Geht’s auch etwas weniger platt?
In der Kritik an antirassistischer Identitätspolitik hat sich ein neuer Vulgär-Materialismus breit gemacht
Von Artur Bakaev
Black Lives Matter, Migrantifa, Proteste gegen das rassistische EU-Grenzregime oder gegen die neoliberale Gesundheitspolitik: Materialistische Kritiken und Gesellschaftsanalysen haben erfreulicherweise wieder Aufwind. Allerdings hat sich in manchen dieser Analysen ein dogmatisches, reduktionistisches Materialismusverständnis breit gemacht, das eine unnötige Spaltung linker Bewegungen zur Folge hat: Es geht um jene Version, die einen Clash zwischen Materialismus – für manche gleichbedeutend mit Marxismus – und Identitätspolitik behauptet. (1)
Meiner Meinung nach ist diese Behauptung falsch. Stattdessen könnten sich Ansätze aus Materialismus und Identitätspolitik sinnvoll ergänzen. Die neuen Zerwürfnisse in der linken Bewegung entlang der Linie »Materialismus vs. Identitätspolitik« haben ihren Grund eher in einem unreflektierten Materialismus-Hype und dem Ego-Boost, den er seinen Anhänger*innen beschert, als in tiefen inhaltlichen Widersprüchen.
Manch eine*r mag es kennen: Antirassistische Proteste kriegen immer wieder die Schelte ab, sie würden die eigentliche Ursache des Rassismus verkennen. Das Herumreiten auf der Identitätskategorie »Race« übersehe den eigentlich ökonomischen Konflikt, welcher der Gesellschaft zugrunde liege. Das Phänomen Rassismus wird in diesem Verständnis auf einen Effekt des Kapitalismus reduziert, nach dem Motto: »Rassismus dient dazu, die an sich geeinten Proletarier*innen zu spalten, um sie in Konkurrenz zueinander zu setzen und dadurch besser ausbeuten zu können«.
Rassismus und Kapitalismus: die Frage nach Henne und Ei
Diese Teile-und-herrsche-Ebene ist tatsächlich extrem wirkmächtig im rassistischen Kapitalismus. Aber es ist politisch und philosophisch nicht sinnvoll, Rassismus darauf zu reduzieren und ihn ausschließlich als die ideologische Widerspiegelung eines ökonomischen Verhältnisses zu betrachten. So was ist in meinen Augen eine ausgesprochen unreflektierte Lesart des Materialismus.
Denn: Unter all den Merkmalen, die »das Kapital« aussuchen könnte, um die Masse an Proletarier*innen zu spalten, gibt es keinen materiellen Grund, der ausgerechnet »Race« dabei bevorzugt (bzw. zur Rassifizierung einlädt).
Kapitalistische Ausbeutung profitiert davon, dass Menschen unterteilt werden; dadurch allein kann man aber nicht erklären, warum und nach welchen Kriterien das geschieht. Warum nicht rechtshändige gegen linkshändige, Kaffee trinkende gegen Tee trinkende, große gegen kleine Menschen aufbringen? »Dem Kapital« kann’s ja egal sein – solange einfach irgendwer gegeneinander ausgespielt wird.
Rassismus wird von manchen Materialist*innen auf einen Effekt des Kapitalismus reduziert. Für sie dient er vor allem dazu, die Proletarier*innen zu spalten.
Offenbar kommen da Geschichte, Ideologie, psychologische Prozesse sowie ökonomische Verhältnisse Hand in Hand daher. So zu tun, als würden die materiellen – bzw. ökonomischen – Bedingungen den Gesamtprozess dominieren, tritt in meinen Augen eine ganz unnötige Diskussion von der Art »Henne oder Ei – was war zuerst?« los. Bei der man zudem jederzeit einwenden könnte, dass Rassismus, Sexismus, Ableismus historisch nicht erst mit dem Kapitalismus entstanden sind. Folglich gibt es wenig Grund anzunehmen, diese würden automatisch mit dessen Abschaffung verschwinden.
Es ist zunächst natürlich plausibel anzunehmen, dass die Art und Weise, wie ich lebe, Einfluss darauf hat, wie ich denke. Das heißt: Wie eine Gesellschaft ihre Produktion von Gütern und Dienstleistungen organisiert, hat Einfluss darauf, welche Einstellungen und Ideologien sich in jener Gesellschaft entwickeln.
