analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 706 | Diskussion

»Die Enteignungs­initiativen setzen genau da an, wo man ansetzen muss«

Die Politikwissenschaftlerin Sabine Nuss über Vergesellschaftung, die Unterscheidung verschiedener Eigentumsformen und demokratische Planwirtschaft

Interview: Merle Groneweg

Sabine Nuss lehnt an einem Fenster, in dem sie sich spiegelt
Vergesellschaftung findet die ganze Zeit statt, sagt die Autorin Sabine Nuss. Warum sie welche Form annimmt, das ist die interessante Frage. Foto: Kirsten Breustedt

Es war ein Paukenschlag: Im Herbst 2021 stimmten die Berliner*innen mit Mehrheit für die Vergesellschaftung profitorientierter Immobilienkonzerne. Plötzlich war Vergesellschaftung wieder ein großes Thema. Doch was ist darunter genau zu verstehen, welche Formen gibt es, und was meinte Marx damit?

Linke Bewegungen, allen voran Deutsche Wohnen & Co Enteignen (DWE) haben die Forderung nach Vergesellschaftung wieder auf die politische Agenda gesetzt. Aber was bedeutet Vergesellschaftung eigentlich?

Sabine Nuss: Sobald Menschen zusammenkommen und sich arbeitsteilig reproduzieren, findet Vergesellschaftung statt. Im Kapitalismus erfolgt das über Privateigentum, Ausbeutung und Ware-Geld-Tausch. Aber auch jetzt gibt es Formen der Vergesellschaftung, die jenseits dieser Logik funktionieren. Dazu zählt der Care-Bereich, aber auch jene Infrastruktur, die das Kapital nicht zur Verfügung stellen kann oder dies nur dysfunktional tut. Marx bezeichnete das als die allgemeinen Verwertungsbedingungen des Kapitals: Das Kapital braucht Straßen, Telekommunikation, Wasserversorgung etc. Kann das Kapital diese Infrastruktur nicht stellen, weil es noch nicht oder nicht mehr rentabel ist, springt der Staat ein. Neben diesen bestehenden Vergesellschaftungsformen gibt es die Forderung der Arbeiter*innenbewegung, die Produktionsmittel zu vergesellschaften. Und da stellt sich dann die Frage: Wenn Vergesellschaftung immer stattfindet, wenn arbeitsteilig produziert wird – wie sieht dann eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel aus, die den Kapitalismus überwindet?

Bleiben wir mal bei Marx: Was hat er sich denn unter der Vergesellschaftung der Produktionsmittel vorgestellt?

Bei Marx findet man relativ wenig positive Entwürfe einer alternativen Gesellschaft. Er hat ja nicht »Der Kommunismus« geschrieben, sondern »Das Kapital«. Er hat die Theorie der Nationalökonomie, die zu seiner Zeit dominierende Analyse des Kapitalismus kritisiert – und gleichzeitig die aus seiner Perspektive relevanten Charakteristika herausgearbeitet. Damit zeigt er auch auf, welche Charakteristika zu überwinden sind, um den Kapitalismus selbst zu überwinden. In der Quintessenz vergesellschaften sich die Kapitalisten im Kapitalismus als Privatproduzenten, die in Konkurrenz zueinander produzieren. Daraus resultieren Probleme wie der Wachstumszwang, also die toxische Effizienz des Privateigentums: Sie müssen ständig Neues entwickeln und möglichst viel produzieren, unabhängig davon, ob das für Umwelt und Mensch gut ist. Außerdem produzieren die Kapitalisten für einen anonymen Markt, der über Preise funktioniert. Die Kapitalisten brauchen die Preise, um zu wissen, wer was will – also nicht, was die meisten Menschen wollen und brauchen, sondern nur, was die zahlungsfähigen Bedürfnisse wollen, mit denen sie Profite machen können.

