Ein Dorf als Kristallisationspunkt
Die Besetzung von Lützerath zur Verhinderung des Braunkohleabbaus könnte ähnlich stark werden wie die im Hambacher Forst
Von Moritz Binzer
Die Tagebaukante von Garzweiler ist bedrohlich nahe an das Dorf Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier herangerückt. Von der dauerhaften Mahnwache am Dorfrand kann beobachtet werden, wie die riesigen Bagger die Erde Meter für Meter abtragen. Von dieser ersten Anlaufstelle ist es nur ein Katzensprung zum neuen Dorfkern, einer großen Campwiese, die inzwischen von zahlreichen Tripods, Baumhäusern und Plattformen auf Stelzen umgeben ist. Klimaaktivist*innen haben das Dorf, das der Energieversorger RWE vollständig abreißen will und das bereits fast vollständig verlassen ist, wiederbelebt. Sie errichten eine Infrastruktur, um sich der drohenden Räumung zu widersetzen. Nach dem Vorbild der französischen Klimabewegung wurde eine ZAD (Zone a Défendre), eine zu verteidigende Zone, ausgerufen.
Der letzte ehemalige Bewohner im Dorf, Eckardt Heukamp, hat lange Widerstand gegen die Enteignung durch den RWE geleistet. Ende März hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster entschieden, dass die Enteignung seines Hofes durch RWE rechtmäßig ist. Heukamp hat daraufhin an RWE verkauft. Zu groß war der Druck und zu gering schätzte er die Chancen ein, seinen Hof noch retten zu können, nachdem alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. RWE hat alle Register gezogen, um ihn mürbe zu machen – letztendlich mit Erfolg. Heukamp hat bis zum 1. September Zeit, Lützerath zu verlassen. Bis dahin ist auch nicht mit einer Räumung des Hüttendorfs zu rechnen.
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP heißt es, dass die Entscheidung über Lützerath durch die Gerichte gefällt werden müsse. Ein äußerst fragwürdiges Vorgehen. Denn dass die Gerichte in Deutschland nicht in der Lage sind, die Tragweite der Klimakrise adäquat zu berücksichtigen, haben sie in der Vergangenheit hinreichend bewiesen – trotz des als wegweisend interpretierten Urteils des Bundesverfassungsgerichts von Ende April des letzten Jahres. Auch im Fall Lützerath hat ein Gericht, eben das OVG in Münster, auf die fehlende gesetzliche Grundlage verwiesen, eine Entscheidung zugunsten des Klimaschutzes treffen zu können. Das OVG hat die Enteignung von Heukamp als rechtmäßig eingestuft. Sollte RWE somit tatsächlich die Auseinandersetzung um Lützerath für sich entscheiden, würde die sich darunter befindende Braunkohle verbrannt werden. Die klimatischen Konsequenzen wären dramatisch und damit auch die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht mehr zu erreichen.
Was macht die Bewegung?
Das Erfolgsrezept der Bewegung im Hambacher Forst, ein Zusammenspiel aus juristischem Vorgehen und Besetzung, flankiert mit zivilem Ungehorsam und direkten Aktionen, scheint diesmal gescheitert. Allerdings dürfte die im Nachhinein unrechtmäßige versuchte Räumung des »Hambi« und das politische Nachbeben einigen Entscheidungsträger*innen in Nordrhein-Westfalen noch tief in den Knochen sitzen. Sogar im Bundestagswahlkampf verfolgte den CDU-Kanzlerkandidaten und ehemaligen NRW-Ministerpräsidenten, Armin Laschet, die illegale Räumung; z.B. als er von Kindern in einer WDR-Sendung damit konfrontiert wurde.
Unabhängig davon, wer am 15. Mai die Landtagswahlen in NRW für sich entscheiden wird, das Interesse der zukünftigen Landesregierung, ähnliche Bilder wie im Hambi zu produzieren, als das größte Polizeiaufgebot in NRW seit Langem zur Räumung anrückte, dürfte gering sein. Es deutet vieles darauf hin, dass die Besetzung in Lützerath eine vergleichbare Stärke wie im Hambacher Forst entwickeln kann. »Lützi« ist aktuell der wichtigste Kristallisationspunkt der Bewegung in Deutschland.
