Einmischen in den Klassenkampf! Aber wie?
Die globale Revolte braucht keine Lohngruppen und keinen Tarifvertrag
Von Christian Frings
Auf meinen Versuch einer theoretischen Kritik der mit Gewerkschaften unvermeidlich verbundenen Sozialpartnerschaft (ak 652) haben Nelli Tügel (ak 654) und Gabriel Kuhn (ak 655) geantwortet, sie plädieren für ein Engagement in den etablierten Gewerkschaften. Gleichzeitig entwickelt sich eine Diskussion um die eskalierende globale Welle von Aufständen und die Frage, was sie mit dem Klassenkampf zu tun hat. Mario Neumann warnt vor einem Rückfall in »Klassenkampfnostalgie«, die er nicht ganz zu Unrecht mit der traditionellen »gewerkschaftlichen und betrieblichen Begrenzung« gleichsetzt und der er die revolutionären Dimensionen der Aufstände vom Irak bis Chile entgegenstellt. (ak 654) Worauf Nelli Tügel betont, dass auch die traditionellen Organisationsformen von Partei und Gewerkschaften noch einiges zu bieten hätten, wie z.B. die jüngsten Erfahrungen in den USA zeigen würden. (ak 655)
Die sich heute wieder ganz praktisch aufdrängende globale Dimension des Klassenkampfs, die mit dem Abschied von der Arbeiterklasse nach 1980 in der Linken in den Hintergrund getreten war, ist hilfreich, um einige der von mir angesprochenen Punkte der Gewerkschaftskritik zu verdeutlichen. Denn in den Plädoyers von Tügel und Kuhn für die Arbeit in den Gewerkschaften bleibt ausgeblendet, dass die von mir skizzierte rechtlich-staatliche Einbindung der Gewerkschaften mit einem strukturellen Nationalismus dieser Organisationsform verbunden ist, der sich durch noch so viele internationalistische Appelle nicht überwinden lässt.
Akademisierte Linke
Doch zunächst zu einem Missverständnis, das mir bei Tügel vorzuliegen scheint. Ihr Drängen darauf, uns in betriebliche Konflikte und Streiks einzumischen, klingt so, als hätte ich mit meiner Kritik einer »unter radikalen Linken« verbreiteten »Haltung« – nämlich sich von Arbeiterkämpfen fernzuhalten – eine theoretische Begründung geben wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Das größte Problem der aktuellen Diskussion um eine »neue Klassenpolitik« besteht darin, dass die »Linke« heute sehr viel stärker als in den 1970er-Jahren akademisch geprägt und im Wissenschafts- und Kulturbetrieb tätig ist. Kaum jemand geht noch selbst in die Fabrik, ins Krankenhaus, ins Call-Center oder einen Logistik-Betrieb, um sich an Klassenkämpfen zu beteiligen.
Streiks werden nur aus der Ferne beobachtet, und wenn sich einzelne doch mal an den Streikposten verirren, lassen sie sich ohne eine gewisse Hartnäckigkeit von den dort anzutreffenden Arbeiterinnen abwimmeln und an den Gewerkschaftssekretär bzw. die Gewerkschaftssekretärin verweisen. Ein französischer Industriesoziologe hat es mal schön formuliert: Die sicherste Methode, um nicht zu verstehen, worum es bei einem Streik wirklich geht, sei es, nach den offiziellen Streikzielen zu fragen. Eben die wird dir der Sekretär bzw. die Sekretärin in all ihrer tarifrechtlichen Kompliziertheit erzählen. Die Motive der Beteiligten können völlig andere sein: endlich mal den Bossen zeigen, dass wir auch noch Macht haben; auf neue Weise mit den Kolleginnen in Kontakt kommen; einfach mal die quälende Tretmühle der Arbeit stoppen; Stärke für den unvermeidlichen innerbetrieblichen Konflikt nach dem Streik aufbauen – vielleicht auch die eigene Gewerkschaft mit Aktionen unter Druck setzen.
All das wirst du nie erfahren, wenn aus purer Bequemlichkeit und wegen der kulturellen Distanz, die bis zur Sprachlosigkeit zwischen »bildungsfernen« Arbeiter*innen und akademischer Linker reicht, der Kontakt nur über die Gewerkschaft läuft. Gerade die Veränderung der »Selbst- und Fremdbezüge«, die sich im Streik »herstellen können« (Tügel), würden wir dann mit großer Wahrscheinlichkeit verpassen. Aus diesem Grund plädiere ich für mehr theoretische Klarheit über das widersprüchliche Verhältnis zwischen emanzipatorischen Kämpfen und der gewerkschaftlichen Integration und Repräsentation des Klassenantagonismus.
