Methode oder Meinung?
Die Kritik am Buch »Die Diversität der Ausbeutung« verkennt, was marxistische Analyse leisten will
Von Bafta Sarbo
Auch im Jahr 2023 sorgt ein Buch für Kontroversen, wenn es sich positiv auf den Marxismus als Methode bezieht. So auch unser Sammelband »Die Diversität der Ausbeutung«, in dem die Autor*innen eine materialistische Kritik von Rassismus vorschlagen. Der Einleitung stellten wir als Herausgeberinnen ein Zitat von Lenin voran, was Vincent Bababoutilabo in ak 689 dazu verleiten ließ, uns ein dogmatisches Verständnis von Marx zu unterstellen. Demnach führe der vorgeworfene Dogmatismus zu Leerstellen in der geleisteten Analyse, wie der fehlenden Analyse von Rassismus in der DDR. Die Einwände von Bababoutilabo zeugen von einem grundsätzlichen Missverständnis, was das Buch zur Debatte stellen und eine marxistische Analyse im Feld der Rassismuskritik leisten will.
Der Vorwurf, die marxistische Methode sei veraltet, eurozentrisch oder habe blinde Flecken in den Themenfeldern Rassismus oder Feminismus, ist ein gängiger Einwand der Neuen Linken gegen die marxistische Theorie. So schreibt Klaus Viehmann in seiner Kritik (ak 688) am Vorwort von Christian Frings in unserem Buch, die Theorie der Tripple Oppression sei als Antwort auf eine alte Linke entstanden. Dieser Ansatz, den Viehmann stark macht, ging davon aus, dass Kämpfe von Subjekten, die nicht weiße männliche Arbeiter waren, in der Linken unsichtbar gemacht wurden.
Wer die sogenannte (alte) Linke in diesem Zusammenhang sein soll, bleibt unklar. Bewegungshistorisch lässt sich der Vorwurf gegen die alte Linke, nur Politik für weiße Männer zu machen, mit Verweis auf die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung aushebeln. Frauenbewegung, antirassistische und antikoloniale Bewegungen, aber auch queere Kämpfe haben niemals unabhängig von der gesellschaftlichen Linken stattgefunden, sondern standen immer zu ihr in Beziehung oder sind sogar in der Linken entstanden. Vielleicht ist mit der alten Linken auch die Nachkriegslinke der Student*innenbewegung gemeint. In ihrer durch die K-Gruppen geprägten Endphase führten Frauenbewegung und marxistische Linke zum Teil scharfe Auseinandersetzungen miteinander. Die Debatten der 1980er Jahre, hier vor allem Triple Oppression, lassen sich wohl nur mit einer eigenen Bewegungserfahrung in der autonomen Linken in der BRD dieser Zeit ganz verstehen. Unklar bleibt trotzdem, ob die Vertreter*innen des Triple-Oppression-Ansatzes die Praxis der damaligen Linken kritisieren oder die marxistische Theorie als veraltet denunzieren wollten.
Nicht was sondern wie
Die Grundannahme beider Kritiken von Bababoutilabo und Viehmann, ist, der Marxismus habe Lücken, die empirisch oder theoretisch gefüllt werden müssten. Dabei will marxistische Theorie nicht zwangsläufig bestimmte Erkenntnisse produzieren, vielmehr geht es um eine wissenschaftliche Methode. Das Zitat von Lenin, mit dem wir unser erstes Kapitel einleiten, lautet: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« Der Rest des Zitates, den auch Bababoutilabo in seiner Replik zitiert, geht folgendermaßen weiter: »Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt.«
Bei historischen Texten, die mit einem gewissen Pathos geschrieben sind, lässt sich einfach eine Dogmatik hineininterpretieren, die bei genauerem Blick auf den Inhalt überhaupt nicht drinsteckt. Im Gegenteil, denn das, was dieses Zitat ausdrückt, ist eine relativ präzise Zusammenfassung von dem, was der Anspruch des Marxismus ist. Es geht dabei nicht darum eine religiöse Allmacht zu »beschwören«, sondern einen universalistischen Anspruch zu formulieren, der die Befreiung aller Menschen zum Gegenstand hat. Marxismus als Methode stellt sich einem kulturellen und in letzter Konsequenz rassistischen Essenzialismus entgegen, der davon ausgeht, dass Menschen im Globalen Süden, Frauen oder Migrant*innen eine so fundamental andere Menschlichkeit besitzen, dass Marxismus für sie keine Relevanz habe. Eine Auffassung, die davon ausgeht, dass der Marxismus eben nicht »allmächtig« ist, meint in diesem Zusammenhang, dass er nicht überall angewendet werden kann, weil er nur für die Gesellschaften relevant ist, der Marx selbst seine Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Es geht dabei nicht darum eine religiöse Allmacht zu beschwören, sondern einen universalistischen Anspruch zu formulieren, der die Befreiung aller Menschen zum Gegenstand hat.
