Entristische Missverständnisse
Zur Debatte um gewerkschaftliche Organizingprojekte
In ak 677 hat Slave Cubela gewerkschaftliche Organizing-Ansätze kritisiert und dabei vor allem darauf hingewiesen, dass sich diese Projekte nicht bzw. zu wenig kritisch mit der »sozialdemokratischen Grundorientierung« der Gewerkschaften und ihrer Apparate auseinandersetzen. Dagegen betonen Fanny Zeise und Florian Wilde in ihrer Replik in ak 679, dass die Arbeit in den Gewerkschaften notwendig und alle Überlegungen einer Organisierung von lohnabhängig Beschäftigten autonom neben und außerhalb der Gewerkschaften taktisch und strategisch falsch seien. Diese Kritik geht nicht nur am Kern der Argumentation von Slave Cubela vorbei, sondern postuliert darüber hinaus eine Art »Gewerkschaftsentrismus«, der die Eroberung von Positionen im Apparat fetischisiert und die realen Schwierigkeiten und Probleme linker Gewerkschaftsarbeit in den Apparaten negiert.
Wilde und Zeise arbeiten sich dabei zunächst an der Bezeichnung »Sozialdemokratie« für die Beschreibung von Gewerkschaftspolitik ab und verweisen dabei auf die parteipolitische Heterogenität in den Apparaten. Damit haben sie natürlich recht, selbstverständlich sind die Gewerkschaften heute parteipolitisch heterogener als in früheren Zeiten. Aber wenn wir Cubela richtig verstanden haben, hat er das auch nicht bestritten. Für ihn sind »Sozialdemokratie« und »sozialdemokratisch« Chiffren für ein bestimmtes Politikverständnis, das unabhängig von den jeweiligen Parteibüchern ihrer Funktionär*innen den Gewerkschaften als Organisationen zu eigen ist: nämlich ein im Wesentlichen sozialpartnerschaftliches Verständnis einer Politik, in der die Mobilisierung und die selbstständige Aktivität von Beschäftigten als taktisches Moment gesehen wird, auf das zurückgegriffen wird, wenn es in Tarifverhandlungen als Druckmittel notwendig ist, das ansonsten aber die »normalen« Bahnen und Abläufe gewerkschaftlicher Politik eher stört. Man kann sich jetzt trefflich darüber streiten, ob die Bezeichnung »sozialdemokratisch« hier passt oder nicht, aber dass Gewerkschaftsapparate in dieser Logik handeln, und das nicht zufällig, ist aus unserer Sicht unstrittig.
Nicht Ordnungsfaktor und Gegenmacht
Zwar – darin stimmen wir Wilde und Zeise zu – sind Gewerkschaften ein unverzichtbares Kampffeld für Linke. Aber in ihrer Replik hat das ein bisschen was von einer Beschwörungsformel. Slave Cubela fordert ja kein »raus aus den Gewerkschaften«. Nach unserem Kenntnisstand sind z.B. viele Aktivist*innen im Umkreis US-amerikanischer Workers Center, auf die sich Cubela etwa bezieht, sehr wohl Gewerkschaftsmitglieder. Und selbst da, wo sich etwa in den großen Betriebskämpfen im Italien der 1960er und 1970er Jahre Arbeiter*innen explizit autonom und unabhängig von Gewerkschaften organisiert haben, sind sie meistens gleichzeitig Gewerkschaftsmitglieder gewesen.
Allerdings – und das ist viel entscheidender – geht es Wilde und Zeise vor allem um Gewerkschaftsarbeit im Sinne einer linken Politik in den Organisationen und ihren Apparaten. Und da ist es gelinde gesagt fahrlässig, wenn ein solcher Gewerkschaftsentrismus und Marsch durch die Apparate beschworen wird, ohne gleichzeitig zu thematisieren, was das bedeutet und vor welche politischen Schwierigkeiten mensch dabei gestellt wird.
