Das Embargo als Notbremse
Warum ukrainische Klimaaktivist*innen die EU zu einem sofortigen Importstopp von fossiler Energie aus Russland aufrufen
Von Nico Graack
Europa habe die Wahl: »Entweder jetzt sofort etwas von seinem Komfort aufgeben oder alles davon in der kommenden Katastrophe«, sagt Anastasiia Onufriv von Fridays for Future Ukraine im Gespräch mit ak. Sie kommt aus der Region Lwiw und musste vor etwa zwei Monaten ihre Heimat verlassen. Nun lebt sie in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Auch Svitlana Romanko kommt aus der Ukraine, aus der Universitätsstadt Ivano-Frankivsk in Westen des Landes. Dort arbeitet sie als Klimaaktivistin und -anwältin und koordiniert maßgeblich die Stand with Ukraine!-Kampagne. Sie sagt: »Fossile Brennstoffe sind zu einer Massenvernichtungswaffe geworden, zu einem Instrument von Unterdrückung, Gewalt und Terror. Und wenn wir uns aus der Abhängigkeit von ihnen jetzt nicht befreien – wann dann?«
Für beide ist klar, was die EU und Deutschland jetzt zu tun haben: ein sofortiges Öl- und Gasembargo gegen Russland verhängen. Das werde drastische Auswirkungen auf die europäische und vor allem die deutsche Wirtschaft haben – wenn auch wohl nicht die katastrophalen, die die Öl-, Gas- und Chemie-Lobby prognostiziert.
Seit Beginn des Krieges Ende Februar hat Russland von der EU etwa 16,7 Milliarden Euro nur für Gas erhalten und mehr als 60 Milliarden für fossile Brennstoffe insgesamt. Die russische (Kriegs-)Wirtschaft basiert zu großen Teilen auf diesen Rohstoffexporten; auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige verarbeitende Industrien – mit Ausnahme der Militärindustrie – gibt es kaum. (Siehe ak 679) Knapp 50 Prozent des Außenhandelsvolumens Russlands fallen auf Öl und Gas; die wichtigsten Exportgüter danach sind Edelsteine und -metalle sowie Roheisen. Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW) zufolge würde ein Gasembargo die russische Wirtschaft am härtesten treffen: Einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von drei Prozent prognostizierte das IfW im Februar bei einem sofortigen Stopp des gesamten Gashandels der westlichen Verbündeten mit Russland. Für Öl sind es 1,2 Prozent. Der Grund dafür: Russland fehlt es an einer Infrastruktur, um das Gas kurz- bis mittelfristig an asiatische Abnehmer zu liefern. Es ist davon auszugehen, dass die mittelfristigen Auswirkungen für die russische Wirtschaft noch wesentlich fataler wären, da ein großer Teil der Wertschöpfung an den Rohstoffexporten hängt.
Unbelegte Panikmache
Demgegenüber liegen die Prognosen für den Einbruch des deutschen BIP bei einem sofortigen Gas- und Ölembargo zwischen 0,5 und 6 Prozent. Allerdings warnen Vertreter*innen der Öl-, Gas- und Chemielobby vor apokalyptischen Szenarien – von der »schwersten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs«, sprach Martin Brudermüller vom Chemiekonzern BASF. Alexander Kriwoluzky vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung nennt das »Panikmache, die nicht belegt werden kann«.
Wie hoch auch immer der Schaden an der europäischen und deutschen Wirtschaft sein mag, Aktivistin und Anwältin Romanko entgegnet dem: »Der Einbruch des ukrainischen BIP für 2022 beträgt etwa 30-50 Prozent. Kann man das überhaupt vergleichen?« Und sie verweist auf Lettland, das sein Gas zu 93 Prozent aus Russland bezog und Anfang April bekannt gegeben hat, kein russisches Gas mehr zu kaufen.
Klar ist: Ein großer Teil der deutschen Wirtschaft, insbesondere die Chemieindustrie, benötigt Gas und Öl. Laut E.ON-Chef Johannes Teyssen werde häufig unterschätzt, dass ganze Industriezweige wie Landwirtschaft, Bau, Ernährung, Automobil oder Elektronik an Wertschöpfungsketten hängen, die auf Gas und Öl basieren. Aber die Frage ist, ob angesichts von Klimakatastrophe und Imperialismus nicht gerade ein Ausstieg aus einem Teil dieser Industrien anstehen muss.
Mit einem sofortigen Embargo wäre die EU gezwungen, einen Weg hin zum gemeinsamen Degrowth zu finden.