Das Hauptwerk von Marx »Das Kapital« trägt den Untertitel »Kritik der politischen Ökonomie«. In seinem Buch wollte Marx nicht nur den Kapitalismus als Produktionsweise und Gesellschaftsform beschreiben, sondern erklären, wie dieser durch die klassischen politischen Ökonomen verzerrt und deshalb falsch verstanden werden konnte. Die Ursache lag vor allem in der Frage, die diese Ökonomen sich nicht gestellt hatten. Marx beschäftigte die Frage, wieso ein bestimmter Inhalt eine bestimmte Form annimmt. Die klassische politische Ökonomie stellt sich diese Frage nicht und begreift dadurch das Auseinanderfallen von Inhalt und Form, Gebrauchswert und Tauschwert, Arbeit und Lohnarbeit nicht. So versteht die bürgerliche Ökonomie nicht, dass der Mehrwert von den Arbeiter*innen produziert wird, also der Reichtum der Kapitalist*innen durch das Produkt der ausgebeuteten Mehrarbeit der Arbeiter*innenklasse entsteht. Nichts anderes beschäftigt uns in unserem Sammelband. Dort haben wir uns als Herausgeberinnen gefragt, wie es möglich ist, dass Rassismus durch die Ausbeutung von Arbeit entsteht, aber eben auch darüber hinausgeht und wie er sich im Wechselspiel von Kapital und Arbeit historisch durchsetzt und ausgestaltet.
Keine Lücken
Eine Kritik an unserem Sammelband war das Fehlen antirassistischer Kämpfe. Uns ging es aber nicht um eine Dokumentation dieser Kämpfe, wir wollten verstehen, wie sich dadurch Rassismus verändert hat. Neorassismus etwa wird auch als Antwort auf den alten Antirassismus beschrieben, der die Existenz von »Rassen« widerlegt hat. Jetzt ist es die Kultur, nicht mehr die »Rasse«, das ändert trotzdem nichts an den regelmäßigen Konjunkturen rassistischer Diskurse und rassistischer Gewalt und der andauernden staatlichen Gewalt. Dass die antirassistischen Bewegungen der Vergangenheit den Rassismus zwar vor sich hertrieben, aber nie abschaffen konnten, müsste Aufschluss darüber geben, wie integrationsfähig der Kapitalismus als Gesellschaftsform ist, solange der Widerspruch von Kapital und Arbeit nicht angetastet wird.
Wir bestreiten auch nicht, dass es eine deutsche Kolonialgeschichte in Osteuropa gibt. (1) Für den gegenwärtigen Rassismus war es uns wichtiger, auf den anhaltenden Imperialismus Deutschlands in Osteuropa zu verweisen. In einem eigenen Artikel von Celia Bouali ging es um EU-Entsenderichtlinien, mit denen billige Arbeitskräfte nach Deutschland geholt werden. Der materialistische Zugang birgt die Möglichkeit, diese geschichtliche Kontinuität der Überausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte sowie den daraus resultierenden Rassismus in Deutschland als solchen zu verstehen – auch in Abgrenzung zu den von uns kritisierten US-Ansätzen, die in Deutschland einen solchen Rassismus leugnen, da es sich um weiße Europäer*innen handeln würde. Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis mit einer sich stets verändernden Dynamik zu verstehen, bedeutet deshalb nicht, einfach eine historische Kontinuität aufzuzeigen, sondern zu fragen, wieso eine Gesellschaft, die Osteuropa nicht mehr aktiv kolonisiert hat und die sich als postfaschistisch versteht, nach wie vor diesen Rassismus selbst immer wieder hervorbringt. Im Kontext der Diskussionen um postkoloniales Gedenken, wäre eine weniger historisch geprägte Perspektive zielführender. (ak 689)
Es kann kein inhaltlicher Anspruch an ein Buch sein, alles abzudecken. Die vermeintlichen Lücken sind deshalb keine. Der gemachte Vorwurf ist vielmehr ein Missverständnis über den Anspruch einer systematischen Wissenschaft. Wir wollten mit dem Buch eine Methode zugänglich machen, die Rassismus erklären kann.
Anmerkung:
1) Die wurde in der von Bababoutilabo explizit erwähnten Buchvorstellung in Berlin übrigens auch angeführt als Beispiel für Mängel des deutschen Diskurses um Postkolonialismus.