Begrenzter Klassenkampf
Im Konflikt im Betrieb, in dem wir einen großen Teil unseres Lebens verbringen und ausgebeutet werden, geht es immer um Alles – die gesamten Dimensionen der Unterdrückung, Erniedrigung, der Verletzung unserer Körper und Seelen und des Raubs an unserer Lebenszeit. Der Konflikt um die Ausbeutung findet täglich statt, mal in offener, meistens aber in verdeckten und widersprüchlichen Formen. Mit dem zunehmend kooperativen, arbeitsteiligen und technisierten Charakter der kapitalistischen Produktionsweise wird dieser alltägliche Konflikt jedoch zu einem immer größeren Störfaktor für die Kapitalverwertung. Den grundlegenden Ansatzpunkt für seine Eindämmung bietet die mystifizierende Form des Lohns – durch die Illusion, dass wir unsere Arbeit und nicht lediglich unsere Arbeitskraft verkaufen, verschwindet die Ausbeutung. Die für die Stabilität des Kapitalismus so wichtige Trennung von »Ökonomie« und »Politik«, organisatorisch in der Trennung von Gewerkschaft und Partei fixiert, grenzt den Klassenkampf auf die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, also die Regulierung eines scheinbar reinen Vertragsverhältnisses ein.
Massengewerkschaften wurden ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, in Westeuropa nach der großen unorganisierten Streikwelle von 1889 bis 1991, zu staatlich befestigten Repräsentationsformen, weil das Kapital in den hochentwickelten imperialen Industrienationen auf den alltäglichen Frieden in seinen Produktionszentren angewiesen war. Dass ausgerechnet Gewerkschaften die Orte sein sollen, an denen die Voraussetzungen für Streiks entstehen, wie Tügel schreibt, geht völlig an den historischen Erfahrungen vorbei und widerspricht auch der aktuellen Situation. Im internationalen Vergleich sind die Länder mit dem höchsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad tendenziell auch die mit den niedrigsten Streikraten. Zu Beginn ihrer Entwicklung zu Massenorganisationen in den 1890er-Jahren wurden sie daher auch als »Streikverhinderungsvereine« bezeichnet. Wenn Gabriel Kuhn schreibt, wir müssten uns auf die großen Gewerkschaften wegen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel beziehen, bleibt die Frage offen: Mittel wofür? Für die Entwicklung des radikalen Klassenkampfs – oder für seine Eindämmung?
Der Prozess der Befestigung und Integration der Gewerkschaften, den Soziolog*innen als die »Institutionalisierung des Klassenantagonismus« (Theodor Geiger) bezeichnet haben, war zunächst kompliziert und langwierig. Wie sollte die offene Feindschaft zwischen zwei Klassen, die jederzeit in wilden Streiks und Riots eskalieren konnte, in einer vom Staat sanktionierten Form eingehegt werden? Welche Institutionen wie Arbeitsrecht, Arbeitsgerichtsbarkeit, betriebliche Mitbestimmung oder Gewerbeaufsicht mussten überhaupt erst geschaffen werden, um den Klassenkampf entpolitisieren zu können? Und welcher vielfältigen sozialstaatlichen Institutionen bedurfte es, um die großen existenziellen Fragen der Lohnarbeit wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Kinderschutz und Alter aus dem Klassenkampf durch ihre Verrechtlichung herauszuhalten? Solange alle diese Fragen offen blieben, entwickelten sich die Kämpfe und Organisierungsversuche noch in verschiedene Richtungen.
