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Nach dem »Erdbeben­­­kommunismus«

Wie ist die Lage in der zerstörten Provinz Hatay zwischen Wahlen und Wiederaufbau?

Von Johanna Bröse und Svenja Huck

Man sieht eine Person mit gelber Weste an einem Stand und ein Kind.
Lebensmittel-Ausgabestelle der sozialistischen Partei für gesellschaftliche Freiheit TÖP (Toplumsal Özgürlük Partisi) im Zentrum von Samandağ. Foto: Johanna Bröse

Es ist, als existierten in der Türkei aktuell drei parallele Zeitrechnungen: Der Alltagskalender, mit dem versucht wird, den Anschluss an die Welt zu halten, die Zählungen »nach den Erdbeben« und »die Tage bis zu den Wahlen«. Nach nunmehr zwei Monaten, in denen die Menschen in den Erdbebenregionen mit dem unmittelbaren Überleben und dem Aufbau von Alltagsstrukturen beschäftigt waren, gewinnt nun auch die letzte Zeitrechnung an Bedeutung: Das Näherrücken der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai.

Beobachter*innen und Oppositionelle sehen die Wahlen als eine Möglichkeit für die Bevölkerung der Region, die AKP-geführte Regierung zur Rechenschaft zu ziehen: Für das eklatante Versagen des Staates nicht nur in den unmittelbaren Tagen nach den Beben, sondern auch für den andauernden Mangel an langfristig angelegter Infrastruktur in den vom Erdbeben zerstörten Orten. Doch genau das fürchtet die Regierung.

Neben möglicher Wahlfälschung, von der Oppositionelle und Wahlbeobachter*innen schon vor den Erdbeben ausgingen, kommt hinzu, dass der Ablauf der Stimmabgabe im Erdbebengebiet bisher unklar ist. Wo werden wie viele Wahlurnen aufgestellt? Sind alle Wähler*innen, die sich aktuell im Erdbebengebiet befinden, registriert? Und andersherum: Sind alle Verstorbenen aus den Wählerverzeichnissen gestrichen? Gerade letzteres wird derzeit stark angezweifelt. Darum kündigen Angehörige der Erdbebenopfer an, die Stimmabgabe persönlich genau zu verfolgen, um sicherzustellen, dass niemand anstelle ihrer Verwandten wählt. Hinzu kommt, dass nach den Erdbeben ein dreimonatiger Ausnahmezustand in den elf betroffenen Provinzen verhängt worden war. Zwar endet dieser regulär wenige Tage vor den Wahlen, aber er kann im Wahlkampf für weitreichende Beschränkungen genutzt werden, beispielsweise für das Verbot von Kundgebungen oder Demonstrationen.

Hatay unter Schutt

Ein Thema, das aktuell für spontane Proteste sorgt, ist das Abladen des Schutts in der Provinz Hatay, vor allem im Bezirk Samandağ. Anwohner*innen organisierten zeitweilig Blockaden auf den Straßen, die zu neu ausgewiesenen Abladeplätzen führen, was auch zu Zusammenstößen mit Polizei- und Sicherheitskräften führte. Das Ausmaß des Schutts der unmittelbar eingestürzten Bauten in der Provinz ist enorm. Expert*innen gehen zudem davon aus, dass bis zu 90 Prozent aller Gebäude der Region schwer beschädigt sind und auch noch stehende Bauten abgerissen werden müssen. Mit dem Schutttransport beauftragt sind private Firmen, die – um Kosten einzusparen – kurze Wege zwischen den Ruinen und den Abladeplätzen bevorzugen.

Praktisch führt das dazu, dass die oft asbestverseuchten Trümmer in unmittelbarer Nähe zu den Notunterkünften oder an wichtigen Orten für Zugvögel und Brutstätten von Schildkröten gesammelt werden. Die Lebensgrundlage vieler Wildtiere ist dadurch akut bedroht. Umweltverbände warnen eindringlich vor den langfristigen, gesundheitlichen Folgen für die Überlebenden, die, ebenso wie die Auswirkungen der Umweltgifte auf landwirtschaftliche Böden und Grundwasservorräte, Expert*innen großen Anlass zur Sorge bereiten. Der Bürgermeister von Samandağ und der temporär eingesetzte Gouverneur aus Iğdır schieben sich die Verantwortung dafür gegenseitig zu, während die Transporte unvermittelt weitergehen. Nicht zuletzt weckt der schnelle Abtransport die Befürchtung unter Statiker*innen und Städteplaner*innen, dass hier Beweise für Pfusch am Bau vernichtet werden sollen, bevor entsprechende Untersuchungskommissionen ihre Arbeit aufnehmen können.

Der türkische Staat duldet keine politische Macht, die seine Zentralherrschaft in Frage stellt.

Ein weiteres Thema, das die Menschen vor Ort umtreibt, ist die Flucht aus und Rückkehr in die von den Beben betroffenen Gebiete. Rund drei Millionen Menschen hatten in den ersten Tagen nach den Katastrophe die Region verlassen, in Richtung anderer Städte des Landes oder auch ins Ausland. Viele kehrten jedoch nach kurzer Zeit wieder zurück. Staatliche Fluggesellschaften hatten einen Monat lang kostenfreie Flüge bereitgestellt, leerstehende Hotelzimmer in den Touristenregionen wurden für Erdbebenopfer freigehalten. Auch die Studierendenwohnheime wurden geräumt – angeblich, um Erdbebenopfer darin unterzubringen. Viele zweifelten an der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme, unter anderem, weil sie auch Studierende betraf, die selbst aus den Erdbebenregionen stammen und vom Verlust ihrer Familienorte betroffen waren. Anderen Stimmen zufolge ging es bei der plötzlichen Umstellung auf Online-Unterricht zudem darum, die Universitäten als Ort der politischen Organisierung zu untergraben.