Gewerkschaften sind nicht durch die Dialektik von Ordnungsfaktor und Gegenmacht geprägt, wie es Wilde und Zeise postulieren. Ein solches Gewerkschaftsverständnis führt – aus einer linken Perspektive – in die Irre. Gewerkschaften sind die Organisationen, die die Marktmacht der Ware Arbeitskraft zum Ausdruck bringen und die gleichzeitig dazu beitragen, dass die Verwertungsprozesse dieser Ware funktionieren. Nicht mehr und nicht weniger. Gewerkschaften sind somit immer an die Existenz der Lohnarbeit gebunden. Sie helfen mit, den Arbeitsmarkt zu regulieren, aber nicht, ihn und mit ihm die Lohnarbeit abzuschaffen. Damit sind Gewerkschaften Gegenmacht immer nur in dem Sinne, dass sie im besten Falle sehr vehement und kämpferisch den Preis der Ware Arbeitskraft verteidigen, wobei in der Regel immer wieder einige Segmente der Klasse stärker und andere in deutlich geringerem Ausmaß repräsentiert und verteidigt werden.
Bis in die gewerkschaftliche Tarifpolitik hinein ist Gewerkschaftspolitik immer eine Politik von Ein- und Ausschluss. Eine einigermaßen sinnvolle linke Arbeit in den Gewerkschaftsapparaten muss somit wissen, worauf sie sich einlässt, was von Gewerkschaften erwartet werden kann, was nicht und was es braucht, um im – jetzt ganz bewusst – »sozialdemokratischen« Apparat und seinen Intrigenspielen nicht zerrieben zu werden. Genau diese Faktoren werden von Wilde und Zeise mit keinem Wort thematisiert.
Gewerkschaften sind die Organisationen, die die Marktmacht der Ware Arbeitskraft zum Ausdruck bringen und die gleichzeitig dazu beitragen, dass die Verwertungsprozesse dieser Ware funktionieren.
Linke Gewerkschaftsarbeit ist mehr als die Arbeit in den Gremien, mehr als das Ringen um Formulierungen zu Resolutionen oder mehr oder weniger kämpferische Reden auf Gewerkschaftstagen. Vielmehr sollten Gewerkschaften selbst als Betrieb begriffen werden, in dem alltägliche innerbetriebliche Auseinandersetzungen geführt werden – um Strukturen, um Personal, um politische Schwerpunktsetzungen, um die Orientierungen bei Organisationsentwicklungsprozessen, um Sparmaßnahmen bzw. die Verwendung knapper Mittel, um die eigenen Arbeitsbedingungen etc. etc. Entsprechend braucht es eigene Organisierung, Kontakte und stabile Beziehungen, Hausmächte in Betrieben und in den ehrenamtlichen Strukturen. Denn immer noch basieren innergewerkschaftliche Machtpositionen häufig auf der Verankerung in Betrieben, Betriebsräten und Vertrauensleutekörpern. Und vielfach bekommen Linke in den Apparaten das schmerzhaft zu spüren, wenn Betriebsstrukturen gegen sie in Stellung gebracht werden. Vor allem braucht linke Arbeit in den Gewerkschaften die Klarheit darüber, dass man tatsächlich in den Gewerkschaften in diesem Sinne linke Politik machen möchte.
Eher lästige Selbstermächtigungsprozesse
Unser Eindruck ist, dass genau das vielen ehemaligen Organizer*innen, die als Sekretär*innen in die Apparate gegangen sind, abgeht. Für viele war Organizing der Einstieg aus den unterschiedlichsten autonomen Zusammenhängen in einen befristeten und prekären Job, der aber irgendwo auch cool war und in dem man schon irgendwie auf der richtigen Seite stand. Viele Organizer*innen haben sich da mit Herzblut reingeschmissen und sind anschließend sehr desillusioniert worden, wenn sie dann den mobilisierten Kolleg*innen die beschissenen Tarifabschlüsse verklickern mussten. Dabei haben Organizer*innen letztlich auch davon profitiert, dass die gewerkschaftlichen Apparate seit längerem nicht mehr in der Lage sind, sich aus den Betrieben heraus zu reproduzieren bzw. ihre Kader aus den Betrieben heraus zu rekrutieren. Innergewerkschaftlich schlägt sich das darin nieder, dass die Gewerkschaftsbürokratie in wachsendem Maße nicht mehr aus betrieblichen Zusammenhängen und Erfahrungen kommt. Und das hat Konsequenzen für die Positionierung und das Verständnis der Arbeit im Apparat.