Sabine Nuss

ist Politologin, Herausgeberin und Autorin verschiedener Bücher zur Analyse und Ideologie des Privateigentums sowie zur Digitalisierung im Kapitalismus. Zuletzt veröffentlichte sie »Wessen Freiheit, welche Gleichheit? Das Versprechen einer anderen Vergesellschaftung« (Dietz, Berlin 2024. 176 Seiten, 18 EUR). Nuss lebt als freie Autorin, Speakerin und Podcasterin in Berlin. Ihre Arbeiten sind dokumentiert unter: sabinenuss.de. Foto: Kirsten Breustedt

Marx formuliert in der Kritik des Gothaer Programms sinngemäß, dass eben diese Privatproduktion, und damit auch der Ware-Geld-Tausch, zu überwinden ist. Eine Produktion, die sehenden Auges wäre, so sagt es Marx – also die vorherige Abstimmung darüber, wie viel man für wen produziert – das wäre die Überwindung des Privateigentums. Das Resultat wäre eine nachhaltige Effizienz: mit möglichst geringem Arbeitsaufwand und möglichst umweltschonend möglichst viele Bedürfnisse zu befriedigen.

Du hast dich intensiv mit der historischen Gewordenheit von bürgerlichem Privateigentum beschäftigt. Warum ist es so wichtig, dies zu dekonstruieren, um politisch über Vergesellschaftung nachzudenken?

Die Tatsache, dass wir Privateigentum für so natürlich halten, ist eine der wesentlichen Hinderungsgründe für gesellschaftliche Veränderung. Lohn, der Tausch von Ware gegen Geld, überhaupt Geld, und dann noch Privateigentum: Diese sozialen Formen, in denen wir bereits vergesellschaften, empfinden wir quasi als naturnotwendig. Dabei geht es nicht nur um Ideologie, so nach dem Motto »die Gedanken der Herrschenden sind die herrschenden Gedanken«, nein: Es geht um gesellschaftliche Praktiken, in die wir von klein auf sozialisiert werden. Dass einzelne Individuen das Recht haben, andere unabhängig von ihrem Bedürfnis auszuschließen, wird als so normal empfunden, dass andere Formen der Verfügung im wahrsten Sinne undenkbar sind. Dabei ist das ein Kennzeichen des modernen Eigentums; in vorkapitalistischen Zeiten waren Vergesellschaftungsformen dominant, in denen es wiederum undenkbar war, andere auf so eine absolute Art und Weise von etwas ausschließen zu können.

Was man gern vergisst: Das bürgerliche Privateigentum wurde mit Gewalt durchgesetzt.

Die Aneignung dieser Ressourcen – und damit auch die Herausbildung des bürgerlichen Eigentums – ist ein gewaltvoller Prozess, der vor mehreren hundert Jahren mit der »ursprünglichen Akkumulation« begonnen hat, darunter die Enteignung oder Vertreibung von Bäuer*innen von dem Land, das sie ernährt hat.

Ja, was man gern vergisst: Dieses Privateigentum wurde mit Gewalt durchgesetzt. Voraussetzung für Privateigentum – also die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel – ist, dass es Akteure gibt, die diese Verfügungsgewalt haben. Auf einer abstrakten Ebene sind das die Kapitalisten. Der Kapitalist braucht jemanden, der sein Kapital vermehrt und dafür mit seinen Produktionsmitteln arbeitet. Das machen nur Leute, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen müssen, weil sie über keine eigenen Produktionsmittel verfügen. Die soziale Ungleichheit ist nicht erst Ergebnis von Kapitalismus, sie ist die Voraussetzung dafür. So ist im Prozess der Vertreibung der Menschen von ihrem Land die feudale Ungleichheit zwischen persönlich Abhängigen – also Leibeigene und ihren Grundherren – einer neuen sozialen Ungleichheit gewichen: der modernen Ungleichheit zwischen Lohnabhängigen und Privateigentümer an den produktiven Mittel. Gleichzeitig sind die vom Land Vertriebenen auch Rechtssubjekte im entstehenden bürgerlichen Staat geworden; freie und gleiche Marktsubjekte könnte man ebenfalls sagen. Sie waren fortan nicht mehr irgendeinem Grundherr verpflichtet, auf dessen Grundstück zu arbeiten, sondern können nun frei ihre Arbeitskraft verkaufen. Diese Freiheit sowie die rechtliche Gleichheit zwischen den bürgerlichen Individuen ist die Kehrseite der ökonomischen Ungleichheit. Der Staat setzt diese rechtliche Gleichheit zwischen den Individuen, aber auch die Verfügungsgewalt über das Privateigentum mit seinem Gewaltmonopol durch. Privateigentum wird als das Ergebnis von persönlicher Anstrengung verstanden, aber es ist natürlich das Resultat von Gewalt und entsprechender Rechtsetzung.