Gründe für die Rückkehr

Während auch politische Organisationen die Menschen dazu aufrufen, zurückzukehren, um die kulturelle und politische Beschaffenheit der Region Hatay zu verteidigen und diese neu aufzubauen, ziehen viele Überlebende zunächst aus ökonomischen Gründen zurück: Die Mieten in türkischen Großstädten sind in den letzten zwei Jahren massiv angestiegen, Neuanmietungen kann man sich kaum noch leisten. Dies gilt besonders für jemanden, der ohnehin alles verloren hat.

Bei Verwandten unterzukommen ist für viele keine dauerhafte Lösung. Hinzu kommt, dass auch in den wichtigen Großstädten Istanbul und Izmir schwere Erdbeben eine potenzielle Bedrohung darstellen. Für die Menschen aus der Südosttürkei ist dies Grund genug, nicht dorthin zu ziehen. Für rund 400.000 Menschen, die beispielsweise ihre Kinder weiterhin in die Schule schicken, aber nicht zu weit von ihrer Heimat entfernt sein wollten, war die Flucht in die benachbarte Provinz Mersin ein erster Kompromiss. Doch erhöhten Vermieter*innen bereits in den ersten zwei Wochen die Mieten um bis zu 50 Prozent, die Preise für Hauskäufe stiegen sogar um 200 Prozent.

Vielen blieb daher nichts anderes übrig, als in ihre Heimat zurückzukehren und sich dort in Notunterkünften einzurichten. Für andere ist die Rückkehr auch eine freiwillige, um das eigene Grundstück aufzubauen oder auf gesellschaftlicher Ebene den Wiederaufbau der Städte und Kommunen zu unterstützen.

Doch nicht nur die Zivilbevölkerung hat Wiederaufbaupläne. Wie der Journalist Bahadır Özgür auf einer Veranstaltung Ende März in Istanbul verdeutlichte, entwickeln Lokal- und Zentralregierung, sowie die großen Bauunternehmen des Landes schon seit Beginn der 2010er Jahre umfassende Städtebauprojekte, nach denen etwa der historische Kern von Antakya nur noch als Fassade für touristische Zwecke erhalten bliebe. Mit der Zerstörung des gesamten Stadtzentrums werde nun, so befürchten viele, der Boden geebnet für die Verwirklichung dieser Pläne: Ein Antakya aus einem Guss, durch Investor*innen finanzierte Kirchen neben Moscheen und Schreinen – eine ihrer lokalen Bevölkerung und der historischen Beschaffenheit beraubte Stadt. Gerade die ärmere Bevölkerung, wie auch viele geflüchtete Menschen aus Syrien, hatten sich im alten Stadtzentrum niedergelassen. Am Rand der historischen Altstadt, zwischen Kurtuluş Caddesi und Flusspromenade, hatten sie kleine Geschäfte eröffnet und bewohnten die Steinhäuser in den engen Gassen. Die Erdbeben hatten für viele Syrer*innen daher eine doppelte Vertreibung zur Folge.

Wer entscheidet über die Zukunft?

Das Ringen darum, wer über die Zukunft der zerstörten Städte entscheidet, ist also bei Weitem nicht auf die Wahlen Mitte Mai zu beschränken. Es ist ein seit Jahren anhaltender Kampf, der durch die Erdbeben an Dringlichkeit gewonnen hat. In dem Vakuum, das in den ersten Tagen durch fehlende staatliche Hilfsstrukturen entstand, waren die Solidaritätsstrukturen der linken Parteien und der oppositionell besetzten Stadtverwaltungen überlebenswichtig. Ein weiteres Zeichen für die Abwesenheit von Staatlichkeit war die weitgehende Bedeutungslosigkeit von Geld vor Ort in den ersten Wochen. Noch immer läuft alles Grundlegende über Spenden und kollektiv geteilte Ressourcen. Für Mobilität und Wiederaufbau hingegen spielt Geld wieder eine zunehmende Rolle. Hier wittern Kreditinstitute und Finanzberater*innen bereits Möglichkeiten, Profite zu machen, allerorts werden mobile Geldautomaten aufgestellt und kurzfristige Kredite verkauft.

Mittelfristig stellt sich die Frage: Was bedeutet es, wenn linke und revolutionäre Kräfte die staatlichen Aufgaben übernehmen und aus eigener, vergleichsweise geringer Kraft die Infrastruktur neu aufbauen, landesweite Hilfsnetze organisieren, aber auch über die politische Dimension dieser Katastrophe informieren? De facto wurde damit im Kleinen ein Parallelstaat – der Journalist Ali Ergin Demirhan bezeichnete es sogar als »Erdbebenkommunismus« – errichtet, dessen Beständigkeit sich jedoch in Kürze wird beweisen müssen.

Denn der türkische Staat duldet keine politische Macht, die seine Zentralherrschaft in Frage stellt. Die Repressionen gegenüber demokratisch gewählten Stadtverwaltungen in den mehrheitlich kurdischen Provinzen haben dies in der Vergangenheit immer wieder gezeigt. Umso wichtiger ist die beharrliche politische Arbeit und Organisierung vor Ort, die über die reine Bereitstellung von Gütern des alltäglichen Bedarfs für die Bevölkerung hinausgeht. Erste Initiativen vor Ort machen hier Hoffnung.

Johanna Bröse

ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet als freie Journalistin. Sie ist zudem Teil des Redaktionskollektivs kritisch-lesen.de.

Svenja Huck

promoviert an der FU Berlin zu Istanbuler Arbeiter*innengeschichte und arbeitet als freie Journalistin hauptsächlich zur Türkei. Sie lebt in Berlin und Istanbul.

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