Sollte Lützerath abgebaggert werden, ist Deutschlands Zusage zum Pariser Abkommen Makulatur.
Es ist davon auszugehen, dass die vom Gericht gesetzte Frist bis zur Räumung für einen weiteren Ausbau der Blockade-Infrastruktur genutzt werden wird. In den letzten Wochen war Lützerath außerdem ein Ort des Teilens von Aktionserfahrungen. Viele Menschen lernen dort neue Aktionsformen kennen, eignen sich Kletter-Skills an oder bereiten sich emotional auf potenziell belastende Situationen mit der Polizei vor. Wenn sich in der politischen Großwetterlage also keine Änderungen ergeben, wird das Räumungskommando der Polizei auf entschlossenen Widerstand treffen.
Ein Unterschied zur Besetzung im Hambacher Forst besteht in der lokalen Verankerung. Zwar gab es dort durchaus lokale Unterstützung für die Waldbesetzer*innen, allerdings wurde seitdem viel Zeit und Energie für den Aufbau neuer Bündnisse verwendet. Das Bündnis Alle Dörfer Bleiben, das sich aus Bewohner*innen der bedrohten Dörfer und Unterstützer*innen im Rheinischen Braunkohlereviers zusammensetzt, ist wesentlich größer als die Initiative Buirer für Buir, die im Hambacher Forst viel Unterstützungsarbeit leistete. Dass also inzwischen ein starker lokaler Akteur die Protestbühne betreten hat, dürfte sich auf das Mobilisierungspotenzial auswirken. Einen ersten Vorgeschmack gab es am Sonntag nach der Urteilsverkündung. Zwischen 2.000 und 3.000 Menschen fanden sich für eine Demonstration im bedrohten Dorf ein.
Neben der lokalen Verankerung war in Lützerath von Anfang an eine internationalistische Perspektive wichtig. Klimaaktivist*innen wie Vanessa Nakate, Sprecherin von Fridays for Future Uganda, oder Juan Pablo Gutiérrez, Vertreter der indigenen Yukpa, die gegen den Steinkohleabbau in Kolumbien kämpfen, waren zu Besuch. Eine zapatistische Delegation kam nach Lützerath, und Ende Mai findet ein kurdisches Jugendfestival statt. Dieser Fokus schlägt sich auch in der Öffentlichkeitsarbeit der Bewegung nieder.
Folgen des Krieges in der Ukraine
Derweil fährt die Bundesregierung infolge der russischen Invasion in der Ukraine einen zweigleisigen energiepolitischen Kurs. Einerseits gibt es einen Vorstoß zum beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien. Andererseits stimmt sie die Öffentlichkeit bereits darauf ein, dass die aktuelle Krisensituation in der Ukraine, die Weiterverwendung »lokaler« Energieträger, also auch der Braunkohle, nötig machen wird. Ob sich diese Argumentation verfängt und damit das Mobilisierungspotenzial für Lützerath schwächt, ist schwer zu sagen. Es ist zu hoffen, dass die grundlegend falsche Annahme dieser Politik erkannt wird. Die Eindämmung der Klimakrise ist ein wichtiger Friedensgarant für die Zukunft. Der Klimawandel führt schon heute zu immer stärkeren sozialen Verwerfungen in vielen Teilen der Welt, und dadurch werden Konflikte geschürt. Das Eindämmen der Klimakrise würde kriegerische Auseinandersetzungen in der Zukunft verhindern.
Auch setzt die Regierung bislang vor allem auf den Austausch russischer Energieträger. Die Diskussion über Flüssiggas (kurz LNG), das häufig durch das extrem klimaschädliche Fracking gewonnen wird, und der Besuch von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bei diversen Despoten in der Golfregion, zeigen: Der industriefreundliche und wachstumsfixierte Status quo und damit auch der hohe Energieverbrauch soll um jeden Preis aufrecht erhalten werden. Die kommende Auseinandersetzung um das Dorf Lützerath bietet deshalb erneut die Gelegenheit, für Reibung im geschmierten Getriebe des fossilen Kapitalismus zu sorgen.