Es ist aber nicht plausibel anzunehmen, dass dieser Prozess einseitig und streng deterministisch abläuft. Dass, um es in der Sprache der Materialist*innen zu sagen, die »materiellen Produktionsbedingungen« und »ideologischen Überzeugungen« sich nicht gegenseitig beeinflussen würden, dass dies eine statische Beziehung wäre, die immer gleich ist.
Bei diesem Thema täten Materialist*innen gut daran, sauberer zwischen »materiellen Bedingungen« und »materiellen Interessen« zu differenzieren. Letztere sind nämlich auch durch Ideen, Werte, verinnerlichte Ideologen etc. beeinflusst – und damit Teil des Bewusstseins von Akteur*innen.
Die Debatte, ob ideologische oder materielle Interessen dominieren, ist also weder gewinnbringend noch erkenntnisfördernd. Ein sinnvoller Materialismus behandelt dagegen die Frage nach dem Zusammenhang von materiellen Bedingungen und ideologischen Konzepten, etwa die Frage, inwieweit die Entstehung von Industriekapitalismus und Nationalismus zusammenhängen, wie Rassismus, Kolonialismus, Patriarchat den entstehenden Kapitalismus geprägt haben und wie sie sich im aktuellen Kapitalismus verändern.
So weit geht die vorherrschende »materialistische« Argumentation aber meist gar nicht. Die Behauptung eines Clashs zwischen Materialismus und Identitätspolitik bleibt vielmehr auf dem weiter oben beschriebenen Level. Tatsächlich widersprechen beide Ansätze einander nicht zwangsläufig, sie beantworten schlicht unterschiedliche Fragen: »Welchen Einfluss haben materielle Faktoren auf ideelle und gesellschaftliche Entwicklungen?« einerseits und »Was sind ideologische Strukturen von Unterdrückung und Befreiung?« andererseits. Diese Fragen könnten einander eigentlich sinnvoll ergänzen. Viele Prozesse wie Othering, Tokenism, strategische Aneignung (2), welche die oft geschmähten postmodernen Linken analysieren, können aus allein materialistischer Perspektive nämlich nicht hinreichend erfasst werden.
Nachdem also Rassismus auf seine eigentlich kapitalistische Wurzel runtergestutzt wurde, halten manche Materialist*innen den Antirassist*innen vor, deren Proteste und Forderungen, etwa nach Quoten in gesellschaftlichen Institutionen, würden den Kapitalismus letztlich bloß diverser gestalten – und nicht abschaffen. Das aber laufe dem »objektiven Interesse« des Proletariats an der Abschaffung des Kapitalismus zuwider. Ja, Mensch!, möchte man da sagen: Welche von den materialistisch-kommunistischen Maßnahmen hat noch mal den Kapitalismus in der Zwischenzeit abgeschafft?!
»Objektives Interesse« und Klassenbewusstsein
Was hat es mit dem pseudowissenschaftlich klingenden »objektiv« in diesem Zusammenhang auf sich? Versteht mensch »objektiv« mal im Sinne von »nicht ideologisch voreingenommen / von außen feststellbar / der Sache immanent…«: Wenn es ein solch »objektives« Interesse des Proletariats gäbe – warum zur Hölle gibt es den Kapitalismus noch?
Mir scheint das eine ziemlich platte, nicht belegte These zu sein: dass Ausgebeutete ein »objektives Interesse« daran hätten, Ausbeutungsverhältnisse insgesamt abzuschaffen. Welchen kausalen Grund sollte es dafür geben? Hier ist das Postulat verbuddelt: Menschen wollen Probleme eigentlich immer nachhaltig und an ihrer Wurzel lösen (oder müssten es zumindest wollen). Das hat leider nichts mit der Realität zu tun.
Wenn es ein »objektives« Interesse des Proletariats gäbe – warum zur Hölle gibt es den Kapitalismus noch?
