marine Le Pen eine Präsidentschaftswahl mit 55 Prozent der Stimmen gewinnen.
Aktuell herrscht ein Wettlauf zwischen Gewerkschaften (und linken Kräften) einerseits und der neofaschistischen Pseudo-Alternative andererseits. Sollten die Gewerkschaften auf Dauer der sozialen Brutalität der Macron-Regierung unterliegen, dann muss man sich ausmalen, wie dieses Rennen ausgehen könnte.