Anarchosyndikalistische und unionistische Organisationen
Die Zeit der Herausbildung von integrationswilligen Massengewerkschaften war international zugleich die Blütezeit anarchosyndikalistischer und unionistischer, also die strikte Trennung von »ökonomischem« und »politischem« Kampf ablehnender Organisationen in den zwei ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Stärker als auf Tarifverhandlungen setzten sie auf die direkte Aktion im Arbeitsalltag; der in das Räderwerk der kapitalistischen Produktion geworfene Holzschuh (le sabot), die Sabotage der Produktion, wurde zu ihrem Markenzeichen. Als eine der herausragendsten dieser Organisationen gelten die Wobblies, die Industrial Workers of the World (IWW) in den USA, die zwischen 1905 und 1918 einen frischen Wind in die Klassenkämpfe brachten und daher noch heute für viele inspirierend wirken. Aber auch in diesem Fall militanter Klassenkämpfe wird in der Regel das Verhältnis von Organisierung und Basismilitanz falsch verstanden. Als einer der berühmtesten Streiks der Wobblies gilt die zwei Monate dauernde Arbeitsniederlegung von Textilarbeiter*innen in der Industriestadt Lawrence, Massachusetts, die am 11. Januar 1912 begann. Bis zu zwanzigtausend überwiegend weibliche Arbeiterinnen, die aus vierzig verschiedenen Nationen stammten, beteiligten sich an dem Streik, der den Song »Brot und Rosen« berühmt machte. Wie die feministische Historikerin Ardis Cameron in ihrer großartigen Studie »Radicals of the Worst Sort. Laboring Women in Lawrence, Massachusetts, 1860-1912« (1995) aus den Archiven rekonstruiert, war die tragende Kraft dieses Streiks nicht die formale Organisierung, sondern das informelle Netzwerk der Frauen in den proletarischen Quartieren, in denen sie die betrieblichen und ethnischen Spaltungen überwinden konnten. Nur wenige der streikenden Frauen waren Mitglieder der Wobblies. Von außen und im Nachhinein sieht es dann natürlich so aus, als habe die formale Organisation den Streik herbeigeführt und vorangetrieben, weil sie als Sprecher auftrat und schriftliche Dokumente hinterließ – »die im Dunkeln sieht man nicht«.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass syndikalistische Strömungen in Deutschland nur einen marginalen Einfluss hatten. Denn mit den Bismarckschen Reformen wurde hier trotz aller Revolutionsrhetorik schon sehr früh ein sozialstaatlicher Kompromiss zwischen organisierter Arbeiterbewegung und bürgerlichem Staat gefunden. Dieses, vom Standpunkt des Kapitals aus teure, aber äußerst produktive Regulierungsmodell wurde nach dem 1. und vor allem nach dem 2. Weltkrieg in unterschiedlichen Formen von den Industrieländern übernommen und durch Institutionen wie die mit dem Versailler Friedensvertrag geschaffene Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Standard erklärt – selbstredend nur für die imperialen Nationen im kapitalistischen Weltsystem. Trotz aller Verschiebungen im Grad der Tarifbindung oder dem Organisationsgrad der Gewerkschaften, auf die Tügel verweist, ist nach wie vor diese »Institutionalisierung des Klassenantagonismus« durch den nationalen Staat prägend für die Einhegung des Klassenkampfs. Nicht die Gewerkschaften selbst sichern die Einhaltung von Tarifverträgen, sondern nationale Gerichte. Sinkt die Tarifbindung zu stark, dann wird eben ein staatlicher Mindestlohn eingeführt.
Krisenkorporatismus statt Radikalisierung
Auf die Krise von 2007/2008 reagierten die DGB-Gewerkschaften mit einer stärkeren Hinwendung zum Korporatismus, keineswegs mit einer Radikalisierung, wie sich manche erhofften. Dass Gewerkschaften aus Gründen der Mitgliederwerbung auch schon mal mit »innovativen« Formen der Beteiligung oder des »organizing« experimentieren, ist historisch überhaupt nichts Neues und ändert nichts daran, dass sie in ihrer ganzen Existenz auf die Absicherung durch den nationalen Staat und sein nationales Recht angewiesen sind. Einen gewerkschaftlichen Internationalismus kann es daher strukturell nicht geben. Einen wirklichen Bezug der Kämpfe in den Metropolen auf die aktuelle Welle globaler Revolten wird es nur dann geben, wenn sie auch hier aus den verkrusteten Formen der gewerkschaftlichen Befriedung ausbrechen – wie es vielleicht ansatzweise in Frankreich geschehen ist. Ohne die Militanz der Gelbwesten-Bewegung im letzten Jahr, die auch als Reaktion auf das Ausbleiben erfolgreicher gewerkschaftlicher Kämpfe entstanden ist, wäre es kaum zu dem jetzigen Streik gekommen, der das Land immer noch in Atem hält.