In diese Richtung argumentierte Anastasiia Onufriv vor Kurzem eindrücklich bei einer Protestaktion in Halle: »Wenn die Welt den Umschwung zu Erneuerbaren und das Senken von Produktion und Konsum jetzt nicht hinbekommt, dann werdet ihr Europäer euren Komfort ohnehin aufgeben müssen. In nur 20-30 Jahren werdet ihr Kriege ums Überleben führen.« Und die Klimaaktivistin forderte dazu auf, sich einen Alltag vorzustellen, in dem man sich Gedanken über sauberes Trinkwasser und Nahrung machen müsse. Das sei der Alltag von vielen Ukrainer*innen und Millionen von Menschen in aller Welt heute.
Für die beiden ukrainischen Aktivistinnen ist das Embargo eine historische Chance. Es liegt wohl im Wesen der Katastrophe, dass in ihr das Fenster der Möglichkeiten so weit geöffnet ist wie sonst nie. Im Angesicht der Katastrophe kann der notwendige sozial-ökologische Wandel nur eines bedeuten: die Notbremse. Denn ausschließlich erneuerbare Energien ausbauen wird uns nur weiter in die Katastrophe treiben. Es geht nicht nur um Emissionen, sondern auch um Rohstoffabbau, Umweltverschmutzung und soziale Ausbeutung. Die sozial-ökologische Transformation funktioniert nur, wenn auch der Bedarf – vor allem jener der Produktion – gesenkt wird.
Boykott als historische Chance
Die Pläne, die das Wirtschaftsministerium für den Fall einer Unterbrechung der russischen Gaslieferungen vorgelegt hat, sind zwar weitreichend, lassen sich aber weiterdenken. So könnte mit Enteignungen und hohen Steuern für Krisengewinner – Stichwort Übergewinnsteuer – verhindert werden, dass die Kosten eines Embargos nach unten weitergereicht werden, was in der Tat zu den Schreckensszenarien führen würde, die die fossile Lobby an die Wand malt. Das sollte in einer »Allianz der Willigen« europäisch koordiniert werden.
Die Ampel-Regierung geht davon aus, dass die Herausforderungen der Klimakatastrophe »Innovationen fördern« werden. Nehmen wir die Bundesregierung hier ernster als sie sich selbst. Es geht nicht um technologische, sondern um politisch-ökonomische Innovationen. Mit einem sofortigen Embargo wäre die EU gezwungen, Wege zu finden, wie ein gemeinsamer Degrowth organisiert werden könnte.
Doch der Gegenwind aus konservativer Ecke ist scharf. Schon wird FFF-Aktivistin Luisa Neubauer, die sich im Zeichen des Ukrainekriegs für eine Energiewende engagiert, auf Twitter Opportunismus und die »Instrumentalisierung von Leid« vorgeworfen. Svitlana Romanko sagt dazu: »Die einzigen Opportunisten sind diejenigen in der Öl- und Gasindustrie! Die profitiert seit Jahrzehnten von der klimazerstörenden Kollaboration mit Russland.«
Wie diese opportunistischen Vorstöße der Öl- und Gaslobby konkret aussehen, lässt sich etwa an der Debatte um Flüssiggas-Terminals und den Kniefall des Wirtschaftsministers in Katar beobachten. Doch die Gasindustrie zerstört Lebensgrundlagen, verschmutzt das Klima und vertreibt und unterdrückt brutal Menschen, wie die Ende Gelände-Aktion letztes Jahr bereits deutlich gemacht hat. Die indigenen Teile der Bevölkerung leiden darunter am stärksten – ob in Südamerika, Afrika oder auch in Texas und Kanada. »Ihr könnt eure bequemen Leben führen, weil ihr eure Probleme in Entwicklungsländer outsourced«, so Anastasiia Onufriv.
Darüber hinaus müsse auch der Zusammenhang mit dem fossilen Imperialismus gesehen werden: Die Frage, wer über fossile Ressourcen verfügt und wer sich daran bereichern kann, ist für Kriege und die Stabilität von Regimen zentral. »Solange wir von fossilen Brennstoffen abhängig sind, werden wir weiter Regime stützen, die ihre Bürger*innen unterdrücken, tödliche Konflikte starten, Lebensgrundlagen zerstören und die lokale Bevölkerung ausplündern«, meint Svitlana Romanko.
Die einzige Lösung ist das Ende der Abhängigkeit von den Fossilen – und das kann nur ein radikaler Degrowth, eine Notbremse bedeuten. Das Embargo muss dafür der Startschuss sein, sagt Romanko: »Das Öl- und Gas-Embargo, zuerst für Russland, um ihre Kriegskasse zu untergraben, und dann global, könnte ein großer Paradigmenwechsel für das Ende der Abhängigkeit von den Fossilen und für die Freiheit von Diktatoren und Kriegen sein.«