Meiner eigenen proletarischen Erfahrung nach besteht der Abfuck kapitalistischer Ausbeutung maßgeblich in schlechten Arbeitsbedingungen, schlechter Bezahlung und darin, der Willkür irgendeines Chefs ausgesetzt zu sein. Wenn ich für einen Job im Kapitalismus aber extrem viel Money mit guten Arbeitsbedingungen kriegen würde, ich aber immer noch ausgebeutet würde (also der Mehrwert meiner Arbeit ans Kapital fließt usw.) – mir scheint, »objektiv« gesehen würde es selbst auf materialistischer Basis dann heißen: »Okay, ich bin zwar ein Knecht, aber mit premium Job und dick Money – ist doch nice! Ich mach materiell gesehen: plus!«
In dem Zusammenhang wird meist ein weiterer Klassiker des Marxismus beschworen: das Klassenbewusstsein! Revolutionäre Bildung, Agitation, Organisierung und avantgardistische Intellektuelle sind dann die Mittel, um dieses Klassenbewusstsein zu erzeugen und eine revolutionäre Umwälzung herbeizuführen. Reflexhaft entgegnen diese Marxist*innen auf die Frage, warum denn das mächtige Proletariat nicht mit dem Hammer der Revolution ihr »objektives Interesse« zur Verwirklichung bringt: »Naja, sie müssten es bloß wissen! Ihr gemeinsames Interesse erkennen!« Ah ja. Die Checker-Marxists müssen den armen dummen Prolls nur die Heilsgeschichte offenbaren. An Überheblichkeit ist das kaum zu überbieten.
Es ist in meinen Augen eine große Schwachstelle, wenn Materialist*innen dogmatisch versuchen, das Postulat »einzig ökonomische Verhältnisse formen menschliches Denken und Handeln« in die Realität hinein zu projizieren. Diese Verkürzung legt den Fehlschluss nahe, es würde reichen, die systematische (ökonomische) Ausbeutung abzuschaffen, so dass sich alle materiell gesehen auf Augenhöhe begegnen. Dass andere Dimensionen von Unterdrückung – Rassismus, Sexismus etc. – auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften, in veränderter Form, fortbestehen könnten, verdrängen diese Materialist*innen. Auch mit Hilfe von Ideologien andere Menschen abzuwerten, ist möglich, selbst wenn ökonomische Ausbeutung abgeschafft wäre.
Für eine materialistische Identitätspolitik
Rassismus, Sexismus, Kapitalismus – all diese Formen der Unterdrückung etablieren einen Zustand, von dem global gesehen nur eine Minderheit profitiert. Die Theorien, die sich dagegen wenden, untersuchen entsprechend: Wie kommt es dazu, dass Menschen sich in eine Hierarchie zwängen (lassen), von der die allermeisten nicht wirklich profitieren? Wie oben angedeutet, scheint es so zu sein, dass es sehr vielen Menschen reicht, einfach nicht ganz unten auf der Leiter zu stehen. Dogmatisch ausgelegter Materialismus erschwert es ungemein, diesen Sachverhalt überhaupt klar zu sehen.
Sinnvoll zusammengeführter Materialismus und Identitätspolitik sollte genau da ansetzen: Welche ideologischen und materiellen Prozesse blockieren eigentlich eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen? Und welche Wechselwirkungen bestehen zwischen materiellen und ideellen Interessen und zwischen beiden und den »ökonomischen Bedingungen«? Wie erzeugen Kapitalismus, Rassismus, Sexismus in ihrem Zusammenspiel eine Ordnung, in der es manchen etwas besser geht – ideell oder materiell –, weil es anderen noch schlechter geht?
Klar ist ganz viel identitätspolitische Praxis heutzutage fragwürdig – so wie alle sozialen Bewegungen läuft sie Gefahr, neoliberal vereinnahmt zu werden. Ich bezweifle, dass es einen einfachen Test geben wird, um einzelne identitätspolitische Forderungen auf ihre Revolutionstauglichkeit zu prüfen – denn genau das wär ja Quatsch: Einzelne Tropfen werden kein System ändern. Daher sollte identitätspolitische Praxis immer in einem materialistischen Gesamtpaket eingebettet sein. Und Materialist*innen sollten sich fragen, was sie von identitätspolitischen Ansätzen lernen können.
Anmerkungen:
1) Exemplarisch ist diese Position zum Beispiel im Artikel »Für einen proletarischen revolutionären Antirassismus« von Peter Schaber im Lower Class Magazine formuliert.
2) Othering beschreibt den Prozess, durch den eine Gruppe von Menschen mittels rassistischer Zuschreibungen, Diskurse etc. zu »Anderen« gemacht wird, denen die Norm der Mehrheitsgesellschaft gegenübersteht. Tokenism nennt man die alibimäßige Besetzung einer Funktion oder eines Amtes mit einer Person aus einer rassistisch abgewerteten Gruppe, ohne etwas an den Strukturen zu ändern. Unter strategischer Aneignung versteht man die Übernahme abwertender Begriffe durch die abgewertete Gruppe zur Selbstbezeichnung.