Im »Manifest der Kommunistischen Partei« heißt es: »Ihr entsetzt euch darüber, dass wir das Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben, es existiert gerade dadurch, dass es für neun Zehntel nicht existiert.« Dabei besitzen alle Menschen irgendetwas, aber Marx und Engels differenzieren zwischen Privateigentum und persönlichen Eigentum. Kannst du das erläutern?

Persönliches Eigentum bezieht sich nur auf die Verfügungsgewalt über Dinge, die ich konsumiere, die ich verbrauche, die sich im Gebrauch verbrauchen. Privateigentum hingegen bezieht sich auf die Verfügungsgewalt über die produktiven Mittel, deshalb wird es auch produktives Eigentum genannt. Es geht um die Produktionsmittel: Alle Ressourcen, die wir brauchen, um uns als Gesellschaft zu reproduzieren. Diese Unterscheidung wird im bürgerlichen Eigentumsrecht nicht gemacht, das unterscheidet nur zwischen: Gehört mir oder gehört mir nicht. Da gibt es dann höchstens Einschränkungen der Verfügungsmacht, beispielsweise darf man keine toxischen Chemikalien in den Fluss werfen… Aber im Grunde genommen wird Eigentum heute nur auf dieser juristischen Ebene wahrgenommen. Doch es macht einen großen Unterschied, ob ich etwas zum Eigentum habe, das ich für meinen Gebrauch konsumiere, oder ob ich exklusiv über Ressourcen verfüge, die wir als Gesellschaft benötigen, um uns zu reproduzieren.

Es ist ein großer Unterschied, ob ich etwas zum Eigentum habe, das ich für meinen Gebrauch konsumiere, oder ob ich exklusiv über Ressourcen verfüge, die die Gesellschaft zur Reproduktion benötigt.

Heute beschäftigen sich wieder viele progressive Akteure mit Vergesellschaftung, was nicht zuletzt DWE zu verdanken ist. Im Frühjahr hat zum zweiten Mal eine von vielen linken Gruppen getragene »Vergesellschaftungskonferenz« (ak 701) stattgefunden; auch in den akademischen Kreisen rund um die »Kritische Theorie in Berlin« beschäftigen sich einige mit entsprechenden Konzepten. Wie blickst du darauf, auch im historischen Vergleich?