Manche Organizer*innen haben den Sprung vom prekären Organizerjob zur/zum festangestellten Sekretär*in geschafft. Das bedeutete aber keineswegs, dass sie deswegen quasi automatisch in der Gewerkschaft Politik machen. Für manche ist es ein Job, bei dem man immerhin das Gefühl haben kann, sich die Hände nicht zu sehr schmutzig machen zu müssen, denn Gewerkschaften sind ja irgendwie links. Aber Politik wird in der Freizeit oder in innergewerkschaftlichen Nischen gemacht. Und diese im Grunde unpolitische Haltung zum eigenen Arbeitgeber führt auch dazu, dass sich (ehemalige) Organizer*innen dann auch in den innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen vom sozialdemokratischen Mainstream (wieder nicht im parteipolitischen Sinne verstanden) vereinnahmen lassen.
In diesem Sinne kratzen weder real existierende Organizingprojekte noch die allermeisten real existierenden Organizer*innen tatsächlich an den Gewerkschaftsapparaten oder stärken linke Positionen in den Gewerkschaften; oft genug ist das Gegenteil der Fall. Diese Kritik von Slave Cubela am Organizing teilen wir. Man sollte sich nichts vormachen: Organizingprojekte sind von den Gewerkschaften nicht ins Leben gerufen und finanziert worden, um die Selbstermächtigung lohnabhängig Beschäftigter zu fördern, sondern um die Mitgliederzahlen zu steigern. Dass im konkreten Organizing Selbstermächtigungsprozesse in Gang kommen können und auch in Gang gekommen sind, bestreiten wir nicht.
Aber sie sind in der gewerkschaftlichen Logik eher Mittel zum Zweck und auf Dauer sogar lästig. So hat ver.di in der aktuellen Tarifrunde zum Sozial- und Erziehungswesen kurzerhand die Streikdelegiertenkonferenz durch »Tarifbotschafter*innen« ersetzt, damit sich ein »Debakel« wie 20215, als Frank Bsirske von den Streikdelegierten nochmal an den Verhandlungstisch gezwungen wurde, nicht wiederholt. Und im Nachklapp zur TV-L-Runde 2021 ist aus den Betrieben zu vernehmen, dass eine kritische Aufarbeitung der Tarifrunde gerade von den gewerkschaftlichen Organizer*innen abgebügelt wird. (1) Dabei ist die Frage, wie die selbstständige Organisierung von Beschäftigten als eigenes, zentrales Moment betrieblicher Konflikte begriffen werden kann, für eine linke Perspektive in der Tat zentral, und unbestreitbar ist dieses Moment vielfach nicht vorhanden. Aber gewerkschaftliche Organizingprojekte geben darauf keine Antwort. Eine solche selbstständige Organisierung lässt sich nämlich nicht von oben, durch die »richtige gewerkschaftliche Position« oder durch »leader« und »leadership« wie in einem Reagenzglas erzeugen. (2) Dies bleibt Aufgabe von Aktiven und Belegschaften, die betriebliche und gesellschaftliche Probleme kollektiv und selbstorganisiert angehen wollen.
Anmerkungen:
1) Der US-Gewerkschaft SEIU – lange Zeit Protagonistin von gewerkschaftlichem Organizing – wird vorgeworfen, Organizing als Teil von »sweetheart deals« zu instrumentalisieren: Tarifverträge gegen Streikverzicht.
2) Dies ist z.B. auch die Kritik von Kim Moody und anderen an dem Organizing-Ansatz von Jane McAlevey, der hierzulande vor allem durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung gepusht wird.