Für mich gehört die Vergesellschaftungsbewegung – denn neben DWE gibt es ja auch Initiativen wie »Hamburg Enteignet« und »RWE & Co Enteignen« – zu den derzeit interessantesten politischen Bewegungen. Sie setzen genau da an, wo man ansetzen muss: Bei der Überwindung von Konkurrenz und damit Privateigentum und seinem Zwang zur Profitmaximierung. Damit knüpfen sie an eine Diskussion an, die vor 100 Jahren in der Novemberrevolution präsent war, als Vergesellschaftung die Kernforderung der Arbeiter*innenbewegung war. Damals ging es eher um Schlüsselindustrien wie Kohle und Stahl; heute stehen postindustrielle Sektoren der Daseinsvorsorge, also Care und Wohnen, im Fokus. Möglicherweise ist es leichter, da anzufangen, um Modelle für weitere Vergesellschaftungen in der Industrie zu entwickeln. Die Privatisierungsoffensive hat in den letzten 40 Jahren vieles im reproduktiven Bereich der Marktlogik unterworfen. Hier besteht die Chance, dies wieder in die öffentliche Verfügungsgewalt zurückzuholen und es dabei besser zu machen, als es vorher war. DWE fordert weder die Entstehung neuer Genossenschaften, weil letztere gewissermaßen einen Mitglieder-Egoismus haben, noch die Verstaatlichung. Stattdessen geht es um neue Formen, bei allem Bewusstsein darüber, dass die Vorschläge im Hier und Jetzt auf Grenzen stoßen, denn wir alle sind mit einem kapitalistischen Außen konfrontiert. Deshalb sollten wir Vergesellschaftungen – und auch andere so genannte Einstiegsprojekte – nicht als Zustand begreifen, sondern als permanenten Prozess, sonst reiben wir uns zu sehr im Kapitalistischen auf mit unserer Enttäuschung darüber, dass Projekte nicht klappen, weil sie an Widersprüche stoßen.

Gibt es denn Beispiele, denen dies aus deiner Perspektive gerade gut gelingt?

Eine Vergesellschaftungsform, komplett jenseits von Ware, Geld und Lohn – die muss vielleicht noch gefunden werden. Was ich aktuell total spannend finde: Neben der Debatte um Vergesellschaftungen gibt es auch eine Renaissance der Debatte um demokratische Planwirtschaft. Ich finde es zwar schwierig, an dem Planungsbegriff festzuhalten, freue mich aber darüber, dass diese beiden Debatten, die bisher nebeneinanderstanden, jetzt zusammenkommen, zum Beispiel in Prokla-Ausgabe 215.

Die demokratischen Planwirtschaftsdebatten verlaufen ungefähr so: Stell dir vor, es ist Postkapitalismus, wie produzieren wir dann? Die Vergesellschaftungsdebatte muss sich dagegen überlegen, wie sie im Hier und Jetzt Transformationsschritte gehen kann. Es ist wichtig, diese Debatten zusammenzubringen, gerade weil es so schwierig ist, sich aus dem Blauen heraus vorzustellen, wie wir im Postkapitalismus produzieren. Dafür sind wir zu verhaftet im Hier und Jetzt. Die Vergesellschaftungsdebatte kann hier intervenieren und Transformationsmodelle vorschlagen.

Gut finde ich dabei auch, dass sie sich intensiv mit den Debatten aus den 1920er Jahren beschäftigen. Damals wurde viel über Vergesellschaftung diskutiert, diese aber nie umgesetzt. Mit dem Erstarken des Neoliberalismus versandete sie als Idee quasi vollständig. Jetzt wird ein verloren gegangener Faden wieder aufgegriffen. Die Berliner Enteignungskampagne hatte sich seinerzeit auf die Suche nach einer juristischen Grundlage gemacht, auf der sie ihre Forderung legal durchsetzen kann, und dafür den Artikel 15 gewählt, der die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, Naturschätzen und Grund und Boden ermöglicht. Artikel 15 steht seit 1949 im Grundgesetz, kam bisher aber nie zur Anwendung. Der Historiker Ralf Hoffrogge hat das mal schön formuliert: »Die Initiative Deutsche Wohnen & Co Enteignen hatte einen juristischen Hebel gesucht, sie fand unvollendete Geschichte.«

Merle Groneweg

schreibt über den globalen Kapitalismus. Zu ihren Schwerpunktthemen gehören Rohstoff- und Handelspolitik ebenso wie Konflikte in den China-USA-Beziehungen. Sie arbeitet für kritische Medien und NGOs, darunter PowerShift e.V.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 32 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Du kannst ak mit einem Förderabo untersützen. Probeabo gibt es natürlich auch.